L 6 SB 84/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 29 SB 97/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SB 84/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. Juni 1998 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - sog. "erhebliche Gehbehinderung" - " (im folgenden: Nachteilsausgleich "G"), beim Kläger wieder vorliegen.

Der im April 1936 geborene Kläger ist seit 1978 als Schwerbehinderter anerkannt. Nachdem früher ein GdB von 60 sowie der Nach teilsausgleich "G" anerkannt waren (Bescheide vom 09. Oktober 1978, 28. Juli 1981 und 07. März 1985), wurde mit dem letzten bindenden Bescheiden nur noch ein GdB von 50 wegen der Behinderung

1. Funktionseinschränkung der Beine bei Hüft-, Knie- u. Sprungelenksverschleiß, Fußverformung nach wiederholtem Unterschenkelbruch,

2. Verschleiß der Wirbelsäule mit Nervenreizung und Bewegungseinschränkung bei Kalksalzmangel,

3. Depressive Verstimmung mit somatischen Störungen,

4. Nasennebenhöhlenentzündung,

5. Funktionsstörung der Schultergelenke

festgestellt und die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "G" verneint (Bescheide vom 30. Juli 1990 und 26. Juli 1995).

Im September 1996 beantragte der Kläger erneut, eine "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" festzustellen. Nach Auswertung eines Berichtes des behandelnden praktischen Arztes Dr. v ... H ... lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil die Voraussetzungen für die Inanaspruchnahme von "G" weiter nicht vorlägen (Bescheid vom 09. Januar 1997; Widerspruchsbescheid vom 04. Februar 1997).

Mit seiner Klage vom 13. Februar 1997 hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und behauptet, aufgrund seiner Behinderungen Weg strecken von mehr als 500 Meter nicht zu Fuß zurücklegen zu können. Bereits nach wenigen Metern sei er gezwungen, eine Pause einzulegen.

Er hat beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 09. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 1997 zu verurteilen, bei ihm ab September 1996 den Nachteilsausgleich "erhebliche Gehbehinderung" festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat gemeint, eine Vergleichbarkeit zu denjenigen Funktionsstörungen, bei denen der Nachteilsausgleich "G" festgestellt werden könne, sei beim Kläger nicht gegeben.

Aufgrund der Beurteilung des Sachverständigen Dr. H ..., Arzt für Orthopädie aus N ..., der Kläger sei aufgrund der zunehmenden arthrotischen Veränderungen mit glaubhafter Belastungsinstabilität in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr so erheblich beeinträchtigt, dass er Wegstrecken im Ortsverkehr bis zu 2 km Länge nicht mehr innerhalb von 30 Minuten zu Fuß zurücklegen könne, da er nach 300 bis 400 Metern glaubhaft unzumutbare Schmerzen aufträten, hat das SG den Beklagten antragsgemäß verurteilt (Urteil vom 19. Juni 1998, dem Beklagten am 15. Juli 1998 zugestellt).

Mit seiner noch im Juli 1998 eingegangenen Berufung hat der Beklagte gemeint, die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G könnten beim Kläger nicht festgestellt werden. Zwar werde nicht bestritten, dass auch eine schmerzbedingte Einschränkung des Gehvermögens ebenfalls zur Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" führen könne. Eine solche könne aber allein aufgrund des Gutachtens von Dr. H ... nicht im erforderlichen Umfang festgestellt werden, so dass eine entsprechende weitere Beweisaufnahme angeregt werde. Nach den Befunden sei ein GdB von 50 für die unteren Extremitäten einschließlich der Wirbelsäule nicht zu rechtfertigen. Im übrigen sei ein Teil des unbeholfenen Gangbildes im Zweifel auf das erhebliche Übergewicht zurückzuführen (versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. R ..., M ..., vom 11. Januar 1999).

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.06.1998 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der Darstellung der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere wegen vom Senat eingeholten ergänzen den Stellungnahmen des Sachverständigen Dr. H ... vom 26. Oktober und 04. Dezember 1998 sowie 06. Februar 1999 wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (Gz.: 61-07148-8), der Akten der LVA Rheinprovinz sowie der Vorprozeßakten des SG Düsseldorf Az.: S 29 V 343/91; S 8 J 63/90; S 5 J 92/73 und S 5 J 148/82) Bezug genommen; sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das SG hat zu Recht entschieden, dass der Kläger durch die Be scheide vom 09. Januar und 14. Februar 1997 beschwert ist, weil diese rechtswidrig sind, § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Denn der Kläger hat wieder einen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" und Eintragung des Merkzeichens G in seinen Schwerbehindertenausweis, §§ 4 Abs. 4, 60 Abs. 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG), 3 Abs. 2 Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz (SchwbAwV). Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme steht nämlich zur Überzeugung des Senates fest, dass der Kläger wegen seiner die Fortbewegungsfähigkeit dauerhaft einschränkenden Funktionsstörungen in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, § 60 Abs. 1 Satz 1 SchwbG.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob im Vergleich zum Juli 1990 eine wesentliche Änderung im Sinne der Verschlimmerung eingetreten ist, weil es sich bei der damals erfolgten Entziehung des Nachteilsausgleichs "G" nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch handelt (vgl. Urteil des Senats vom 31. Mai 1994 - Az.: L 6 VS 111/93 - Seite 11 f mit weiteren Nachweisen). In diesem Zusammenhang ist es daher ohne Bedeutung, dass Dr. J ... in seinem im Vorprozeß erstatteten Gut achten vom 25. Januar 1995 bereits gemeint hat, der Kläger benötige bei mangelnder Übung und deutlicher muskulärer Insuffizienz für eine 2 km lange Gehstrecke zunächst mehrere Pausen, werde aber im Sinne des Trainingseffektes auch diese Gehstrecken bald problemlos bewältigen können, was zumindest denkbar erscheinen läßt, dass bereits damals eine erhebliche Gehbehinderung vorlag. Jedenfalls hat neben dem Gutachten von Dr. H ... insbesondere das für die LVA Rheinprovinz erstellte Gutachten von Dr. H ... aus K ... vom 20.01.1997 dokumentiert, dass entgegen den Erwartungen von Dr. J ... zwischenzeitlich eine noch weitergehende Beeinträchtigung der Gehfähigkeit vorliegt.

Erheblich gehbehindert ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens ... nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten ... Weg strecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Dies ist der Fall, wenn eine Wegstrecke von 2000 Metern nicht mehr in etwa 30 Minuten zurückgelegt werden kann (BSGE 62, 273, 277 = SozR 3870 § 60 Nr. 2), was sich nunmehr auch aus den für die Beurteilung maßgeblichen Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (im folgen den: AP) Ziffer 30 (2) 2. Abs. (S. 165) ergibt.

Die AP beschreiben in Ziffer 30 Absätze 3 bis 6 (S. 166 f.) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind und die bei dort nicht ausdrücklich erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG SozR - 3870 § 60 Nr. 2; zuletzt BSG, Urteil vom 27. August 1998 - Az.: B 9 SB 13/97 R - S. 59). Bei dort nicht ausdrücklich erwähnten Behinderungen ist eine erhebliche Gehbehinderung dann anzunehmen, wenn die festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten die Gehfähigkeit derart allgemein beeinträchtigt wie in den AP 96 beispielhaft genannten Fällen (BSG a.a.O.). Dies ist beim Kläger der Fall.

Soweit der Sachverständige Dr. H ... aus den von ihm erhobenen Befunden, insbesondere den dauerhaften körperlichen Regelwidrigkeiten im Bereich der unteren Extremitäten einschließlich der Lendenwirbelsäule, gefolgert hat, dass der Kläger wegen der Schmerzen aufgrund arthrotischer Veränderungen und glaubhafter Belastungsinstabilität eine Wegstrecke von 2000 Metern nicht mehr innerhalb von 30 Minuten zu Fuß zurücklegen könne, hat der Senat keine Be denken, sich dieser Einschätzung anzuschließen, durch die die vom Kläger und seinem Hausarzt Dr. v ... H ... geschilderte Limitierung der zu Fuß zurückzulegenden Wegstrecke bestätigt wird. Wegen der Begründung nimmt der Senat insoweit auf die zutreffenden, überzeugenden Gründe des angefochtenen Urteils Bezug, die er sich zu eigen macht, § 153 Abs. 2 SGG.

Diese konkret individuelle Einschätzung des Sachverständigen steht auch mit den angesprochenen Vermutungstatbeständen in Ziffer 30 der AP 96 in Einklang. Danach können u. a. die Voraussetzungen für die Annahme einer "erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben seien, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken. Dies ist hier der Fall, weil beim Kläger im Bereich der unteren Glied maßen - einschließlich der Lendenwirbelsäule - sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkende Behinderungen vorliegen, die bei isolierter Betrachtung mit einem - hypothetischen - GdB von 40 zu bewerten wären. Wenn ein solcher GdB auch nicht - wie der Sachverständige offenbar meint - automatisch zu Annahme einer erheblichen Gehbehinderung führt, so ist doch sein Urteil zur Vergleichbarkeit mit den in Ziffer 30 (3) AP genannten Fallgruppen, wo am Ende ebenfalls Behinderungen mit Einzel-GdB-Werten von 40 genannt sind, nachvollziehbar. Die konkrete Auswirkung auf die Funktion "Gehen" setzt er mit denjenigen bei ausgeprägten Knorpelschäden der Kniegelenke beider Beine mit Bewegungseinschränkung (Ziffer 26.18 S. 152 AP 96) gleich, wofür ebenfalls ein GdB von 40 sachgerecht sei.

Der Senat sieht - anders als der Beklagte - keine Veranlassung, an der Richtigkeit dieser vergleichenden Bewertung zu zweifeln. Unstreitig liegt - wie auch dieser einräumt - eine schmerzbedingte Limitierung der zumutbaren Wegstrecke, die insbesondere auf die nachvollziehbare schmerzhafte Belastungsinstabilität an den unteren Sprunggelenken zurückzuführen ist, vor. Wenn der Beklagte - und zunächst auch Dr. H ... - hier für das Funktionssystem Beine einen GdB von 30 annehmen, erscheint bereits dieser Wert etwas knapp bemessen. So hatte Dr. J ... im Vorprozeß im Juli 1993 allein für die progredienten Auswirkungen der posttraumatischen Arthrose des rechten Sprunggelenkes bereits einen GdB von 30 für zutreffend gehalten. Auch deutet der von Dr. H ... in seiner Stellungnahme vom 06. Februar 1990 vorgenommene Vergleich mit ausgeprägten Knorpelschäden der Kniegelenke mit Bewegungseinschränkungen eher darauf hin, dass hier bereits der Vergleichswert von 40 zutreffend ist. Jedenfalls ergibt sich ein solcher Vergleichswert dann, wenn man die zusätzlichen, von der Lendenwirbelsäule ausgehenden Beeinträchtigungen (Bewegungseinschränkung; ausgeprägte Haltungsinsuffizienz bei muskulärem Defizit) mitberücksichtigt. Denn diese wirken sich nach den Ausführungen des Sachverständigen ungünstig auf die Belastungsstabilität der unteren Extremitäten und damit auf die Gehfähigkeit aus und stehen, wie neben Dr. H ... vor allem der behandelnde Orthopäde Dr. L ... und Dr. H ... aber auch Dr. O ... in ihrer Stellungnahme vom 30.12.1998 bestätigen, ganz im Vordergrund der Wirbelsäulenbeschwerden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.

Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG. Insbesondere ist die Rechtssache nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil für die Entscheidung die besonderen Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind.
Rechtskraft
Aus
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