L 4 RA 38/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 11 RA 2982/98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 RA 38/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juli 2001 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung einer Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit.

Die 1968 geborene Klägerin unterzog sich in der DDR seit dem 1. September 1984 einer Ausbildung zur "Kleidungsfacharbeiterin”, die sie im Februar 1986 mit der "Facharbeiterprüfung” abschloss. Bis Ende 1986 war sie in ihrem Ausbildungsbetrieb VEB T als Stepperin beschäftigt. Diese Tätigkeit musste sie aufgrund einer Stoffallergie aufgeben. Von Januar 1987 bis Oktober 1991 arbeitete sie in demselben Betrieb als technische Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiterin in der zentralen Werbeabteilung. Von November 1991 bis Oktober 1992 bildete die Klägerin sich zur kaufmännischen Assistentin bei dem Bildungsträger Bin Berlin fort. Von November 1992 bis Juni 1993 war sie als Sekretärin bei einer Finanzberatung tätig. Von August 1993 bis Februar 1998 war die Klägerin als Sachbearbeiterin und Sekretärin in einer Fahrschule beschäftigt. Zu ihren Aufgaben gehörten die allgemeine Verwaltung, Sekretariatsarbeiten, Kundenbetreuung sowie Werbung.

Am 23. August 1996 erlitt die Klägerin einen Motorradunfall. Bei der Fahrschulausbildung fuhr sie mit dem Motorrad gegen eine Bordsteinkante, stürzte und wurde gegen einen Baum geschleudert. Dabei erlitt sie u.a. eine Radiusfraktur am linken Unterarm. Danach war die Klägerin arbeitsunfähig. Seit dem 12. Oktober 1996 bezog sie Krankengeld.

Am 26. Januar 1998 beantragte die Klägerin die Bewilligung einer Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte stellte das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen fest und veranlasste eine medizinische Begutachtung durch den Arzt für Chirurgie Dr. Dr. H. In seinem am 26. Februar 1998 abgeschlossenen Gutachten diagnostizierte dieser bei der Klägerin eine verheilte distale Unterarmfraktur links mit Bewegungseinschränkung, Kraftminderung und leichter Funktionseinschränkung der linken Hand. Die Klägerin habe Probleme, den zuletzt ausgeübten Beruf der Sekretärin weiter vollschichtig zu übernehmen, weil die Fingerfertigkeit reduziert sei. Es sei jedoch davon auszugehen, dass durch weitere intensive Reha-Maßnahmen noch eine Besserung erzielt werde, die in etwa einem Jahr nur noch sehr geringe Restbeschwerden zurücklassen dürften. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei die Klägerin in der Lage, mit geringen Einschränkungen etwa typische Frauenarbeiten vollschichtig zu übernehmen. In ihrer letzten beruflichen Tätigkeit als Sekretärin könne sie zwei Stunden bis unterhalbschichtig arbeiten. Leichte körperliche Arbeit mit geringen Einschränkungen im Bereich der linken Hand könne sie aber vollschichtig ausüben.

Mit Bescheid vom 26. März 1998 lehnte die Beklagte daraufhin den Rentenantrag der Klägerin ab. Mit der gegebenen Diagnose sei sie noch in der Lage, in ihrem bisherigen Berufsbereich vollschichtig tätig zu sein. Darüber hinaus bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes.

Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch bestritt die Klägerin, dass die Restbeschwerden durch eine zielgerichtete Behandlung besserungsfähig seien. Sie sei nicht mehr fähig, in ihrem Beruf als Sekretärin zu arbeiten. Für eine Tätigkeit an der Schreibmaschine bzw. am Computer sei sie nicht mehr ausreichend belastbar. Hierfür bezog sie sich auf ein sozialmedizinisches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin, das der Arzt für Chirurgie W am 7. November 1997 erstellt hatte (GA Bl. 5). Dieser hatte erklärt, dass die Klägerin für ihre Tätigkeit als Sekretärin auf Dauer arbeitsunfähig sei. Es liege ein Beharrungszustand vor, bei dem durch die Verlängerung des Krankenstandes an der Situation nichts wesentlich zu verbessern sei. Eine berufliche Rehabilitation sei angeraten.

Mit Bescheid vom 3. Juli 1998 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Eine Minderung der Leistungsfähigkeit, die einen Rentenanspruch begründen würde, liege nicht vor. Nach den im Rentenverfahren getroffenen medizinischen Feststellungen sei die Klägerin noch in der Lage, in dem bisherigen Beruf als Sekretärin vollschichtig tätig zu sein. Die aus dem Unterarmbruch links resultierenden Folgen seien durch ein chirurgisches Fachgutachten abgeklärt und die verbliebenen Funktionsstörungen sozialmedizinisch schlüssig beurteilt worden. Aus der Widerspruchsbegründung ergebe sich keine neue medizinische Beurteilung.

Mit der am 13. Juli 1998 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Ihre aus dem Motorradunfall resultierenden Restbeschwerden seien nicht durch eine zielgerichtete Behandlung besserungsfähig. Es bestehe nach wie vor eine erhebliche Funktionseinschränkung der linken Hand. Der Arm sei nicht richtig beweglich. In ihrem bisherigen Beruf als Sekretärin könne sie nicht weiter arbeiten. Eine vom Arbeitsamt geförderte Berufsfindungs- und Arbeitserprobungsmaßnahme im Berufsförderungswerk Brandenburg vom 26. Mai bis 4. Juni 1998 habe sie – was unstreitig ist – bereits nach wenigen Tagen aufgrund erheblicher Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich abbrechen müssen.

Während des Klageverfahrens sind im Wesentlichen folgende medizinischen Unterlagen zur Gerichtsakte gelangt: Sozialmedizinisches Gutachten des Arztes für Chirurgie W für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin e.V. vom 7. November 1997; Gutachten der C-Kliniken , Stationsärztin Dr. H, für die private Unfallversicherung der Klägerin vom 30. Dezember 1997; Befundbericht der die Klägerin behandelnden Ärztin für Chirurgie K vom 26. Oktober 1998; arbeitsamtsärztliches Gutachten, Ärztin für Innere Medizin Dr. K, vom 25. Februar 1998; außerdem eine Auskunft des letzten Arbeitgebers der Klägerin - E Fahrschule - vom 11. Juni 1999; wegen des Inhalts der genannten Unterlagen wird jeweils auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Im Auftrage des Sozialgerichts hat Dr. Kam 19. Januar 2001 ein orthopädisches Fachgutachten über die Klägerin erstellt. Dabei wurden folgende Leiden diagnostiziert:

1. Rezidivierende Cephalgien, 2. ein Halswirbelsäulensyndrom im Sinne von rezidivierenden Hinterkopf-Nacken-Schulterverspannungen und Brachialgien links, 3. eine Arthralgie im Bereich des linken Schultergelenkes ohne Funktionseinschränkung, auch als Periarthritis humero scapularis (PHS) zu bezeichnen, 4. eine Sehnenansatzentzündung im Bereich des linken Ellenbogen- gelenkes, als Tennis- bzw. Golfellenbogen zu bezeichnen, 5. eine deutliche Funktionseinschränkung der Funktion des linken Handgelenkes nach Trümmerbruch 8/96 - rekonstruiert mittels Fixateur extern, 6. ein Brustwirbelsäulensyndrom im Sinne von Dorsalgien, 7. ein LWS-Syndrom im Sinne von auftretenden Lumbalgien auf dem Boden einer Fehlstatik sowie 8. eine unkomplizierte Fußfehlform beidseits im Sinne eines diskreten Senk-Spreizfußes, Hammerzehen beidseits.

Damit könne die Klägerin, ohne auf Kosten ihrer Gesundheit zu arbeiten, täglich regelmäßig noch körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten, auch im Freien unter klimatischen Einflüssen, ausüben. Eine wechselnde Körperhaltung sei wünschenswert, wobei der Wechsel zwischen allen drei Haltungsarten sinnvoll erscheine. Einseitige körperliche Belastung, Arbeiten unter Zeitdruck, Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten in festgelegtem Arbeitsrhythmus sowie Arbeiten an laufenden Maschinen seien vom Arbeitsablauf hinsichtlich der Wirbelsäulenveränderungen noch eingeschränkt zumutbar. Sie seien aber aufgrund der Behinderungen durch die Veränderungen an der linken Hand nicht mehr denkbar. Heben und Tragen von Lasten sei rechts zwischen 5 bis 10 kg möglich. Die Belastungsfähigkeit der linken Hand sei eingeschränkt, hier würden noch 2,5 kg für zumutbar gehalten. Arbeiten, die die Fingergeschicklichkeit sowie den kraftvollen Einsatz der linken Hand voraussetzten, seien nicht mehr möglich. Arbeiten überwiegend oder teilweise am Computer seien aufgrund der Behinderungen durch die Veränderungen an der linken Hand nicht mehr möglich. Das verbliebene Leistungsvermögen der Klägerin reiche noch für die volle übliche Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag aus. Das Leistungsvermögen im erlernten Beruf als Sekretärin sei auf Dauer als aufgehoben zu beurteilen und werde auch nicht wieder herzustellen sein. Wegen der weiteren Einzelheiten dieses Gutachtens wird auf Blatt 130 bis 157 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Die Klägerin hat hierzu erklärt, sie halte die Ausführungen und Schlussfolgerungen in dem Gutachten für nicht nachvollziehbar. Ihr sei nicht ersichtlich, welche Tätigkeiten sie in der Zukunft noch ohne Gesundheitsbeeinträchtigung werde ausüben können.

Die Beklagte hat erklärt, in der Gesamtschau aller Befunde müsse eine Leistungsminderung für die Tätigkeit als Sekretärin anerkannt werden. Entsprechende Funktionseinschränkungen lägen vor. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könnten jedoch unter Beachtung der qualitativen Einschränkungen noch weiterhin vollschichtig gefordert werden. Die Klägerin sei verweisbar auf die Tätigkeit einer Mitarbeiterin am Empfang oder an Informationsstellen nach der Vergütungsgruppe 8 BAT in öffentlichen Verwaltungen oder vergleichbaren Institutionen. Hierfür hat die Beklagte Bezug genommen auf das Urteil des schleswig-holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. April 1997 (L 3 An 58/96), das sich bei der Gerichtsakte befindet.

Mit Urteil vom 20. Juli 2001 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung, wegen deren Einzelheiten auf die Gerichtsakte Bezug genommen wird, im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei weder berufs- noch erwerbsunfähig. Sie sei als Angestellte mit einer längeren als zweijährigen Ausbildung anzusehen. Sie habe eine Berufsausbildung als Schneiderin durchlaufen, diesen Beruf zwar nur kurze Zeit ausgeübt und anschließend überwiegend als Sekretärin gearbeitet, den Schneiderberuf habe sie jedoch aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Für die Beurteilung des bisherigen Berufes sei daher an das Schneiderhandwerk anzuknüpfen. Ob sie aufgrund ihrer Berufserfahrung und der kaufmännischen Zusatzqualifikation auch im zuletzt ausgeübten Beruf einer Sekretärin als Angestellte mit einer regelmäßig dreijährigen Ausbildung einzuordnen wäre, könne daher offen bleiben. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit einer Sekretärin in einer Fahrschule komme nicht als zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht. Das Leistungsvermögen der Klägerin reiche für diese Tätigkeit nicht mehr aus. Der Sachverständige Dr. E habe nämlich ausgeführt, es bestehe ein aufgehobenes Leistungsvermögen für den Beruf der Sekretärin wegen der Behinderungen der linken Hand, insbesondere die Einschränkung der Umwendbewegung des linken Handgelenkes. Daher könne die Klägerin nicht mehr am Computer tätig sein, was sie aber ohne Zweifel in einer Fahrschule sein müsse. Berufsunfähigkeit liege jedoch deshalb nicht vor, weil die Klägerin noch in der Lage sei, die von der Beklagten benannten und nach der Vergütungsgruppe 8 BAT bezahlten Tätigkeiten am Empfang oder an Informationsstellen in öffentlichen Verwaltungen oder vergleichbaren Institutionen auszuüben. Tätigkeiten mit dieser Bezahlung seien Versicherten, die der Gruppe der Angestellten mit einer längeren als zweijährigen Ausbildung zuzuordnen seien, regelmäßig zumutbar. Von ihrem medizinischen Leistungsvermögen her sei die Klägerin ohne Weiteres in der Lage, eine solche Tätigkeit auszuüben. Insbesondere handele es sich um Tätigkeiten, die in wechselnder Körperhaltung und ohne besondere Belastung des linken Armes und der Einschränkung der Feinmotorik der linken Hand ausgeübt werden könnten.

Gegen das ihr am 2. Oktober 2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24. Oktober 2001 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgebracht: Sie sei nicht in der Lage, die vom Sozialgericht angeführte Verweisungstätigkeit vollschichtig auszuüben. Sie sei nach wie vor krankgeschrieben und nicht in der Lage, irgendeine Erwerbstätigkeit zu verrichten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juli 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. März 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab dem 5. Juni 1998 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Das Gericht hat zunächst einen Befundbericht der die Klägerin behandelnden Fachärztin für Physiotherapie und Sportmedizin Dr. Hvom 11. April 2002 eingeholt, wegen dessen Inhalt auf Blatt 204 der Gerichtsakte Bezug genommen wird. Außerdem hat das Gericht den Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie sowie Sportmedizin Dr. Sauf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG mit der Erstellung eines unfallchirurgischen Fachgutachtens beauftragt, welches dieser am 14. Juni 2004 erstattet hat. Zu den Diagnosen hat der Gutachter wörtlich angeführt:

"1. Rezidivierender Spannungskopfschmerz bei HWS-Syndrom aufgrund fortgeschrittener degenerativer Bandscheibenveränderungen mit Einengung der Nervenaustrittsöffnungen im Bereich der unteren Halswirbelsäule; 2. Periarthritis humeroscapularis links; 3. eine in leichter Fehlstellung und Einstauchung knöchern konsolidierte distale Radiustrümmerfraktur links mit kleinem psyeudoarthrotisch verheilten Abbruch des Processus styloideus ulnae. Daraus folgend besteht eine bleibende Bewegungseinschränkung und Minderung der Belastungsfähigkeit der linken Hand und des linken Unterarmes und eine Minderung der groben Kraft der linken Hand um ca. ½; 4. Skoliotische Fehlhaltung der BWS, LWS bei Zustand nach Morbus Scheuermann und chronischem LWS-Syndrom bei Hyperlordose der LWS. Die gesamten degenerativen Veränderungen des Achsen- skelettes bedingen eine leichte bis mittelgradige Bewegungs- und Belastungseinschränkung der gesamten Wirbelsäule; 5. Leichte Fehlform beider Füße im Sinne von Senk-Spreizfüßen und beginnender Hammerzehenbildung beidseits; 6. Aktenkundig darüber hinaus ist noch eine bisher offensichtlich nicht therapiebedürftige Ausbildung eines Nierenbeckenkelchsteines links und eine bekannte Hypotonieneigung.”

Unter Beachtung bestimmter im Einzelnen aufgeführter qualitativer Leistungseinschränkungen könne die Klägerin damit noch Arbeiten leichter Natur verrichten. Sie könne nur noch solche Arbeiten verrichten, bei denen sie im eigenen Gutdünken ihre Körperhaltung selbst zu jeder Zeit bestimmen könne. Das Verharren in irgendeiner Körperhaltung, gleich welcher Art, sei aus medizinischer Sicht für mindestens eine halbe, wenn nicht bis zu einer Stunde möglich. Die Belastungsfähigkeit der linken Hand sei eingeschränkt; eine Belastung von 2 bis 3 kg werde für möglich erachtet. Mit den genannten Einschränkungen sei die Klägerin in der Lage, für die volle übliche Arbeitszeit vollschichtig acht Stunden täglich mit den betriebsüblichen Pausen ihre Arbeit zu verrichten.

Nachdem die Klägerin sich darüber beschwert hatte, dass der Gutachter Dr. S entgegen vorheriger Absprache keine Computertomographie vorgenommen hatte, hat der Gutachter in einer ergänzenden Stellungnahme vom 18. Oktober 2004 erklärt: Eine solche äußerst kostenintensive Zusatzuntersuchung sei bei der Klägerin nicht indiziert gewesen, weil sämtliche vorgetragenen Beschwerden und Leistungsminderungen mit Leichtigkeit hinreichend durch die aktenkundigen bzw. durch ihn erhobenen klinischen und radiologischen Befunde erklärlich seien. Eine kernspintomographische Untersuchung des linken Handgelenkes, des linken Schultergelenkes bzw. der gesamten Wirbelsäule hätte keine zusätzlichen Informationen über die Leistungsfähigkeit der Klägerin erbracht. Es liege in der Natur der festgestellten Gesundheitsstörungen, dass es zu wechselnden belastungs- und witterungsabhängigen Beschwerdebildern komme, die sicher auch in Zukunft behandlungsbedürftig seien.

Die Beklagte sieht die Berufung nach dem Gutachten des Dr. S als abweisungsreif. Gesundheitlich sei die Klägerin durchaus noch in der Lage, mit den vorhandenen kaufmännischen Kenntnissen und Fähigkeiten die Tätigkeit einer Mitarbeiterin am Empfang oder an Informationsstellen auszuüben. Es handele sich hierbei um Tätigkeiten der oberen Anlernebene nach der Vergütungsgruppe 8 BAT in öffentlichen Verwaltungen oder Institutionen. Die Belastung beispielsweise durch Schreibarbeiten sei im Verhältnis zu einer klassischen Bürotätigkeit wesentlich geringer. Auch der empfohlene Wechsel der Körperhaltung sei selbstbestimmt möglich. In diesem Zusammenhang hat die Beklagte ein berufskundliches Gutachten des Leiters des Arbeitsamtes D L vom 10. November 2003 zu den Akten gereicht, welches dieser im Rechtsstreit L 1 RA 142/03 für das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen angefertigt hat. Wegen des Inhalts dieses Gutachtens wird auf Blatt 264 bis 272 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte (2 Bände) sowie der Rentenakte der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie ist jedoch unbegründet, denn die erstinstanzliche Entscheidung beurteilt die Sach- und Rechtslage im Ergebnis zutreffend. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Sie ist zwar gesundheitlich nicht mehr in der Lage, in ihrem bisherigen Beruf tätig zu sein, kann aber zumutbar auf die Tätigkeit einer Mitarbeiterin am Empfang oder an Informationsstellen verwiesen werden.

Nach § 43 Abs. 1 bzw. § 44 Abs. 1 SGB VI in der hier gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI noch anzuwendenden, bis 31. Dezember 2000 geltenden alten Fassung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit, wenn sie berufs- bzw. erwerbsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Die letztgenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit hat die Klägerin erfüllt.

Die Klägerin ist jedoch nicht berufsunfähig im gesetzlichen Sinne. Berufsunfähig sind nach § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Ausgangspunkt für die Beurteilung von Berufsunfähigkeit ist danach der "bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat (ständ. Rspr., vgl. nur BSG, Urteil vom 24. März 1983, 1 RA 15/82, SozR 2200 § 1246 Nr. 107). In der Regel ist dies die letzte nicht nur vorübergehende versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit.

Als "bisheriger Beruf” in diesem Sinne kommt nur die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Sachbearbeiterin bzw. Sekretärin in einer Fahrschule in Betracht. Die erlernte und nur kurz – einschließlich der Ausbildung von September 1984 bis Dezember 1986 – ausgeübteTätigkeit als "Kleidungsfacharbeiterin” muss unberücksichtigt bleiben. Eine berufliche Stellung verdient nämlich keine Beachtung, wenn der Versicherte die für den geltend gemachten Anspruch erforderliche Versicherungszeit noch nicht zurückgelegt hatte, als er die betreffende Berufstätigkeit, freiwillig oder erzwungenermaßen, aufgab (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 1984, 11 RA 72/83, SozR 2200 § 1246 Nr. 126; Niesel in Kasseler Kommentar, Stand Juni 1998, Rdnr. 28 zu § 43).

Den Beruf einer Sachbearbeiterin bzw. Sekretärin in einer Fahrschule kann die Klägerin zur Überzeugung des Senats aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben, was mittlerweile auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist und deshalb keiner besonderen Vertiefung bedarf. Diese Tätigkeit kommt nicht mehr in Betracht, weil die Bewegungs- und Belastungsfähigkeit der linken Hand und des linken Unterarmes aufgrund der erlittenen Radiustrümmerfraktur erheblich eingeschränkt und daher eine anhaltende Tätigkeit am Computer gesundheitlich nicht mehr zumutbar ist. Der Gutachter Dr. S hat in diesem Zusammenhang insbesondere ausgeführt, dass die Klägerin keine Arbeiten ausführen kann, die eine beidhändige Fingergeschicklichkeit und eine uneingeschränkte Belastbarkeit der Arme und Hände voraussetzen, was dem Senat angesichts des Beschwerdebildes auch nachvollziehbar erscheint. Nicht nur insoweit befindet sich der Gutachter Dr. S in Übereinstimmung mit dem vom Sozialgericht beauftragten Gutachter Dr. E, der eine deutliche Funktionseinschränkung des linken Handgelenks erkannt hat.

Allein deshalb besteht aber noch keine Berufsunfähigkeit. Eine solche liegt nämlich erst vor, wenn es nicht zumindest eine andere berufliche Tätigkeit gibt, die der Klägerin sozial zumutbar und für sie sowohl gesundheitlich als auch fachlich geeignet ist. Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit richtet sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. nur Urteil vom 11. Mai 2000, B 13 RJ 43/99 R, m.w.N.; Urteil vom 24. März 1998, B 4 RA 44/96 R, jeweils zitiert nach juris) die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Die Gruppen werden in der Angestelltenversicherung charakterisiert durch die Leitberufe, deren hohe Qualität regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht (6. Stufe), die zwar ein abgeschlossenes Studium voraussetzen, jedoch Kenntnisse und Fertigkeiten unterhalb der obersten Stufe erfordern (5. Stufe), die eine Meisterprüfung oder den vergleichbaren Besuch einer Fachschule voraussetzen (4. Stufe), der Angestellten mit einer längeren Ausbildung als zwei Jahre (3. Stufe), der angelernten Angestellten mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (2. Stufe) und der ungelernten Angestellten (1. Stufe). Grundsätzlich darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf die nächst niedrigere Gruppe verwiesen werden.

Mit ihrem bisherigen Beruf kann die Klägerin nicht höher eingestuft werden als in die zweite Stufe des Mehrstufenschemas, denn ihm liegt bestenfalls die einjährige Fortbildung zur kaufmännischen Assistentin von November 1991 bis Oktober 1992 zugrunde und damit jedenfalls keine Ausbildung von mehr als zwei Jahren.

Ob die Klägerin Berufsschutz genießt, weil sie gegebenenfalls als Angelernte im oberen Bereich zu behandeln ist, kann auf sich beruhenSie kann nämlich jedenfalls sozial und gesundheitlich zumutbar auf die Tätigkeit einer Mitarbeiterin am Empfang oder an Informationsstellen verwiesen werden.

Das von der Beklagten in das Verfahren eingeführte berufskundliche Gutachten des Leiters des Arbeitsamtes D, C, vom 10. November 2003 führt zum Berufsbild der "Hostess in einer öffentlichen Verwaltung” im Wesentlichen aus, im Zuge der Reorganisation von öffentlichen Verwaltungen seien fast überall Empfangseinrichtungen geschaffen worden, die den Besuchern der Häuser die Orientierung erleichterten und eine Vorklärung des Anliegens sowie eine zielgerichtete Weiterleitung der Besucher ermöglichten. Hostessen bedienten außerdem häufig noch die Telefonzentrale und übernähmen in besucherärmeren Zeiten Anteile der Poststelle und die Weiterleitung von Faxen. Insgesamt handele es sich um eine körperlich leichte Tätigkeit, die ohne schweres Heben und Tragen auskomme. Sie werde überwiegend im Sitzen, gelegentlich auch im Stehen ausgeübt. Zwangshaltungen, etwa am Bildschirm, beschränkten sich auf das Nachschlagen in Telefonverzeichnissen und Organisationsplänen. Ein Wechsel der Körperhaltung sei selbstbestimmt möglich. Eine Einarbeitung sei in drei Monaten abgeschlossen. Die Tätigkeit werde vergütet mit Vergütungsgruppe 8 bis 7 BAT.

Angesichts der von den medizinischen Sachverständigen beschriebenen körperlichen Leiden und Leistungseinschränkungen spricht für den Senat alles dafür, dass die Klägerin in dem genannten Berufsbild noch tätig sein könnte, ohne dass dies ihre Gesundheit unzumutbar belasten würde. Der vom Berufungsgericht bestellte Sachverständige Dr. S hat in seinem nachvollziehbaren und sorgfältigen Gutachten, das sich in keinem Widerspruch zu sonst vorliegenden medizinischen Unterlagen befindet, ausgeführt, die Klägerin könne noch Arbeiten leichter Natur verrichten. Sie könne nur noch solche Arbeiten verrichten, bei denen sie im eigenen Gutdünken ihre Körperhaltung selbst zu jeder Zeit bestimmen könne. Das Verharren in irgendeiner Körperhaltung, gleich welcher Art, sei aus medizinischer Sicht für mindestens eine halbe, wenn nicht bis zu einer Stunde möglich. Die Belastungsfähigkeit der linken Hand sei eingeschränkt; eine Belastung von 2 bis 3 kg werde für möglich erachtet. Mit den genannten Einschränkungen sei die Klägerin in der Lage, für die volle übliche Arbeitszeit vollschichtig acht Stunden täglich mit den betriebsüblichen Pausen ihre Arbeit zu verrichten. Keine dieser Einschränkungen schließt eine Tätigkeit im Berufsbild Mitarbeiterin am Empfang oder an Informationsstellen aus. Das Gegenteil ist der Fall, auch und gerade unter Berücksichtigung der maßgeblichen Leistungseinschränkung, die aus der Verletzung am linken Unterarm resultiert. Gleichzeitig ist das Vorbringen der Klägerin, sie könne überhaupt nicht mehr berufstätig sein, überaus vage und unsubstantiiert geblieben. Die Ausführungen des Gutachters Dr. S sind auch tragfähig, obwohl er die Klägerin keiner Kernspintomographie unterzogen hat; dies ergibt sich nachvollziehbar aus der ergänzenden Stellungnahme des Gutachters vom 18. Oktober 2004. Bestätigt sieht der Senat sich schließlich auch durch das von der Beklagten eingeführte Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 10. April 1997 (L 3 An 58/96); dieser Entscheidung lag ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde, denn auch dort war die Gebrauchsfähigkeit der Hände eingeschränkt und Maschineschreiben (sogar für beide Hände) nicht mehr möglich. Auch dort wurden aber gemischte kaufmännische Innendienstarbeiten für zumutbar gehalten, etwa am Empfang oder an einem Informationsstand in größeren Behörden, Instituten oder Unternehmen.

Ob der Klägerin noch ein solcher leidensgerechter Arbeitsplatz von der Arbeitsverwaltung vermittelt werden kann, ist für den Rentenrechtsstreit unerheblich, denn das Risiko der Arbeitslosigkeit ist der Arbeitslosenversicherung zuzuordnen und nicht der Rentenversicherung (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 4, 2. Halbs. SGB VI).

Nach alledem liegt Berufsunfähigkeit im Sinne des § 43 SGB VI nicht vor, womit zugleich ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 SGB VI ausscheidet, weil hierfür noch eine erheblich weitergehende Einschränkung des Leistungsvermögens Voraussetzung ist.

Der Berufung war damit der Erfolg versagt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache. Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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