L 6 AL 63/05 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 54 AL 283/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 6 AL 63/05 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 21. August 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu Erstatten.

Gründe:

I.

Gegenstand des Rechtsstreites ist die Höhe des dem Kläger vom 31. Oktober 2002 bis zum 28. April 2003 gewährten Arbeitslosengeldes (Alg), insbesondere begehrt er die Berechnung des Alg "ohne Abzug von Kirchensteuer".

Der 1963 geborene, ledige und kinderlose Kläger ist anerkannter Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50. Antragsgemäß und nach Arbeitslosmeldung des Klägers vom 30. Oktober 2002 bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 13. November 2002 für 180 Kalendertage Alg beginnend am 31. Oktober 2002 i.H.v. 181,37 Euro wöchentlich bzw. 25,91 Euro täglich. Hierbei legte sie ein Bemessungsentgelt von wöchentlich 485,00 Euro zu Grunde und ermittelte daraus ein Leistungsentgelt von 302,23 Euro wöchentlich, indem sie - fiktiv - Lohnsteuer (73,65 Euro), Solidaritätszuschlag (4,05 Euro), Kirchensteuer (5,89 Euro) sowie Beiträge zur Krankenversicherung (32,89 Euro), Pflegeversicherung (4,12 Euro), Rentenversicherung (46,32 Euro) und Arbeitsförderung (15,76 Euro) zum Abzug brachte. Weiterhin legte sie die Leistungsgruppe A sowie den allgemeinen Leistungssatz der Berechnung zu Grunde. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er die Anrechnung von Kirchensteuer i.H.v. 5,89 Euro wöchentlich trotz seiner fehlenden Mitgliedschaft in einer Kirche rügte, wies sie durch Widerspruchsbescheid vom 17. September 2002 zurück. Mit Änderungsbescheid vom 17. Januar 2003 passte die Beklagte das Alg mit Wirkung ab 1. Januar 2003 nach Maßgabe der Leistungsentgeltverordnung 2003 bei unveränderten Berechnungsdaten an und stellte einen Zahlbetrag von 180,18 Euro wöchentlich bzw. 25,74 Euro täglich fest.

Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin hat der Kläger geltend gemacht, der als fiktiv bezeichnete Einbehalt von Kirchensteuer bei Arbeitnehmern bzw. Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören würden, verstoße gegen das Grundgesetz, insbesondere gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3 Abs. 1) und das Benachteiligungsverbot (Artikel 3 Abs. 3), die in Artikel 4 Abs. 1 garantierte Religionsfreiheit sowie die in Artikel 33 festgehaltene Neutralitätspflicht des Staates. Das Bundessozialgericht (BSG) habe bereits für das Jahr 1999 43 % Nicht-Kirchensteuerzahler festgestellt, seitdem dürfte die Zahl noch weiter angestiegen sein. Von einer deutlichen Mehrheit der Arbeitnehmer, die kirchensteuerpflichtig seien, könne daher nicht mehr ausgegangen werden. Hilfsweise müsse bei ihm der Schwerbehindertenfreibetrag im Steuerrecht berücksichtigt werden. Da er als Arbeitsloser keine Lohnsteuer bezahle, könne er sich den Steuerfreibetrag von immerhin 48,00 Euro monatlich nicht im Rahmen des Lohnsteuerjahresausgleiches vom Finanzamt zurückholen.

Das SG hat durch Gerichtsbescheid vom 21. August 2003, dem Kläger zugestellt am 22. Januar 2004, die Klage abgewiesen. Zu Recht habe die Beklagte entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen den so genannten Kirchensteuerhebesatz bei der Ermittlung des Leistungsentgeltes berücksichtigt. Ein Steuerfreibetrag für Schwerbehinderte sei bei Ermittlung des Leistungsentgeltes dagegen nicht zu berücksichtigen. Insoweit werde auf die Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 24. Juli 1997 -11 RAr 45/96- in SozR 3-4100 § 136 Nr. 7) verwiesen, der sich das Gericht anschließe. Nach § 136 Abs. 1 und 2 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) gehöre zu den gewöhnlich bei Arbeitnehmern anfallenden Entgeltabzügen u.a. Steuern. Gemäß Satz 2 Nr. 2 der Norm sei dabei für die Kirchensteuer die Steuer nach dem im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchensteuerhebesatz zu Grunde zu legen. Das um diese Entgeltabzüge verminderte Bemessungsentgelt sei das Leistungsentgelt und der Berechnung des Arbeitslosengeldes zu Grunde zu legen. Von einer Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften sei auch weiterhin nicht auszugehen. Bereits das Bundesverfassungsgericht habe im Jahr 1994 die zulässige Typisierung und Pauschalisierung für rechtens gehalten, solange davon auszugehen sei, dass die "überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer" Kirchensteuern zu zahlen habe und "deren Abzug nicht sehr stark ins Gewicht falle". In seinen aktuellen Entscheidungen sei das BSG für die Zeit bis 1999 noch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die "überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer keiner zur Erhebung von Kirchensteuern ermächtigten Kirchen mehr angehöre". Ebenso sei für den Bezugszeitraum ab dem 1. November 2000 nach einer Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Essen vom 2. Juli 2002 (L 12 AL 261/01) die Berücksichtigung des Kirchensteuerhebesatzes nicht zu beanstanden. So hätten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Erhebung von Kirchensteuer ermächtigter Kirchen nicht innerhalb eines Jahres grundlegend verändert. Da der Anteil der Arbeitnehmer, die Kirchensteuern zahlen, sich nur über die Lohn- und Einkommenssteuerstatistiken ermitteln lasse und diese in dreijährigem Turnus erstellt würden, seien keine eigenen Ermittlungen anzustellen. Für den Leistungszeitraum 2002 stünden derzeit keine aktuellen Zahlen zur Verfügung, so dass ohne weitere Ermittlung davon auszugehen sei, dass noch eine Mehrheit von kirchensteuerzahlenden Arbeitnehmern vorhanden sei.

Entsprechend der mit dem Gerichtsbescheid verbundenen Rechtsmittelbelehrung hat der Kläger am 20. Februar 2004 Berufung eingelegt und ausgeführt, mittlerweile habe die Bundesregierung auf Grund zahlreicher anhängiger Klagen reagiert und den verfassungswidrigen Kirchensteuerabzug bereits zum 1. Januar 2005 abgeschafft. Seit April 2004 sei beim Bundesverfassungsgericht unter dem Az. 1 BvR 952/04 eine Verfassungsbeschwerde anhängig um festzustellen, dass der bis zum 31. Dezember 2004 praktizierte Kirchensteuerabzug verfassungswidrig sei. Nach den Erhebungen des statistischen Bundesamtes seien nur noch 53 % der Bundesbürger Kirchenmitglieder. Daher könne von einer "überwiegenden Mehrheit" heutzutage keine Rede mehr sein.

Auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2005 hat der Senat durch Urteil vom selben Tage die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 500,00 Euro nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Zif. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG-) und das SG die Berufung in dem angefochtenen Gerichtsbescheid nicht zugelassen hatte. Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Senats vom 12. Januar 2005 hat der Kläger erfolglos Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt (Beschluss des BSG vom 22. Juni 2005 – B 11a AL 15/05 B).

Zwischenzeitlich hat der Kläger nach den in der Sitzungsniederschrift vom 12. Januar 2005 und dem Richterbrief vom 13. Januar 2005 erfolgten Hinweisen auf das zutreffende Rechtsmittel am Montag, dem 24. Januar 2005, beim Landessozialgericht Berlin Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des SG vom 21. August 2003 eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, entgegen den Darstellungen des SG und des BSG habe sich das BVerfG noch gar nicht zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Erhebung des fiktiven Kirchensteuersatzes geäußert. Das Verfahren vor dem SG leide an dem Mangel, dass ihm Prozesskostenhilfe verwehrt worden sei und er deshalb als rechtsunkundiger Bürger gegen die Folgebescheide der Beklagte weder Widerspruch noch Klage erhoben habe. Dies werde ihm nun über § 144 Abs. 1 Satz 1 Zif. 1 SGG zum Nachteil ausgelegt. Bei einem tatsächlichen Schwerbehinderten-Freibetrag von 600,00 Euro im Jahr müsse auch von einem höheren Streitwert als 500,00 Euro ausgegangen werden.

Der Beklagten ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakten der Beklagten (2 Bände, Kundennummer ...) Bezug genommen.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Berufung bedarf der Zulassung, weil sie weder wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG-), noch der Wert des Beschwerdegegenstandes 500,00 Euro übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Zif. 1 SGG), insoweit verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe seines rechtskräftigen Urteils vom 12. Januar 2005 (Seite 6 bis 9) sowie die hierzu erfolgten Ausführungen des BSG in dem Beschluss vom 22. Juni 2005 (B 11a AL 15/05 B) und sieht von einer weiteren Darstellung ab.

Die gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des SG am 24. Januar 2005 beim Landessozialgericht Berlin eingelegte Beschwerde ist auch zulässig (§ 145 Abs. 1 SGG). Zwar wurde sie nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung (hier am 22. Januar 2004) des vollständigen Gerichtsbescheides schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten eingelegt (§ 145 Abs. 1 Satz 2 SGG). Jedoch ist die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG gewahrt. Nach dieser Vorschrift beträgt die Frist zur Einlegung eines Rechtmittels oder anderen Rechtsbehelfs ein Jahr seit Zustellung, wenn eine Rechtsmittelbelehrung unterblieben oder unrichtig erteilt (wie hier im Gerichtsbescheid des SG vom 21. August 2003) ist. Die Jahresfrist begann am 23. Januar 2004 (§ 64 Abs. 1 SGG) und endete, da der 22. Januar 2005 ein Samstag war, erst mit Ablauf des 24. Januar 2005 (§ 64 Abs. 3 SGG).

Die Beschwerde ist aber nicht begründet, weil ein Berufungszulassungsgrund im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG nicht vorliegt. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Zif. 1 SGG), noch weicht das Urteil des SG von einer Entscheidung des LSG, des Bundessozialgerichts (BSG) oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes ab und beruht auf dieser Abweichung (§ 144 Abs. 2 Zif. 2 SGG), noch wird ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht, der vorliegt und auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 144 Abs. 2 Zif. 3 SGG).

Entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht ist im vorliegenden Fall eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht erkennbar. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie bisher nicht geklärte, aber klärungsbedürftige und -fähige Rechtsfragen aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt (Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 144 Rz. 28). Die vom Kläger angesprochene Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Berücksichtigung der Kirchensteuer bzw. der Nichtberücksichtigung eines Steuerfreibetrages für Schwerbehinderte bei der Bemessung von Alg bzw. Alhi ist jedoch höchstrichterlich geklärt. Insoweit verweist der Senat auf die bereits vom SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid zitierte Rechtsprechung des BSG, den im vorliegenden Rechtsstreit ergangenen Beschluss des BSG vom 22. Juni 2005 (B 11a AL 15/05 B) sowie den Beschluss des BVerfG vom 15. April 2005 (1 BvR 952/04) und sieht von einer weiteren Darstellung ab. Demzufolge ist auch nicht erkennbar, dass der Gerichtsbescheid des SG von einer Entscheidung des LSG, des BSG oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht.

Schließlich liegt auch der Berufungszulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Zif. 3 SGG nicht vor, da der Kläger keine Verfahrensmängel geltend macht, die vorliegen und auf denen der Gerichtsbescheid beruhen kann. Ein Verfahrensmangel liegt nur vor bei einem Verstoß des erstinstanzlichen Gerichts gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. Der Mangel bezieht sich nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils. Es geht insoweit nicht um die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung, sondern um das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 144 Rz. 32). Ein Verfahrensmangel verpflichtet nur dann zur Zulassung der Berufung, wenn er gerügt ("geltend gemacht") wird. Dafür genügt es, wenn Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, aus denen sich der Mangel des Verfahrens ergibt. Die ausdrückliche Bezeichnung der Norm ist aber nicht erforderlich (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 144 Rz. 36a).

Soweit der Kläger anführt, das SG hätte ihm als rechtsunkundigen Bürger zur Vermeidung weiterer prozessualer Nachteile bzgl. der Folgebescheide Prozesskostenhilfe oder zumindest Beratungshilfe gewähren müssen, ist ein Verfahrensmangel nicht ersichtlich. Denn ausweislich der Gerichtsakte hat der prozesserfahrene Kläger den nach §§ 73a SGG, 114 Zivilprozessordnung (bzw. § 4 Beratungshilfegesetz) erforderlichen Antrag nicht gestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar.

Der Gerichtsbescheid des SG ist damit rechtskräftig (§145 Abs. 4 Satz 4 SGG).
Rechtskraft
Aus
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