L 6 VG 31/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 29 VG 19/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VG 31/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 VG 5/02 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.06.2001 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die 1951 geborene Klägerin streitet um die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz -OEG-) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz -BVG-) im Überprüfungsverfahren nach § 44 Absatz (Abs.) 1 Sozialgesetzbuch X (SGB X) wegen eines sog. Schockschadens.

Die Klägerin ist Mutter ihrer am 29.10.1980 geborenen und am 11.04.1998 getöteten Tochter N ... W ... Die Klägerin hatte das Sorgerecht für N ..., während das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem Jugendamt der Stadt S ... oblag (Amtsgericht S ..., Urteil 16 F 524/85 und Beschluss 8 VIII 38746 jeweils vom 15.01.1987). Ab November 1988 war N ... im Kinderheim F ... Ende 1997 zog sie zu dem am 24.02.1964 geborenen P ... W ... Dieser hatte zwölf Vorstrafen wegen verschiedener Eigentumsdelikte, schwerer Brandstiftung, Bedrohung und Nötigung sowie vorsätzlicher und gefährlicher Körperverletzung, zuletzt wegen Körperverletzung zum Nachteil von N ... Eine Haftstrafe war zur Bewährung ausgesetzt. In der Nacht zum 13.02.1998 prügelte er N ... zum wiederholten Male und warf sie aus der gemeinsamen Wohnung. Seitdem wohnte N ... in der Notschlafstelle Hermannstraße der Stadt S ... Der Leiter der Notschlafstelle, B ..., zeigte an, dass P ... W ... N ... dort am 23.03.1998 nach deren Angaben geschlagen, Poster von der Wand gerissen und eine Wasserflasche ausgeschüttet hatte. N ... W ... erbat am 31.03.1998 vom Jugendamt die Genehmigung, mit vier Freunden, deren Namen sie sich ausgedacht hatte, ab 02.04.1998 zum Urlaub nach Frankreich zu fahren. Sie versicherte, P ... W ... werde nicht mitkommen. Tatsächlich reiste sie am 10.04.1998 mit P ... W ... und dessen beiden Brüdern W ... und M ... W ... sowie dem gemeinsamen Freund T ... M ... an die Atlantikküste nach Frankreich (Gemeinde H ... s ... M ...). M ... und W ... W ... nächtigten dort im VW-Bus des W ..., während T ... M ..., N ... W ... und P ... W ... im einem Zelt übernachteten. P ... W ... lieh sich vor dem Schlafengehen von seinem Bruder W ... ein Messer mit einer ca. 30 cm langen Klinge, angeblich, um sich im Falle eines Überfalles verteidigen zu können. Am frühen Morgen des 11.04.1998 entfernte sich T ... M ... vom Schlafplatz, um nach Hause zu fahren. P ... W ... tötete N ... durch Stiche mit dem Messer seines Bruders. Er gab bei der ersten Einvernahme am Morgen des 11.04.1998 an, gegen 7.00 Uhr sei N ... aufgewacht und habe ihn von M ... Verschwinden in Kenntnis gesetzt. Er habe sich ohne besonderen Grund mit ihr gestritten, die Kontrolle über sich verloren und mit dem Messer auf sie eingestochen. Der Obduktionsbefund vermerkte neun Messerstiche. Am Abend des 11.04.1998 informierten Kriminaloberkommissar D ... und Kriminalkommissar M ... die Klägerin über den Tod ihrer Tochter. Die Ermittlungsbehörden in Frankreich und Deutschland vernahmen die Zeugen W ... und M ... W ..., T ... M ..., D ... V ..., G ... I ..., H ... W ..., J ... B ... und M ... S ... Das Schwurgericht S ...-M ... verurteilte Peter W ... wegen vorsätzlicher Tötung von N ... W ... zu einer Zuchthausstrafe von 18 Jahren (Urteil vom 03.11.2000).

Am 02.05.1998 beantragte die Klägerin Versorgung nach dem OEG, da sie durch die Nachricht von der Ermordung ihrer Tochter seelisch leide. Das Versorgungsamt lehnte es ab, Versorgung nach dem OEG zu gewähren (Bescheid vom 07.09.1998). Zur Begründung führte es aus, es fehle an der erforderlichen Nähe (unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang) zwischen Schädigungstatbestand (gewaltsame Tötung der Tochter) und Schaden (psychische Beeinträchtigung der Klägerin).

Am 17.03.2000 begehrte die Klägerin, den Bescheid vom 07.09.1998 nach § 44 SGB X zu überprüfen. Sie machte geltend, sie habe durch die Nachricht von der Ermordung ihrer Tochter einen Schockschaden in Gestalt einer dauernden psychischen Gesundheitsstörung erlitten. Sie verweise auf das Attest von Dr. S ... (10.03.2000). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 07.11.1979 (BSGE 49, 98 ff.) bilde die Nachrichtenübermittlung an den nahen Angehörigen von einem besonders schrecklichen Geschehen eine natürliche Einheit mit dem Gewaltvorgang. Die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette höre daher erst dort auf, wo sich der Angriff auf die Psyche auswirke. Das sei in Deutschland gewesen. Das Versorgungsamt holte ein Gutachten von Dr. W ... (28.07.2000) ein und lehnte es ab, den Bescheid vom 07.09.1998 zurückzunehmen (Bescheid vom 10.11.2000). Zur Begründung führte es aus, da die Gewalttat nicht im Inland erfolgt sei, könne das OEG nicht eingreifen. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 21.12.2000).

Zur Begründung ihrer Klage zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klägerin ergänzend vorgetragen, es widerspreche dem EG-Recht, wegen der Ermordung der Tochter in Frankreich einen Anspruch nach deutschem Recht abzulehnen.

Der Beklagte hat sich zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide bezogen.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 08.06.2001).

Zur Begründung ihrer Berufung beruft sich die Klägerin auf das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 27.09.2001 (L 6 VG 3894/98). Sie trägt vor, die Nachricht von der Tötung habe sie im Sinne der Rechtsprechung des BSG unmittelbar geschädigt. Immerhin sei die Tatwaffe von Deutschland aus nach Frankreich mitgebracht worden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.06.2001 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.12.2000 zu verurteilen, den Bescheid vom 07.09.1998 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und der Klägerin ab 01.04.1998 die gesetzlichen Entschädigungsleistungen nach dem OEG wegen der Folgen der Gewalttat vom 11.04.1998 (Schockschaden aufgrund der Ermordung der Tochter) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Berichte von Dr. S ... (25.04.2002 und 12.05.2002) sowie eine Auskunft der AOK S ... (21.04.2002) eingeholt und die Akte der Staatsanwaltschaft W ... (430 Js 112/01) beigezogen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten sowie der Akte der Staatsanwaltschaft W ... Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 44 Abs. 1 Satz (S.) 1 SGB X gegen den Beklagten, den Bescheid vom 07.09.1998 zurückzunehmen und Versorgung nach dem OEG zu erhalten. Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X sind nicht erfüllt. Es fehlt an einer unmittelbaren Schädigung der Klägerin durch eine Gewalttat im Inland (§ 1 OEG).

Nach § 44 Abs. 1 S. 1 ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Bei Erlass des Bescheides vom 07.09.1998 ist der Beklagte, soweit er Feststellungen getroffen hat, von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Es entspricht auch dem Akteninhalt. Der Beklagte hat bei Erlass des Bescheides vom 07.09.1998 auch im Ergebnis das Recht richtig angewandt. Er hat einen Anspruch der Klägerin auf Versorgung nach § 1 Abs. 1 OEG zu Recht verneint.

Nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen deren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.

Daraus erhellt bereits die Konzeption des OEG:

Diejenigen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug - aber auch nur dort - infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, erhalten auf ihren Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz. Dies beruht darauf, dass den Staat eine besondere Verantwortung für Personen trifft, die durch eine vorsätzliche Straftat geschädigt werden. Seine Aufgabe ist es, die Bürger namentlich vor Gewalttätern zu schützen. Kann er diese Pflicht nicht erfüllen, so muss er sich für die Entschädigung des Opfers verantwortlich fühlen (BT-Drucks 7/2506 S. 7). Die Tatsache, dass der Staat es im Einzelfall nicht vermocht hat, durch den Schutz der Rechtsordnung den Bürger vor einem gewaltsamen Angriff zu bewahren, lässt das Bedürfnis nach einem Eintreten der Gesellschaft für Schäden aus einem solchen Angriff hervortreten (vgl. ebenda, S. 10; siehe auch BSG, Urteil vom 18.06.1996, 9 RVg 4/94, USK 9663; Urteil vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R, SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 9, S. 35 ff., 39; Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 20, S. 83 ff., 88).

Mit der Rechtsprechung des BSG geht der Senat davon aus, dass ähnlich dem Regelungssystem der Kriegsopferversorgung auch ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG grundsätzlich eine unmittelbare Schädigung des Opfers voraussetzt (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, a.a.O., S. 85 ff., m.w.N.). Es bedarf in diesem Sinne eines zeitlichen und örtlichen Zusammenhangs zwischen Gewalttat und Schädigung. Die Entscheidung über die Unmittelbarkeit im Verhältnis von Schädiger und Geschädigtem ist keine Frage der Kausalität, sondern der Abgrenzung des berechtigten Personenkreises (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.1979, Az. 9 RVg 1/78, SozR 3800 § 1 OEG Nr. 1 S. 1 ff., 6). Die Frage, ob das Opfer einer Gewalttat durch den Angriff unmittelbar geschädigt worden ist, kann nur wertend nach dem Schutzzweck des Gesetzes beantwortet werden (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, a.a.O., S. 86, m.w.N., insbesondere auch zum Unmittelbarkeitserfordernis im Bereich der Kriegsopferversorgung (KOV)). Die gegenüber dem Recht der KOV erforderliche ausdrückliche Erweiterung des berechtigten Personenkreises auf Opfer, gegen die sich die vorsätzliche Gewalttat nicht gerichtet hatte, regelt § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Danach ist anspruchsberechtigt auch derjenige, der eine gesundheitliche Schädigung infolge eines vorsätzlichen Angriffs auf eine andere Person erlitten hat (insbesondere: Fall der sog. "aberratio ictus"). Dazu müssen grundsätzlich - in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG zur KOV (vgl. BSGE 2, S. 29 ff., 34; 11, S. 234 ff., 236; 18, S. 55 = SozR Nr. 64 zu § 1 BVG; 41, S. 70 ff., 73; 54, S. 206 ff., 210; zuletzt Ur teil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R, SozR 3-3100 § 5 BVG Nr. 9, m.w.N.) - auch solche Sekundäropfer (im Urteil des BSG vom 07.11.1979, a.a.O., S. 6 als "Drittgeschädigte" bezeichnet) gerechnet werden, deren Schädigung und Schädigungsfolgen - wie hier - psychischer Natur sind. Grundsätzlich wird damit der Kreis der Entschädigungsberechtigten gegenüber dem Bereich der KOV nicht erweitert. Denn auch das Opfer einer "aberratioictus", das § 1 Abs. 1 S. 1 OEG ausdrücklich erweiternd erfasst (vgl. oben), erleidet eine Schädigung unmittelbar durch den Angriff auf einen anderen.

Der somit grundsätzlich auch für das OEG erforderliche zeitliche und örtliche Zusammenhang zwischen Gewalttat und Drittschädigung ist ohne weiteres zu bejahen, wenn - anders als hier - das Sekundäropfer am Tatort unmittelbar Zeuge der Tat gewesen ist und dabei einen seelischen Schock erlitten hat (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, a.a.O., S. 87, m.w.N.), soweit auch die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG erfüllt sind. Voraussetzung dafür ist aber die Schädigung im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug. Ist mithin das Sekundäropfer am Tatort unmittelbar Zeuge der Tat, und erleidet es hierbei einen seelischen Schock, ereignet sich dies aber nicht im räumlichen Schutzbereich des OEG, sondern z.B. in Frankreich, gewährt das OEG keinen Anspruch auf Versorgung. Der Gesetzgeber stützt dies darauf, dass nur für den räumlichen Geltungsbereich des OEG einschließlich deutscher Schiffe und Luftfahrzeuge deutschen Organen eine Verantwortung für die Sicherheit der Menschen und für die Aufklärung von Straftaten zugeschrieben werden kann (vgl. BT-Drucks. 7/2506, S. 13, zu § 1 Abs. 1 des Entwurfs).

Der Schutzzweck der Norm gebietet es allerdings, das Erfordernis der Unmittelbarkeit jedenfalls bei nahen Angehörigen grundsätzlich dahingehend zu lockern, dass es für den örtlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen Gewalttat und Drittschädigung genügt, dass eine Person die Nachricht von der vorsätzlichen Tötung eines nahen Angehörigen erhält und dadurch einen Schock erleidet. In einem solchen Falle bildet die Nachrichtenübermittlung eine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen. Deshalb wird der Empfänger der Nachricht von einem solchen "besonders schrecklichen Geschehen" grundsätzlich nicht etwa nur mittelbar, sondern - wenn auch zeitlich versetzt - unmittelbar geschädigt. Erst der Erhalt der Nachricht von der Gewalttat gegen das Primäropfer bildet ihm gegenüber das Ende der Gewalttat. Insoweit handelt es sich um eine "Unmittelbarkeit" im weiteren Sinne, die im Grundsatz durch den dargelegten Schutzzweck des OEG geboten ist. Staatlichen Schutz gegen Gewalttaten erwartet der Bürger nicht nur für sich, sondern auch für seine nächsten Angehörigen, sein höchstpersönliches Umfeld (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, a.a.O., S. 87 f., m.w.N.).

Der Schutzzweck der Norm begrenzt aber zugleich die Tragweite dieser Extension. Er erlaubt die Lockerung des Unmittelbar keitserfordernisses nur, soweit auch der Tatzeuge am Tatort geschützt wäre. Eine weitere Ausdehnung wäre weder systemgerecht noch mit dem Schutzzweck der Regelung vereinbar. Daran fehlt es, wenn jemand außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des OEG, eines deutschen Schiffes oder Luftfahrtzeugs betroffen ist. Außerhalb des örtlichen geschützten Bereichs kann deutschen Organen, wie dargelegt, eine Verantwortung für die Sicherheit der Menschen und für die Aufklärung von Straftaten nicht zugeschrieben werden. Bewusst hat der Gesetzgeber den Geltungsbereich der Regelung eingegrenzt. Die Lockerung des Unmittelbarkeitserfordernisses darf nicht zum Mittel werden, diese untrennbar mit dem Schutzzweck verknüpfte Begrenzung zu unterlaufen.

Die Begrenzung des räumlichen Schutzbereichs ist allerdings nicht zu verwechseln mit der Frage, ob innerhalb des räumlichen Schutzbereichs erheblich sein kann, ob der Staat objektiv in der Lage gewesen ist, einen Angriff zu verhindern (vgl. dazu z.B. BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 5/00 R, SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 19, S. 74 ff., 80, m.w.N.; Urteil vom 21.10.1998, a.a.O., S. 42; Urteil vom 18.10.1995, 9 RVg 4/93, SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 6 S. 21 ff., 24). Das OEG hat sich eindeutig gegen eine Einschränkung des Opferentschädigungsrechts unter dem Gesichtspunkt entschieden, dass sich Vorgänge innerhalb einer Familie oder eines durch sonstige Beziehungen geprägten Vertrauensverhältnisses präventiver Verbrechensbekämpfung weitestgehend entziehen. Innerhalb des räumlichen Schutzbereichs des OEG kommt eine enge Auslegung seiner Voraussetzungen unter Berücksichtigung nur beschränkter Möglichkeiten staatlicher Verbrechensbekämpfung mit der Folge, dass gerade besonders Schutzwürdige - wie etwa Kinder - aus dem Kreis der Berechtigten herausfielen, mithin nicht in Betracht. Darum geht es bei der hier im Blick stehenden Frage, inwieweit das Unmittelbarkeitserfordernis gelockert werden darf, indes nicht.

Auch die Systemgerechtigkeit spricht dafür, die Lockerung des Unmittelbarkeitserfordernisses nicht zu überdehnen. Es leuchtete nicht ein, der Klägerin - woran kein Zweifel besteht - im Ergebnis Versorgung nach dem OEG versagen zu müssen, hätte sie unmittelbar am Tatort in Frankreich körperliche Verletzungen - etwa durch Messerstiche - erlitten, oder hätte sie einen seelischen Schaden dadurch erlitten, dass sie Augenzeugin am Tatort gewesen wäre, ihr aber durch die räumliche Entfernung vom Tatort in Frankreich nun Versorgung zuzuerkennen. Nur dadurch, dass sie gerade nicht unmittelbar am Tatort gewesen ist, sondern in Deutschland nur mittelbar vom Tatgeschehen in Frankreich erfuhr, kann sich ihre Rechtsstellung nicht verbessern. Dementsprechend hat das BSG (vgl. Urteil vom 18.06.1996, a.a.O.) es nicht gestattet, im Wege des Härteausgleichs (§ 1 OEG i.V.m. § 89 BVG) die Begrenzung des räumlichen Schutzbereichs des OEG zu unterlaufen. Es hat insoweit ausgeführt: Ein Härteausgleich kann nur dann stattfinden, wenn eine vom Gesetzgeber nicht bewusst in Kauf genommene Härte vorliegt. Die fundamentalen Vorschriften des Kriegsopferrechts dürfen dabei durch den Härteausgleich nicht ausgehöhlt oder umgegangen werden. Entsprechendes muss für die tragenden Grundlagen des Gewaltopferrechts gelten. Die Beschränkung des Schutzes von Gewaltopfern auf im Bereich des OEG begangene Gewalttaten beruht auf einer grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers, die Ausnahmen im Einzelfall nicht zulässt (vgl. ebenda). Mit diesen aufgezeigten Grundwertungen wäre es schlechthin unvereinbar, mit zunehmender Entfernung vom Auslandstatort die Chancen auf einen OEG-Anspruch zu erhöhen.

Nichts anderes folgt aus verfassungsrechtlichen Wertungen. Keinesfalls kann von einer ggfls. verfassungswidrigen sozialrechtlichen Regelungslücke des OEG ausgegangen werden, zu deren Schließung der Gesetzgeber nach Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verpflichtet gewesen wäre. Die bewusste Begrenzung des Schutzbereichs des OEG war gerade im Anschluss an die Ereignisse des 11.09.2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika Anlass zu Vorstößen, den räumlichen Schutzbereich des OEG auszudehnen. Dem ist die Bundesregierung unter Hinweis darauf entgegengetreten, das OEG beinhalte eine Entschädigung für Gesundheitsschäden, für die die staatliche Gemeinschaft eine besondere Verantwortung trage, weil der deutsche Staat den betroffenen Bürger durch seine Polizeikräfte nicht vor der Gewalttat habe schützen können. Bei einer Ausweitung des Geltungsbereichs auf Auslandstaten würde dem Staat die Verantwortung und das Kostenrisiko für Vorkommnisse zugewiesen, auf die er keinen Einfluss habe (vgl. hierzu BT-Drucks 14/7270). Von einer Lückenschließung kann nach alledem keine Rede sein. Hinsichtlich der Ausweitung des räumlichen Schutzbereichs besteht vielmehr wie generell bei Ausweitung von Sozialleistungsansprüchen für den Gesetzgeber von Verfassungs wegen ein weitgehender Ermessensspielraum (vgl. dazu BVerfGE 87, S. 234 ff., 262 ff. m.w.N.), den der Gesetzgeber hier keinesfalls überschritten hat.

Nichts anderes folgt auch aus dem Recht der Europäischen Union. Unabhängig davon, ob man mit Blick auf die Parallelregelung in Art. 706-3 des französischen Code de procédure pénale den Anspruchsgrund als straf- oder strafverfahrensrechtliche Regelung qualifiziert, oder bei der Qualifikation stärker den Aufopferungsgedanken hervorhebt und die Regelung deshalb dem Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuordnet, sind grundsätzlich die Mitgliedsstaaten für die Ausgestaltung dieses Rechts zuständig (vgl. EuGH, Urteil vom 09.12.1997 C-265/95, Slg. I 1997, S. 6959 ff., zur Alleinzuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; für das Straf- und Strafverfahrensrecht: Urteil vom 02.02.1989, 186/87, Slg. 1989, S. 195 ff.; Urteil vom 11.11.1981 in der Rechtssache 203/80, Slg. 1981, S. 2595 ff.). Das Gemeinschaftsrecht setzt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteile vom 02.02.1989 und 11.11.1981, a.a.O.) dieser Zuständigkeit aber Schranken: Derartige Rechtsvorschriften dürfen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken. Weder das Eine noch das Andere ist durch die Begrenzung des räumlichen Schutzbereichs des OEG der Fall. Der Zuständigkeitsvorbehalt der Mitgliedsstaaten bewirkt, dass allein in der unterschiedlichen Ausgestaltung des entsprechenden nationalen Rechts und den damit verknüpften unterschiedlichen Schutzniveaus keine Beschränkung der vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten gesehen werden kann. Auch für eine Diskriminierung von Personen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, ist nichts ersichtlich. All dies berücksichtigt das Urteil des LSG Baden Württemberg vom 27.09.2001 (a.a.O.) nicht.

Aus der räumlichen Begrenzung des Schutzbereichs des OEG sowie der Lockerung des Unmittelbarkeitserfordernisses unter Einbeziehung von Schockschäden in den Schutzbereich des OEG folgt andererseits, dass ein Anspruch auf Versorgung für die Klägerin in Betracht käme, hätte sich der Angriff des Täters gegen ihre Tochter im räumlichen Schutzbereich des OEG abgespielt. Was im Einzelnen hierfür erforderlich ist, ob es hierfür etwa bereits einer Tathandlung bedarf, das unmittelbare Ansetzen zur Tat ausreicht oder gefährdende Vorbereitungshandlungen bereits genügen, bedarf keiner Entscheidung. Der Senat ist nach dem Beweisergebnis davon überzeugt, dass P ...W ... die Tochter der Klägerin nicht aufgrund eines umfangreichen Tatplans nach Frankreich gelockt hat, um sie dort zu töten, sondern dass es sich um einen kurzfristigen Entschluss vor Ort in Frankreich gehandelt hat, den er unmittelbar umgesetzt hat.

Für einen konkreten Tatplan des P ... W ..., N ... W ... nach Frankreich zu locken und dort zu töten, oder für entsprechende Vorbereitungshandlungen in Deutschland ergibt die Auswertung der Zeugenaussagen gegenüber den Ermittlungsbehörden, die sämtlich im Wege des Urkundenbeweises verwertbar sind, keinerlei Anhalt. So hat keiner der von der Kriminalpolizei gehörten Zeugen von einem solchen Tatplan oder gar etwaigen Vorbereitungshandlungen berichten können. Zudem hat P ... W ... selbst im ersten Verhör am 11.04.1998 und später angegeben, sich am Morgen des 11.04.1998 ohne besonderen Grund mit N ... W ... gestritten zu haben, die Kontrolle über sich verloren und mit einem Messer auf sie eingestochen zu haben (Ermittlungsbericht der französischen Polizei vom 29.06.1998).

Diese Einlassung passt in das Gesamtbild der Tatplanung und des äußeren Geschehensablaufs. Nach den glaubhaften Bekundungen des Zeugen M ... (14.04. und 04.08.1998) wollten die drei Brüder W ... mit dem Zeugen über Ostern in die Normandie zum Campen fahren, ohne dass es auf die Anwesenheit von N ... W ... an kam. Bei der Fahrtplanung blieb es auch, nachdem P ... W ... N ... W ... geschlagen hatte und diese sich deshalb nicht mehr bei ihm sehen ließ. Dementsprechend war der Zeuge überrascht, N ... W ... einige Tage vor dem Fahrtantritt wieder mit P ... W ... zusammen zu sehen, so dass für ihn klar war, dass sie mitfahren würde. Zudem wollte N ... W ... selbst an der Frankreichreise teilnehmen. Deshalb nannte sie ihrem Betreuer beim Jugendamt die erfundenen Namen von zwei Freunden und zwei Freundinnen aus S ..., die sie angeblich ab 02.04.1998 auf einer Frankreichfahrt begleiten wollten, um eine Reisegenehmigung des Jugendamts zu erhalten. Da die Klägerin ebenso wie die Institutionen der Jugendhilfe S ... die Kontakte von N ... W ... zu P ... W ... mißbilligten, mußte N ... klar sein, dass ihr die Genehmigung versagt worden wäre, hätte sie angegeben, P ... W ... sei ihr Begleiter (vgl. Gesprächsnotiz des Jugendamts vom 31.03.1998; Ermittlungsbericht und Vermerk der Kriminalpolizei W ... vom 12. und 14.04.1998; Angabe des Zeugen B ... vom 05.08.1998 gegenüber der Kriminalpolizei). Der äußere Geschehensablauf gibt nichts für eine Tatplanung oder Vorbereitungshandlungen in Deutschland her. Die Mitfahrer trafen sich am Morgen des 10.04.1998 in S ..., fuhren gemeinsam im VW-Bus des W ... W ... los und konsumierten gemeinsam - bis auf den Fahrer und den Zeugen M ... - unterwegs erhebliche Mengen Alkohol. Nach der abendlichen Ankunft am Zeltplatz wurde das Zelt errichtet, weiter Alkohol getrunken und Karten gespielt. Als erster legte sich der Zeuge M ... zum Schlafen in das Zelt. M ... und W ... W ... schliefen im VW-Bus (Bekundungen von M ... und W ... W ... vom 11.04.1998; Angaben des Zeugen M ...).

Der erste Schritt zur Tat kann frühestens darin bestanden haben, dass P ... W ... am Abend des 10.04.1998 seinen Bruder W ... bat, sein "Bowie"-Messer auszuleihen. Dieses führte W ... W ... gewöhnlich in seinem VW-Bus zwischen den bei den Vordersitzen mit sich (Zeugnis H ... W ... vom 05.08.1998). Anhaltspunkte dafür, dass P ... W ... das Messer bereits in Tötungsabsicht an sich brachte, bestehen nicht. Vielmehr erbat er das Messer von seinem Bruder, um sich im Falle eines Überfalls verteidigen zu können (Aussage W ...W ...; 11.04.1998). Entsprechendes gab P ... W ... gegenüber dem Zeugen M ... an, als er das Messer in das Zelt warf, in das er sich schlafen legen wollte (Aussagen T ... M ...). Über Spannungen zwischen P ... W ... und N ... W ... oder über andere Indizien dafür, dass P ... W ... das Messer bereits in Tötungsabsicht an sich brachte, hat keiner der Zeugen etwas bekundet. Die Vermutung der Zeugen H ... M ... W ..., P ... W ... müsse schon beim Entleihen des Messers "etwas vorgehabt" haben, findet im übrigen Tatablauf keine objektive Stütze. Am Gesamtergebnis änderte sich im übrigen dadurch nichts, wenn von einer Tatplanung am Abend des 10.04.1998 in Zusammenhang mit dem Entleihen des Messers in Frankreich auszugehen wäre. Anhaltspunkte dafür, dass vor dem Aufbruch des Zeugen M ... P ... W ... zur Tat angesetzt habe, sind nicht ersichtlich.

Auch das Verhalten des P ... W ... unmittelbar nach der Tat spricht nicht für ein langfristig geplantes Verbrechen. Vielmehr brachte er zusammen mit seinen Brüdern N ... W ... zur Notaufnahme ins Krankenhaus in D ... Dies war Anlass für die französischen Ermittlungsbehörden, tätig zu werden.

Dass P ... W ... erst anlässlich des Streits am Morgen des 11.04.1998 den Entschluss fasste, mit dem Messer auf N ... W ... in Tötungsabsicht einzustechen, passt auch zu seinem Persönlichkeitsprofil, das sich in den Zeugenaussagen wiederspiegelt. Übereinstimmend haben die Zeugen S ..., I ..., V ... und H ... W ... bekundet, Alkoholisierung habe die Hemmschwelle zu Gewalttaten bei P ... W ... erheblich herabgesetzt. Nach einer Festnahme gegen 8.00 Uhr am 11.04.1998 stellten die französischen Ermittlungsbehörden Werte zwischen 0,31 und 0,33 mg/l Alkohol in der Atemluft bei P ... W ... fest (französischer Ermittlungsbericht). Der Zeuge S ... hat zudem bekundet, er habe P ... W ... in nüchternem Zustand aufbrausend, aber beherrscht erlebt. Seine Hemmschwelle sinke im Zusammenhang mit dem Alkohol extrem ab. Dann könne es zu einer dermaßen unkontrollierten Handlung wie zu der Tat in Frankreich kommen. Auf keinen Fall sei die Tat in Frankreich eine geplante Tat gewesen.

Für eine konkrete Tatplanung in Deutschland läßt sich schließlich auch nichts daraus ableiten, dass die Zeugin V ... bekundet hat, P ... W ... habe ihr gegenüber im November 1997 gesagt, wenn er noch länger mit N ... zusammenbleibe, werde er sie eines Tages umbringen. Sie mache ihn krank (Aussage der Zeugin vom 04.08.1998). Einerseits handelt es sich dabei um eine Mischung aus eher allgemein gehaltener Drohung und Befürchtung. Andererseits reiht sich diese Äußerung in eine Reihe weiterer Tötungsdrohungen ein, von denen die Zeugen V ... und H ... W ... ebenfalls berichtet haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, da die Rechtssache wegen der Frage, ob bei sog. Schockschäden allein auf den Ort des Eintritts der gesundheitlichen Schädigung abzustellen ist, wenn der tätliche Angriff außerhalb des Geltungsbereichs des OEG stattgefunden hat, grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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