L 3 RJ 60/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 31 RJ 349/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 RJ 60/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2004 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die Kosten des Klägers im Berufungsver- fahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Beginn der dem Kläger gewährten Regelaltersrente.

Der am 1930 geborene Kläger sprach am 24. April 2001 bei der Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten vor und stellte einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres, die ihm mit Bescheid vom 02. Oktober 2001 ab 01. April 2001 bewilligt wurde. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch begehrte der Kläger die Regelaltersrente bereits ab Vollendung des 65. Lebensjahres. Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 02. August 2000, Az.: B 4 RA 54/99 R, machte der Kläger eine Verletzung des § 115 Abs. 6 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) geltend.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger habe den Rentenantrag erst am 24. April 2001 gestellt, so dass die Rente gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI vom Kalendermonat der Antragstellung, also vom 01. April 2001 an, zu leisten gewesen sei. Vom Antragsprinzip seien Ausnahmen vorgesehen, in denen der Rentenversicherungsträger von Amts wegen das Verwaltungsverfahren eröffnen müsse bzw. in denen kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung ein Rentenantrag fingiert sei. Durch § 115 Abs. 6 SGB VI werde die Aufklärungs-, Beratungs- und Hinweispflicht nach §§ 13 bis 15 Sozialgesetzbuch I (SGB I) konkretisiert und dem Rentenversicherungsträger aufgegeben, Leistungsberechtigte auf ihr Antragsrecht hinsichtlich einer ihnen zustehenden Leistung hinzuweisen. Die Verletzung der in § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI beschriebenen Hinweispflicht könne einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen. Ein solcher liege hier jedoch nicht vor, da der Rentenversicherungsträger mit dem Rentenantrag vom 24. April 2001 erstmals Kenntnis über die zurückgelegten Beitrags- und Anrechnungszeiten erhalten habe. Er habe vor der Rentenantragstellung über keinerlei Daten verfügt. Es habe somit keine Veranlassung bestanden, Ermittlungen einzuleiten oder den Kläger zur Antragstellung aufzufordern. Deshalb sei eine Pflichtverletzung, die einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zur Folge habe, nicht zu erkennen.

Mit der dagegen bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Ziel, die Regelaltersrente bereits ab 01. Mai 1995 zu erhalten, weiter verfolgt.

Er hat zur Begründung auf eine Rentenauskunft vom 16. November 1987 verwiesen und ausgeführt, die Beklagte habe sehr wohl Kenntnis von den zurückgelegten Beitrags- und Anrechnungszeiten gehabt. Immerhin habe sie in der Rentenauskunft eine Wartezeit von 87 Monaten mit Beitragszeiten vorgemerkt.

Zunächst hat die Beklagte geltend gemacht, der Kläger habe sein 65. Lebensjahr bereits am 26. April 1995 vollendet und falle damit nicht unter die für die Rentenversicherungsträger durch den Fachausschuss für Versicherung und Rente des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger in der Sitzung vom 11. Februar 1998 erarbeiteten Richtlinien zu § 115 Abs. 6 Satz 2 SGB VI, wonach nur Versicherte, die bei Inkrafttreten der Richtlinien am 01. Juli 1998 das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, auf die Notwendigkeit der rechtzeitigen Antragstellung hinzuweisen seien. Der Kläger habe aber zu diesem Zeitpunkt bereits das 65. Lebensjahr vollendet gehabt, so dass ihm gegenüber keine Hinweispflicht bestanden habe.

Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2002 hat die Beklagte ihre Auffassung überprüft und dem Kläger vergleichsweise angeboten, den Rentenbeginn nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches vorzuverlegen, den Rentenbeginn jedoch in analoger Anwendung von § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch X (SGB X) auf den 01. Januar 1997 zu begrenzen. Der Auffassung des Bundessozialgerichts vom 02. August 2000, Az.: B 4 RA 54/99 R, wonach bei der Erfüllung von Herstellungsansprüchen § 44 Abs. 4 SGB X nicht anwendbar sei, werde nicht gefolgt. Die Interessenlage des Klägers sei im vorliegenden Einzelfall nicht höher zu bewerten als die eines Versicherten, dem eine Leistung rechtswidrig abgelehnt worden sei. Für den Umfang der rückwirkenden Leistung könne es daher nicht wesentlich sein, ob der Rentenversicherungsträger eine Leistung zu Unrecht versagt habe oder aus anderen Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss habe kommen lassen.

Durch Urteil vom 25. Februar 2004 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 02. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 2002 verurteilt, dem Kläger bereits ab dem 01. Mai 1995 Regelaltersrente zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Kläger habe Anspruch auf den früheren Rentenbeginn, da der rechtzeitige Rentenantrag im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches zu fingieren sei. Die aus § 115 Abs. 6 SGB VI resultierende Hinweispflicht habe die Beklagte verletzt. Die Vollendung des 65. Lebensjahres mit Erfüllung der allgemeinen Wartezeit sei ein typischer Fall des § 115 Abs. 6 SGB VI. Der Fall des Klägers sei nicht deshalb nach dieser Vorschrift ausgeschlossen, weil der Kläger nicht in den Adressatenkreis falle, den die gemeinsamen Richtlinien der Rentenversicherungsträger definiert hätten. Denn diese Richtlinien dienten dazu, die Hinweispflicht, die sich durch die Auslegung aus § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI zwanglos ergebe, zu konkretisieren. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts folge dies schon daraus, dass der Erlass der Richtlinien im Ermessen der Rentenversicherungsträger stehe und nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Gesetzgeber einerseits eine Hinweispflicht als ausfüllungsbedürftige Norm statuiere, andererseits aber diese dem durch Ermessen geprägten Bestimmungsrecht des Verpflichteten überlasse. Die Ermächtigung der Rentenversicherungsträger könne so als Hilfestellung bei der Schaffung einer praktikablen Verfahrensweise dienen, hingegen nicht als Ermächtigung zur Normkonkretisierung, wie sie aus der normativen Ermächtigungslehre bekannt sei. Die Pflicht zur Erteilung eines Hinweises nach § 115 Abs. 6 SGB VI sei nicht von einem konkreten Beratungsbegehren des Versicherten abhängig. Die Hinweispflicht entfalle auch nicht deshalb, weil dem Kläger bereits 1987 eine Rentenauskunft übersandt worden sei, denn diese habe über sieben Jahre vor dem Zeitpunkt der Erfüllung aller Voraussetzungen für die Rente gelegen. Der unterlassene Hinweis der Beklagten auf die Möglichkeit der Rentengewährung bei Erreichen des 65. Lebensjahres habe dazu geführt, dass der Kläger keine Rente beantragt habe. Damit habe er einen Nachteil erlitten, der vom Schutzzweck des § 115 Abs. 6 SGB VI umfasst sei.

Einem Rentenbeginn ab 01. Mai 1995 stehe auch nicht § 44 Abs. 4 SGB X entgegen. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung lägen nicht vor. Die Begrenzung von Sozialleistungen, die § 44 Abs. 4 SGB X für den Fall anordne, dass auf einen Überprüfungsantrag ein belastender Verwaltungsakt aufgehoben oder ein begünstigender Verwaltungsakt letztendlich erteilt werde, rechtfertige sich daraus, dass Gegenstand des Überprüfungsverfahrens ein Verwaltungsakt sei, gegen den der Versicherte bereits nach den allgemeinen Regeln des SGB X und des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die fristgebundene Widerspruchs- und Klagemöglichkeit gehabt habe. Eine ähnliche Interessenlage finde sich beim Herstellungsanspruch nicht. Dieser habe nicht die Fälle fehlerhafter Verwaltungsakte zum Grund und Gegenstand, sondern allgemein die Pflichtverletzung auf Seiten der Behörde. § 44 Abs. 4 SGB X enthalte mit seiner Begrenzung der rückwirkenden Gewährung von Leistungen noch keinen allgemeinen Rechtsgedanken. Die diesbezügliche Rechtsprechung berufe sich einerseits auf eine Ergänzung des § 44 Abs. 4 SGB X zu der allgemeinen Verjährungseinrede des § 45 SGB I, andererseits darauf, dass im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht mehr gewährt werden könne als bei Verletzung einer Hauptpflicht, die das BSG in der rechtswidrigen Ablehnung der Rente sehe, welche dann im Wege des § 44 SGB X erfolgreich erstritten werde. Diese Argumentation berücksichtige jedoch nicht, dass bei rechtswidriger Ablehnung der Rente eine Anfechtungsmöglichkeit bestehe. Im Fall der Verletzung der Hinweispflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI ergehe jedoch kein Verwaltungsakt. Bei Verletzung der Hauptpflicht könne sich der Versicherte dagegen im Wege des Primärrechtsschutzes wehren, bei der Verletzung einer solchen Nebenpflicht hingegen nicht. In diesem Zusammenhang habe dann auch der 4. Senat des BSG festgestellt, das § 44 Abs. 4 SGB X bei der Erstfeststellung von Leistungsrechten nicht anwendbar sei.

Gegen das am 03. Juni 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21. Juni 2004 Berufung eingelegt.

Zur Begründung führt die Beklagte aus, die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X seien erfüllt, denn es liege eine planwidrige Regelungslücke vor. Aus den §§ 44 Abs. 4, 48 Abs. 4 SGB X und § 45 SBG I sei der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen, Sozialleistungen für die Vergangenheit nur in begrenztem Umfang zu erbringen. Deshalb müsse bei der Erbringung von Leistungsansprüchen für zurückliegende Zeiträume auf Grund des gesetzlich nicht geregelten sozialrechtlichen Herstellungsanspruches und der naturgemäßen Nichtregelung einer zeitlichen Begrenzung von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden, die durch analoge Anwendung der § 44 Abs. 4 SGB X zu schließen sei. Sowohl bei der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 44 SGB X als auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gehe es um die Korrektur rechtswidrig nicht erbrachter Sozialleistungen. Die Interessenlage sei in beiden Fallgestaltungen ähnlich, weil es keinen Unterschied mache, ob das fehlerhafte Verwaltungshandeln sich in dem Erlass eines Verwaltungsaktes niedergeschlagen habe oder nicht. Zudem erscheine es nicht gerechtfertigt, dem Berechtigten, der in seinem Sozialrecht dadurch beeinträchtigt worden sei, dass der verpflichtete Leistungsträger ihm gegenüber eine Nebenpflicht verletzt habe, Sozialleistungen für die Vergangenheit ohne zeitliche Einschränkungen zu gewähren, während in den Fällen, in denen darüber hinausgehend in Folge der Erteilung eines rechtswidrigen ablehnenden Verwaltungsaktes eine Hauptpflicht durch den Leistungsträger verletzt worden sei, der Leistungsanspruch auf die letzten vier Jahre vor der Rücknahme bzw. Antragstellung begrenzt sein solle. Die Verletzung einer Nebenpflicht könne insoweit nicht weiterreichende Rechtsfolgen auslösen als die Verletzung einer Hauptpflicht. Vielmehr gehe es, wie das BSG am 14. Februar 2001, Az.: B 9 V 9/00 R, entschieden habe, darum, durch rechtswidriges Verwaltungshandeln bzw. Nichthandeln zu Unrecht erbrachte Sozialleistungen zu gewähren. Angesichts der die Verjährungseinrede aus § 45 SGB I ergänzenden materiell-rechtlichen Ausschlussfrist aus § 44 Abs. 4 SGB X müsse der Wille des Gesetzgebers geschlussfolgert werden, generell sicherzustellen, den Leistungszeitraum bei rückwirkender Erbringung von Sozialleistungen zeitlich zu begrenzen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. September 2005 hat die Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben und dies vor allem damit begründet, es sei dem Kläger unter Berücksichtigung des ihm immer noch vorliegenden Versicherungsverlaufs aus dem Jahre 1987 zuzumuten gewesen, Informationen über seine Ansprüche einzuholen. Insoweit treffe ihn ein Mitverschulden, denn dem Bescheid aus dem Jahre 1987 hätte er entnehmen können, dass er einen Rentenanspruch ab Vollendung des 65. Lebensjahres gehabt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2004 insoweit aufzuheben, als sie verurteilt worden ist, dem Kläger Regelaltersrente für die Zeit vor dem 01. Januar 1997 zu gewähren, und die Klage insoweit abzuweisen,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig aber unbegründet. Der Kläger hat, wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, Anspruch auf Gewährung der Regelaltersrente bereits ab 01. Mai 1995. Die Berufung der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Zwischen den Beteiligten ist allein noch streitig, ob § 44 Abs. 4 SGB X Anwendung findet, wenn die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches –wie im vorliegenden Fall- bejaht werden.

Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Beklagte eine aus § 115 Abs. 6 SGB VI resultierende Hinweispflicht verletzt hat, indem sie den Kläger nicht auf die Möglichkeit der Rentengewährung bei Erreichen des 65. Lebensjahres aufmerksam gemacht hat. Dies hat dazu geführt, dass der Kläger erst im April 2001, nach einem Gespräch und Hinweis eines Bekannten, die Gewährung einer Regelaltersrente beantragt hat. Dies hatte zur Konsequenz, dass die Beklagte unter Anwendung des § 99 Abs. 1 SGB VI dem Kläger erst ab 01. April 2001 Rente gewährt hat.

Der rechtzeitige Antrag war jedoch im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches, wie das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung ausführlich dargelegt hat, zu fingieren. Wegen der weiteren Einzelheiten zu den Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs und dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen sieht der Senat von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und verweist insoweit auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG).

Der Kläger hat aber nicht nur, wie die Beklagte ihm zugestehen will, ab 01. Januar 1997 Anspruch auf Gewährung der Regelaltersrente, sondern bereits ab Vollendung des 65. Lebensjahres, also ab 01. Mai 1995. Dem stehen die Regelungen des § 44 Abs. 4 SGB X nicht entgegen.

Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile diese Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkende Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Diese Voraussetzungen sind bei einer unmittelbaren Anwendung der Vorschrift nicht erfüllt, denn streitig ist kein Verwaltungsakt über die Gewährung einer Rente, der mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Vielmehr liegt hier eine Erstfeststellung einer Rentenberechtigung vor.

Eine analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X kommt entgegen der Auffassung der Beklagten nicht in Betracht.

Nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (vgl. Urteile vom 02. August 2000, Az.: B 4 RA 54/99 R, veröffentlicht in SozR 3-2600 § 99 Nr. 5, und 06. März 2003, Az.: B 4 RA 38/02 R, veröffentlicht in SozR 4-2600 § 115 Nr. 1), der der Senat nach eigener Prüfung folgt, unterfallen so genannte Erstfeststellungsverfahren, wie sie im vorliegenden Fall streitig sind, nicht dem sachlichen Anwendungsbereich des § 44 Abs. 4 SGB X. Die Norm, die einen materiell-rechtlichen, anspruchsvernichtenden Einwand, der sich wie eine rückwirkende Leistungsausschlussfrist verhält, enthält, begründet keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz und ist auch nicht analogiefähig.

Dies hat der 4a. Senat des BSG bereits in seinem Urteil von 26. Mai 1987 zum Recht der Arbeiterrentenversicherung ausgeführt (BSG SozR 2200 § 1254 Nr.7). Zwar gilt für Erstfeststellungsverfahren seit dem 01. Januar 1992 der -deutlich stärker als in § 44 Abs. 4 SGB X geregelt- in die Rechte der Versicherten eingreifende anspruchsvernichtende Antragseinwand des § 99 Abs. 1 SGB VI. Dieser greift hier jedoch wegen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches nicht durch. Nach der Entscheidung des BSG enthält § 44 Abs. 4 SGB X keinen allgemeinen Rechtssatz, dass Sozialleistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu erbringen seien. Das BSG hat seine Auffassung damit begründet, dass § 44 Abs. 4 SGB X sich in seiner Gestaltung und seinen Wirkungen grundlegend von den Verjährungsvorschriften der §§ 45 Abs. 1 SGB I, 25 Abs. 1 Satz 1 und 27 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) unterscheidet. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X enthält nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung im Schrifttum eine materiell-rechtliche Einschränkung des nachträglich bewilligten Anspruchs auf Sozialleistungen, deren Wirkung über die Verjährung hinausgeht und einer Ausschlussfrist entspricht. Das bedeutet, dass Leistungsträger und Gerichte die Vorschrift, wenn deren Voraussetzungen gegeben sind, ohne weiteres anzuwenden haben, dass der Leistungsträger keine Einrede zu erheben braucht und vor allem, dass gegen die Anwendung der Vorschrift weder der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung noch ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden kann. Wenn demnach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X stärker in die sozialen Rechte des Versicherten eingreift als die Verjährungsbestimmungen des SGB I und SGB IV, bedarf es besonderer Prüfung, ob die Vorschrift analogiefähig ist, zumal – umgekehrt – die sozialen Rechte des Versicherten möglichst weitgehend verwirklicht werden sollen (§ 2 Abs. 2 SGB I). Die Annahme, § 44 Abs. 4 SGB X enthalte einen allgemeinen Rechtssatz, würde überdies dem in § 45 SGB I geregelten Rechtsinstitut der Verjährung weithin seine Berechtigung entziehen, z.B. dem Leistungsträger sein Recht, von der Einrede der Verjährung im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen abzusehen.

Auch die amtliche Überschrift des § 44 SGB X – Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes – steht der Argumentation entgegen, es könne keinen Unterschied machen, ob der Berechtigte einen ablehnenden Verwaltungsakt erhalten oder aus anderen Gründen, etwa wegen unzureichender Information durch den Leistungsträger, bereits im Vorfeld von der Anspruchsverfolgung abgesehen habe. Der Berechtigte sei im letzteren Fall keineswegs schutzwürdiger als im ersten. Eine solche Auffassung vernachlässigt, dass § 44 SGB X den Eingriff in die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes nach § 77 SGG zugunsten des Bürgers zulässt und in seinem Absatz 4 allein das zeitliche Ausmaß der Folgenbeseitigung einschränkt. Die Vier-Jahres-Schranke kann in diesem Zusammenhang nur als ein Teilstück weiter bestehender Bestandskraftwirkung des rechtswidrigen und daher aufzuhebenden Verwaltungsaktes verstanden werden.

Letztlich bietet auch die Entstehungsgeschichte zu § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X keinen Ansatz dafür, die Vorschrift als Ausdruck eines allgemeinen Rechtssatzes in dem Sinne aufzufassen, dass die entsprechende Anwendung beim Fehlen sowohl eines aufzuhebenden wie auch eines aufhebenden Verwaltungsaktes geboten ist. Als Reaktion auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 04. Dezember 1974, SozR 2200 § 29 Nr. 2, ist der Bundesratsdrucksache (170/78 Seite 34) zur Vorgängerregelung der damals als § 42 Abs. 4 SGB X normierten Vorschrift zu entnehmen, Abs. 4 lege fest, dass längstens bis zu vier Jahren in die Vergangenheit nachträglich Leistungen erbracht werden dürften. Der Vier-Jahres-Zeitraum, der der Verjährungsfrist von Sozialleistungen nach § 45 SGB I entspreche, sei im Gesetz festgelegt, um sicherzustellen, dass nicht über diesen Zeitraum hinaus rückwirkend Leistungen zu erbringen seien.

Die Entscheidung des 4a Senates des BSG hat der 4. Senat nicht nur in seinem Urteil vom 02. August 2000, sondern auch in seinem Urteil vom 06. März 2003 ausdrücklich bekräftigt. Der 4. Senat stützt sich damit auf eine Entscheidung des 13. Senats des BSG vom 22. Oktober 1996, Az: 13 RJ 17/96, veröffentlicht in BGSE 79, 177, und des 5. Senats des BSG vom 30. Juli 1997, Az.: B 5 RJ 64/95, veröffentlicht in SGb 1997, Seite 516 ff. Danach gilt nach wie vor § 45 SGB I, wo § 44 Abs. 4 und § 48 Abs. 4 SGB X tatbestandsmäßig nicht hinreichen.

Demgegenüber hat der 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 14. Februar 2001, Az.: B 9 V 9/00 R, veröffentlicht in SozR 3-1200 § 14 Nr. 31, die Auffassung vertreten, die analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X sei zulässig, denn die Verletzung einer Nebenpflicht könne nicht weiterreichende Folgen haben als die Verletzung der Hauptpflicht. Eine weitergehende Begründung und Auseinandersetzung mit der Entscheidung des 4. Senats ist in diesem Urteil nicht enthalten.

Der erkennende Senat folgt der Entscheidung des 9. Senats nicht, denn er hält die Auffassung des 4. Senats, dass eine analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X mangels eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nicht zulässig ist, für überzeugend. Die Auffassung des 9. Senats berücksichtigt nicht, wie oben ausgeführt, dass § 44 SGB X bereits den Eingriff in die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes nach § 77 SGG zugunsten des Bürgers zulässt und der Absatz 4 allein das zeitliche Ausmaß der Folgenbeseitigung einschränkt. Ein solcher Fall liegt eben dann nicht vor, wenn eine Entscheidung im Streit ist, die keine Überprüfung früherer verbindlicher Verwaltungsakte zum Gegenstand hat.

Dem Kläger steht also ab der Vollendung des 65. Lebensjahres und damit ab 01. Mai 1995 die begehrte Regelaltersrente zu. Dem steht nicht entgegen, dass sich die Beklagte hinsichtlich der Rentenzahlung für die Zeit vom 01. Mai 1995 bis 31. Dezember 1996 auf die Einrede der Verjährung berufen hat.

Die Einrede der Verjährung wird nicht von § 44 Abs. 4 SGB X verdrängt. Dies hätte nämlich zur Folge, dass das in § 45 Abs. 1 SGB I geregelte Rechtsinstitut der Verjährung bedeutungslos würde. Darüber hinaus wäre nicht ersichtlich, warum der Leistungsträger nach § 39 Abs. 1 S. 1 SGB I gesetzlich verpflichtet ist, im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob er die Verjährungseinrede erhebt oder nicht (so BSG vom 26. Mai 1987, Az.: B 4a RJ 49/86; vgl. auch Vogelsang in Hauck-Noftz § 44 SGB X Randnummer 37).

Gemäß § 45 Abs. 1 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

Die Beklagte kann sich aber nicht wirksam auf die Verjährung berufen.

Da die Verjährung nicht zum Erlöschen des Anspruchs führt, sondern, worauf bereits mehrfach hingewiesen wurde, dem Sozialleistungsträger lediglich ein Leistungsverweigerungsrecht einräumt, steht es in seinem Ermessen, ob er die Einrede der Verjährung erhebt. Dies bedeutet, dass er Ermessenserwägungen nach den Grundsätzen des § 39 SGB I anstellen und seine Entscheidung gemäß § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X entsprechend begründen muss (so BSG vom 30. Juli 1997, Az.: 5 RJ 64/95).

Die Beklagte, die im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. September 2005 ausdrücklich erwähnt hat, dass sie über die Erhebung der Einrede der Verjährung in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens entscheide, hat sich zur Begründung auf die Interessen der Versichertengemeinschaft berufen und die Auffassung vertreten, der Kläger trage ein Mitverschulden an der verspäteten Rentenantragstellung, da er anhand des Versicherungsverlaufs aus dem Jahre 1987 hätte erkennen können, dass er einen Rentenanspruch ab Vollendung des 65. Lebensjahres gehabt habe. Unter Berücksichtigung des Versicherungsverlaufs und der 30 Jahre mit Pflichtbeiträgen hätte er bei der Beklagten Informationen über seine Ansprüche einholen können.

Ob diese Erwägungen, die weder die wirtschaftliche Situation des Klägers, noch die wirtschaftliche Bedeutung des Nachzahlbetrags oder die Fehlleistung der Beklagten selbst berücksichtigt, für eine ermessensgerechte Entscheidung ausreichend sind, ist zweifelhaft. Der Senat kann diese Frage jedoch offen lassen, denn die Erhebung der Einrede der Verjährung ist hier rechtsmissbräuchlich und damit ermessensfehlerhaft, weil sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt.

Die verspätete Antragstellung des Klägers beruht zur Überzeugung des Senats allein auf einem Verschulden der Beklagten, die es in pflichtwidriger Weise unterlassen hat, den Kläger darauf hinzuweisen, dass er ab Vollendung des 65. Lebensjahres die Regelaltersrente erhalten kann, wenn er dies beantragt. Die Beklagte hat diese Pflichtverletzung nicht mehr bestritten. Demgegenüber besteht kein zu berücksichtigendes Mitverschulden des Klägers, das es ausschließen könnte, die Erhebung der Verjährungseinrede als rechtsmissbräuchlich zu bewerten. Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, der Kläger habe aus dem noch vorhandenen Versicherungsverlauf aus dem Jahre 1987 seine Rechte erkennen können. Das Sozialgericht hat bereits darauf hingewiesen, dass nach einer Entscheidung des BSG vom 22. Oktober 1996 (NZS 1997 S. 327 ff = SozR 3-2600 § 115 Nr. 1) ein Zeitraum von über 6 Jahren zwischen der Erteilung des Hinweises und dem Eintritt des Leistungsfalles zu lang ist, um davon ausgehen zu können, das durch den Hinweis vermittelte Wissen sei noch aktuell. Im Fall des Klägers beträgt der Zeitraum sogar 7 ½ Jahre. Allein der Umstand, dass der Kläger noch im Besitz des Versicherungsverlaufs war, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Zum einen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Inhalt der Rentenauskunft dem Kläger über all die Jahre präsent war. Selbst die Beklagte hat nicht geltend gemacht, der Kläger habe in Kenntnis des Inhalts der damals erteilten Auskunft vorsätzlich oder grob fahrlässig den Rentenantrag zu spät gestellt. Zum anderen enthält die Auskunft den ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Prüfung auf der Grundlage des gegenwärtigen Kontostandes und der zur Zeit geltenden Rechtslage erfolgt ist. Mit Inkrafttreten des SGB VI zum 01. Januar 1992 haben sich aber erhebliche Änderungen der Rechtslage ergeben, insbesondere das zeitgebundene Antragserfordernis des § 99 SGB VI, auf die die Beklagte naturgemäß 1987 noch nicht hinweisen konnte.

Nach alledem verstößt die Erhebung der Einrede der Verjährung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und ist damit rechtsmissbräuchlich. Die Beklagte hat dem Kläger daher bereits ab 1. Mai 1995 die Altersrente zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Der Senat weicht insbesondere nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts ab.

Eine Abweichung von der Entscheidung des 9. Senats vom 14. Februar 2001, Az.: B 9 V 9/00 R, liegt nicht vor. Der 9. Senat hat selbst keine Abweichung seiner Entscheidung von der Rechtsprechung des 4. Senats, der der erkennende Senat folgt, gesehen, weil seinem Urteil ein anderer Sachverhalt zugrunde gelegen habe.

Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung, da eine klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht vorliegt. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass in dem bei dem 13. Senat des BSG anhängig gewesenen Rechtsstreit B 13 RJ 28/04 R, in dem die Vorinstanzen die Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X auf Fälle eines Herstellungsanspruchs verneint hatten, der beklagte Rentenversicherungsträger die von ihm eingelegte Berufung zurückgenommen hat, nachdem der zuständige 13. Senat auf die Grundsätze des BSG-Urteils vom 2. August 2000, Az.: B 4 RA 54/99, auf die der erkennende Senat maßgeblich abgestellt hat, hingewiesen hatte (so Pressemitteilung des BSG Nr. 21/05 vom 3. Mai 2005 zu B 13 RJ 28/04 R).

Hieraus folgt, dass mehrere Senate des BSG die streitige Rechtsfrage einheitlich, und zwar ebenso wie der erkennende Senat in dem hiesigen Rechtsstreit, beurteilt haben.
Rechtskraft
Aus
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