L 13 R 551/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 R 544/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 13 R 551/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 6. Juli 2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beklagten streitig, den Bescheid vom 01.04.1996 über die Regelaltersrente des 1925 geborenen Klägers teilweise aufzuheben und Leistungen bereits ab Vollendung des 65. Lebensjahres zu erbringen.

Der Kläger stellte am 14.09.1995 durch seine damalige und jetzige Bevollmächtigte einen entsprechenden Antrag. Seine Daten waren bis dahin im Versichertenbestand der deutschen Rentenversicherung weder elektronisch gespeichert noch war eine Versicherungskarte ausgestellt.

Mit Bescheid vom 01.04.1996 zahlte die Beklagte dem Kläger ab Beginn des Antragsmonats Regelaltersrente mit einem Zugangsfaktor von 1,285. Der Anwartschaft lagen unter anderem 46 Monate Pflichtbeiträge, 28 Monate militärischen Dienstes und 24 Monate Pflichtbeiträge für Kindererziehung zu Grunde.

Am 08.04.2003 stellte der Kläger unter Berufung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 09.04.2002 (Az.: B 4 RA 58/01 R) den Antrag, ihm rückwirkend ab 01.12.1990 bis zum 31.08.1995 Regelaltersrente zu zahlen, den die Beklagte mit Be-scheid vom 29.07.2003/Widerspruchsbescheid vom 29.09.2003 ablehnte. Die zitierte Rechtsprechung treffe nicht zu. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nach § 115 Abs. 6 SGB VI bestehe nicht, da die Beklagte bis zur Rentenantragstellung die Daten dieses Versicherungsverhältnisses nicht erfasst gehabt habe.

Mit seiner dagegen zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben Klage hat der Kläger behauptet, dass nach einem weiteren Urteil des BSG vom 06.03.2003 (Az.: B 4 RA 38/02 R) ein Rechtsanspruch auf Altersrente bei Vollendung des 65. Lebensjahres entstehe, ohne es dass es eines Antrags bedürfe. Daher sei die Leistung rückwirkend ab Dezember 1990 zu erbringen.

Durch Urteil vom 06.07.2005 hat das SG die Klage abgewiesen. Es komme nicht auf die behaupteten Rücknahme- bzw. Herstellungsansprüche an, da nach § 44 Abs. 4 SGB X eine Rückabwicklung längstens für vier Jahre ab dem Überprüfungsantrag - ab 01.05.1999 - erfolgen könne. Der Kläger habe aber bereits viel länger, seit 01.09.1995 Regelaltersrente bezogen.

Hiergegen hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zu Unrecht verweigere sich die Beklagte einer höchstrichterlichen Rechtsprechung. Es sei ihr auch zuzumuten gewesen, ihr Versicherungskartenarchiv rechtzeitig zu überprüfen, und damit den Kläger auf die Rentenantragstellung mit Vollendung des 65. Lebensjahres hinzuweisen. § 44 Abs. 4 SGB X sei nicht anwendbar.

Der Kläger stellt den Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 06.07.2005 sowie des Bescheides vom 29.07.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2003 zu verpflichten, den Bescheid vom 01.04.1996 aufzuheben und zu sie verurteilen, ihm Regelaltersrente bereits ab 01.12.1990 zu zahlen.

Die Beklagte stellt den Antrag, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Akten beider Instanzen und der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist auch ansonsten zulässig, aber in der Sache unbegründet.

Insbesondere kommt ihr zur Zeit noch ein Rechtsschutzbedürfnis zu. Nach der Behauptung des Klägers, dass ihm ein Zahlungsanspruch ab 01.12.1990 zustehe, ergebe sich trotz Revision seines erhöhten Zugangsfaktors noch fast bis zur Vollendung seines 87. Lebensjahres ein wirtschaftlich günstigeres Ergebnis. Der Kläger erhält zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats seit 10 Jahren und 3 Monaten (insgesamt 123 Monate) monatlich eine um 0,285 Prozent höhere Rente, als sonst ab Vollendung des 65. Lebensjahres. Das aus Sicht des Klägers entstandene Zahlungsdefizit ist erst in 77 Monaten (6,4 Jahre) weiterer Rentenzahlung kompensiert.

Die Beklagte ist aber nicht zu verpflichten, den Bescheid vom 01.04.1996 aufzuheben. Der Bescheid vom 01.04.1996 bleibt bindend wirksam.

Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird (§ 39 Abs. 1 SGB X). Er bleibt ist, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (§ 39 Abs. 2 SGB X). Lediglich ein nichtiger Verwaltungsakt ist perse unwirksam (§ 39 Abs. 3 SGB X), was auf Antrag festzustellen ist (§ 55 SGG). Dafür liegen aber, wie später noch ausgeführt wird, keine Anhaltspunkte vor.

Die gesetzlichen Voraussetzungen der einzigen, tatbestandlich in Betracht kommenden Durchbrechung der Bindungswirkung, § 44 Abs. 1 SGB X (Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts), liegen nicht vor. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Die Frage, inwieweit bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt worden ist, beurteilt sich nach dem bei Erlass des Verwaltungsakts anwendbaren Recht. Dieses ergab sich zum Zeitpunkt des erstmaligen Rentenbescheids vom 01.04.1996 noch aus den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (§ 1248 RVO). Ein Antragseinwand im Sinne von § 99 SGB VI war nicht zulässig. Denn der Anspruch auf Regelaltersrente war bereits bei Vorliegen aller seiner Voraussetzungen (Vollendung des 65. Lebensjahres und allgemeine Wartezeit) ab 01.12.1990 entstanden. Stammrechte auf Rente wegen Alters und Einzelansprüche hieraus entstehen als eigentumsgrundrechtlich geschützte Rechte kraft Gesetzes, ohne dass es hierfür oder für die Fälligkeit der Einzelansprüche auf einen Antrag oder eine Verwaltungsentscheidung ankommt (vgl. BSG SozR Nr. 55 zu § 1248 RVO; BSGE 61, 108; SozR 3-2600 § 315 Nr. 1, BSG Urteil vom 02.08.2000, Az.: B 4 RA 54/99 R).

Die unrichtige Rechtsanwendung durch die Beklagte begründet aber noch keinen Rücknahmeanspruch. Denn dieser ist nur gegeben, wenn auch die weitere Voraussetzung erfüllt ist, dass deswegen Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Diese Frage beantwortet sich nach der materiellen Rechtslage, wie sie sich für den Rentenanspruch des Klägers zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Überprüfungsentscheidung ergibt (BSGE 57, 209, 210, BSGE 78, 109, 113, Urteil des BSG vom 21.06.2005, Az.: B 8 KN 9/04 R zum Fall nachträglicher Änderung der Rechtslage durch den Gesetzgeber). Insoweit gilt für den mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage verfolgten Anspruch auf Erlass eines Zugunstenbescheids nach § 44 SGB X nichts anderes als sonst für eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, bei der der maßgebliche Zeitpunkt für die Frage, nach welchem Recht die Begründetheit des Anspruchs zu prüfen ist, grundsätzlich der der mündlichen Verhandlung ist und daher Änderungen, die nach Erlass der angefochtenen Entscheidung eintreten, zu beachten sind. Das ist hier der Fall, da die beantragte Rente für den möglichen Rückwirkungszeitraum von vier Jahren i.S.v. § 44 Abs. 4 SGB X bereits geleistet wurde.

Es wird zurecht die Ansicht vertreten, dass dann wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt in den letzten vier Jahren vor dem Überprüfungsantrag keine Wirkung gezeitigt hat, die durch eine Aufhebung beseitigt werden könnte, die Verwaltung die Rechtswidrigkeit gar nicht erst zu prüfen braucht (vgl. Kommentar zum SGB X von Wulffen, Rndnr. 19 zu § 44 SGB X m.w.N., z.B. BSGE 68, 180).

Nach § 44 Abs 4 Satz 1 und 2 SGB X werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen und durch einen Zugunsten-bescheid ersetzt wird, längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rück-nahme erbracht. Für die Berechnung des Zeitraumes tritt nach Satz 3 an die Stelle des Rücknahmeaktes ein Antrag, falls er zur Rücknahme führte. Diese Vollzugsregelung (BSGE 61, 154, 156), die zwingend anzuwenden ist (BSGE 60, 158, 160), steht für die länger als vier Jahre zurückliegende Zeit, für die keine Leistungen mehr erbracht werden dürfen, einem Rücknahme- und einem Ersetzungsakt entgegen. Sie ist auf die Rücknahmeregelung bezogen, die voraussetzt, dass infolge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht wurden (BSGE 62, 10, 13 = SozR 2200 § 1254 Nr. 7). Ein derart zu vollziehender Verwaltungsakt ist nicht mehr zu erlassen, wenn er nicht ausgeführt werden darf. Er wäre wirkungslos. Von der Verwaltung darf keine unnötige, überflüssige Tätigkeit verlangt werden, die hier auch die - mitunter recht schwierige und aufwendige - Prüfung auf eine Unrichtigkeit einbezöge. Ein Antragsteller, der über § 44 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten darf, hat kein rechtliches Interesse an der Rücknahme und der zusprechenden Entscheidung, die nach Abs. 4 nicht vollzogen werden dürfen.

Dieser Fall ist vorliegend gegeben. Es liegt, wie das SG völlig zu Recht anführt, die Ablehnung eines Überprüfungsantrages gemäß § 44 SGB X vor mit der Folge, dass § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X zur Anwendung kommt. Dies bedeutet, dass der Kläger gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X eine Regelaltersrente nur bis zu vier Jahren zurückliegend ab Beginn des Jahres des Überprüfungsantrages (insoweit rechnet das SG allerdings zu Unrecht nur 48 Kalendermonate zurück) im Jahr 2003 beanspruchen könnte, also ab 01.01.1999.

Eine Nichtigkeit wohnt dem Verwaltungsakt vom 01.04.1996 jedenfalls nicht inne, so dass ein Feststellungsanspruch gegeben wäre. Er war nicht evident unrichtig, wie schon die sich erst später entwickelte höchstrichterliche Rechtsprechung zeigt. Da-nach ist erst im August 2000 - weit nach Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes 1992 - festgestellt worden, dass der Antragseinwand des § 99 Abs. 1 SGB VI nicht für Rentenansprüche gelte, die vor dem 01.01.1992 entstanden sind (BSG Entscheidung vom 02.08.2000, B 4 RA 54/99).

In den Genuss dieser von der Bevollmächtigten zitierten Rechtsprechung wäre der Kläger nur gekommen, wenn er den Bescheid vom 01.04.1996 rechtzeitig angefochten hätte. Denn damit hat die Beklagte, wenn auch rechtswidrig, das Rechtsverhältnis zum Kläger wirksam gestaltet. Sie hat das 1996 geltende Recht angewandt, nach dem einerseits der Antragseinwand und andererseits der erhöhte Zugangsfaktor, Anwendung fanden. Damit ist die Situation des Klägers nicht mehr vergleichbar mit einem jetzt erstmals geltendgemachten Anspruch, der kraft Gesetzes im Jahre 1990 entstanden ist (§§ 31, 38, 40 SGB I) und dem nur die Einrede der Verjährung (§ 45 SGB I) entgegengehalten werden könnte, was seitens der Beklagten bislang nicht geschah und im Übrigen der Ermessensausübung bedürfte.

Die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kommt nicht in Betracht. § 44 SGB ist eine vorrangige gesetzlich geregelte Fallgestaltung zur Beseitigung von Verwaltungsunrecht. Das gleiche gilt für § 115 SGB VI (BSG Urteile vom 20.10.1998, Az.: 5 RJ 56/97 R, und 01.09.1999, Az.: 13 RJ 73/98 R), zudem mit der Maßgabe, dass diese Vorschrift im Jahre 1990 noch nicht existierte und somit wiederum auf den sozialrechtlichen Her-stellungsanspruch hätte zurückgriffen werden müssen. Darüber hinaus ist derzeit auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte gegen Hinweisobliegenheiten aus den "Gemeinsamen Richtlinien der Rentenversicherungsträger gemäß § 115 Abs. 6 Satz 2 SGB VI" (abgedruckt in DAngVers 1998, 449) verstoßen haben könnte, die (im Wesentlichen) mit Wirkung zum 01.07.1998 in Kraft getreten sind. Zudem setzt die Hinweispflicht des § 115 Abs. 6 SGB VI als Sonderfall der so genannten Spontanberatung voraus, dass der Versicherte im Datenbestand des Rentenversicherungsträgers gespeichert ist (BSG 13. Senat, Urteil vom 14.11.2002, Az.: B 13 RJ 39/01 R), was beim Kläger bis zur Antragstellung 1995 nicht der Fall war.

Für die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs muss im übrigen die Kausalität bezweifelt werden. Der Kläger war damals von der gleichen Bevollmächtigten wie jetzt vertreten. Nachdem diese damals keinen Rechtsbehelf ergriffen hatte, war anzunehmen dass der Kläger die Vorteile des erhöhten Zugangsfaktors bevorzugt hatte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger hat den Prozess verloren. Ihm sind daher von der Beklagten keine Kosten zu erstatten.

Gründe zur Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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