Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 P 677/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 17 P 18/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2004 geändert. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Pflegegeld. Die 1961 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Sie ist als Schwerbehinderte (Grad der Behinderung von 80) mit Nachteilsausgleich "aG" und "B" anerkannt. Im Februar 2001 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung von Pflegegeld, da sie wegen multipler Sklerose (MS) in allen Bereichen der Grundpflege und in der hauswirtschaftlichen Versorgung Hilfe benötige. Die Beklagte veranlasste eine Untersuchung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) - Ärztin Dr. B-H - die in ihrem Gutachten vom 7. Mai 2001 ausführte, die Klägerin sei bei nachgewiesener MS in der Grundpflege nicht auf Fremdhilfe angewiesen. Im Einzelnen beschrieb sie:
Obere Extremitäten: Arme frei beweglich, Schürzengriff, Nackengriff, Griff auf die gegenseitige Schulter beidseits möglich, vollständiger Faustschluß möglich, regelrechte Greiffunktion. Untere Extremitäten: Vers. kann frei sitzen, Beine werden aktiv bewegt, Aufrichten ohne fremde Hilfe möglich, freier Stand, Gang- bild kleinschrittig und mit gelegentlicher Abstützreaktion bei un- sicherem Stand, Bücken möglich.
In der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe ein Hilfebedarf von 3 Stunden pro Woche. Mit Bescheid vom 18. Mai 2001 lehnte die Beklagte Leistungen aus der Pflegeversicherung ab. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte aus, ihre Tochter müsse ihr beim täglichen Baden helfen. Mittwochs komme eine Freundin, die ihr beim Anziehen der Schuhe helfe und sie zur Krankengymnastik begleite. Nach Einholung einer Stellungnahme der Gutachterin und der Pflegefachkraft W nach Lage der Akten wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2001 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 10. November 2001 Klage beim Sozialgericht erhoben, mit der sie geltend machte, sie sei in ihrer Bewegung, beim Waschen, Ankleiden, bei der Ernährung und beim Ausscheiden stark eingeschränkt und hilfsbedürftig. Das Sozialgericht hat die die Klägerin betreffenden Rentenakten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (von der die Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung bezieht) beigezogen und die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie M. G mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. Diese hat in ihrem Gutachten vom 19. März 2003 die Diagnosen mitgeteilt:
Encephalomyelitis disseminata, z.Z. mit chronisch- progredientem Verlauf, Anpassungsstörung mit Neigung zu depressiven Zuständen, Lymphoedem beider Beine, Adipositas, medikamentös gut eingestellter Hypertonus.
Sie führte aus, seit der Stellung des Antrages habe sich die Erkrankung erheblich verschlechtert. Insbesondere seit Sommer 2002 sei eine Behinderung an den oberen Extremitäten hinzugekommen. In diesem Bereich lägen mäßige Funktionseinschränkungen vor. Wegen rechtsbetonter Kraftminderung und gestörter Feinmotorik seien feine und zielgerichtete Bewegungen rechts beeinträchtigt. An den unteren Extremitäten lägen schwere Funktionsausfälle vor. Wegen der spastischen Parese beider Beine und zusätzlicher Gleichgewichtsstörung könne die Klägerin nur noch festgestützt an Möbeln einige Schritte in der Wohnung gehen. Sie könne praktisch nicht mehr frei stehen. Sie benutze in der Wohnung einen Rollstuhl, auf der Straße sei sie völlig gehunfähig. Sie beschrieb folgenden Hilfebedarf:
Duschen/Baden 10 Min. mundgerechte Zubereitung der Nahrung 6 Min. Ankleiden (Teilhilfe) 3 Min. Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung für das zweimal wöchentliche Aufsuchen der Krankengymnastikpraxis 12 Min.
Hinzu komme ein Hilfebedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung von 40,5 Min.
Mit Urteil vom 6. Mai 2004 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin Pflegegeld nach Pflegestufe I seit September 2002 zu gewähren. Es hat zur Begründung ausgeführt, aufgrund der von der Sachverständigen festgestellten Behinderungen sei der Hilfebedarf seit spätestens September 2002 wenigstens bei der Körperpflege und beim Ankleiden höher zu schätzen, nämlich auf 20 Minuten für die Körperpflege und 11 Minuten für das Ankleiden. Beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung seien 12 Minuten anzusetzen. Es sei auch der Klägerin nicht zuzumuten, den Weg mit einem Elektrorollstuhl statt mit einem Auto des Mobilitätsdienstes zurückzulegen. Auch seien 3 Minuten für das Anziehen der Stützstrümpfe anzurechnen.
Gegen das ihr am 4. Juni 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14. Juni 2004 Berufung eingelegt und vorgetragen, die vom Sozialgericht zugrunde gelegten Pflegezeiten seien nicht nachvollziehbar und stünden im Widerspruch zu dem eingeholten Gutachten. Insbesondere sei auch nicht überzeugend, weshalb die Klägerin nicht den ihr inzwischen zur Verfügung gestellten Elektrorollstuhl benutzen könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2004 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hat vorgetragen, sie habe den Elektrorollstuhl zurückgegeben, da sie mit den Bordsteinkanten nicht zurechtkomme.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf ihre Schriftsätze Bezug genommen.
Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten des Sozialgerichts Berlin S 76 P 677/01 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts war aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen, da die Klägerin die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht erfüllt.
Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - SGB XI - setzt der Anspruch auf Pflegegeld Pflegebedürftigkeit voraus. Die Klägerin ist jedoch nicht pflegebedürftig im Sinne der gesetzlichen Regelungen.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Laufe des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen. Gemäß § 14 Abs. 3 SGB XI besteht die Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen. Nach Abs. 4 dieser Vorschrift sind gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Abs. 1
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- und Blasenent- leerung,
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett- Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,
4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Nach § 15 Abs. 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen nach diesem Gesetz pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 einer von drei gesetzlich näher umschriebenen Pflegestufen zuzuordnen. Voraussetzung für die Zuordnung zur niedrigsten Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) ist, dass die Person bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der Hauswirtschaftsversorgung benötigt (§ 15). Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI (in der Fassung des Ersten SGB XI - Änderungsgesetzes vom 14. Juni 1996 - BGBl. I Seite 830) täglich im Wochendurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.
Die vorgenannten gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt die Klägerin bereits deshalb nicht, weil der zu berücksichtigende Pflegebedarf in der Grundpflege nicht mehr als 45 Minuten beträgt. Es konnte deshalb im Ergebnis offen bleiben, in welchem Umfang für die Klägerin Pflegebedarf im hauswirtschaftlichen Bereich anfällt.
Nach den im Verlauf des Verfahrens im Auftrag der Beklagten und des Gerichts erstellten Gutachten liegt der Hilfebedarf der Klägerin in den Bereichen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) deutlich unter dem vom Gesetz geforderten Mindestbedarf von 46 Minuten täglich im Wochendurchschnitt.
Nach dem Gutachten des MdK - Ärztin Dr. B-H - vom 7. Mai 2001 lag im Bereich der Grundpflege kein Hilfebedarf vor. Dies ist nachvollziehbar, da die Gutachterin im Bereich der oberen Extremitäten keine Funktionseinschränkungen beschrieben hat. Bei den unteren Extremitäten fielen lediglich ein kleinschrittiges Gangbild mit gelegentlicher Abstützreaktion und ein unsicherer Stand auf. Aus dem Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G geht allerdings hervor, dass sich seitdem die Krankheit erheblich verschlimmert hat. Dadurch ist die Klägerin zwar hilfebedürftig geworden, aber nicht in einem Umfang, der bereits Pflegebedürftigkeit im Sinne der Pflegestufe I begründet. Im Bereich der Körperpflege hat die Sachverständige überzeugend einen Hilfebedarf von 10 Minuten für das Baden angenommen und einen solchen für die kleine Körperwäsche verneint. Letzteres ist darin begründet, dass an den oberen Extremitäten nur mäßige Funktionsausfälle vorliegen. Die Klägerin ist lediglich bei feinen Bewegungen und Zielbewegungen rechts beeinträchtigt, so dass sie die kleine Körperpflege "oberflächlich" noch selbst vornehmen kann. Für das erforderliche tägliche Bad ist nicht der für diesen Vorgang in den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches - BRi - angegebene volle Umfang von 20 bis 25 Minuten anzusetzen, da nur Teilhilfen - nämlich für das Einsteigen und das Verlassen der Wanne sowie das Abtrocknen mit anschließendem Eincremen und das Haarewaschen erforderlich sind. In der Wanne liegend kann sich die Klägerin - mit Ausnahme des Haarewaschens - selbständig waschen. Ein Hilfebedarf für Zahnpflege, Kämmen (die Klägerin trägt einen einfachen Kurzhaarschnitt), Darm- und Blasenentleerung ist nach der Darstellung der Sachverständigen nicht vorhanden. Den Hilfebedarf im Bereich Ernährung hat die Sachverständige überzeugend - täglich 6 Minuten - damit begründet, dass die Klägerin zwar nicht selbständig eine Scheibe Brot abschneiden und belegen und auch kein Fleisch kleinschneiden kann. Im Übrigen kann sie die Nahrung aber selbst portionieren, mit Besteck umgehen sowie Speisen und Getränke selbst zu sich nehmen. Die Verrichtung Kaffee- oder Teekochen ist dem Bereich Kochen und damit der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzurechnen und gehört nicht in den Bereich der Grundpflege. Dasselbe gilt auch für das in ihrem Schriftsatz vom 18. Februar 2005 erwähnte Zubereiten von warmen Mahlzeiten.
Im Bereich Mobilität benötigt die Klägerin entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nur Teilhilfen beim An- und Auskleiden, da sie keine Knöpfe und Verschlüsse betätigen und keine Schuhe binden kann. Beim Aufstehen und Zu-Bett-Gehen braucht sie keine Hilfe. Das Gehen in der Wohnung ist nur für einige Schritte mit Abstützen an Wänden und Möbeln möglich. Dieses Defizit ist aber durch einen Rollstuhl ausgeglichen, mit dem die Klägerin der Sachverständigen zufolge einen Platzwechsel problemlos selbständig durchführen kann, zumal die Klägerin in einer rollstuhlgerechten Wohnanlage wohnt. Für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für die zweimalige Behandlung bei der Krankengymnastin hat die Sachverständige einen täglichen Zeitaufwand von 12 Minuten angesetzt. Dabei hat sie ein zweimal wöchentliches Aufsuchen der krankengymnastischen Praxis (einfacher Weg 20 Minuten) berücksichtigt. Dagegen hat die Klägerin keine Einwendungen erhoben.
Die von der Sachverständigen G abgegebene Schätzung des Hilfebedarfs der Klägerin ist nach alledem überzeugend begründet, und es besteht kein Anlass, hiervon abzuweichen. Der für Pflegestufe I gesetzlich vorgeschriebene Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten täglich in der Grundpflege wird auch nicht dadurch erreicht, dass zu dem Zeitaufwand von insgesamt 31 Minuten noch weitere 3 Minuten für das Anziehen der Stützstrümpfe hinzugerechnet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Pflegegeld. Die 1961 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Sie ist als Schwerbehinderte (Grad der Behinderung von 80) mit Nachteilsausgleich "aG" und "B" anerkannt. Im Februar 2001 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung von Pflegegeld, da sie wegen multipler Sklerose (MS) in allen Bereichen der Grundpflege und in der hauswirtschaftlichen Versorgung Hilfe benötige. Die Beklagte veranlasste eine Untersuchung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) - Ärztin Dr. B-H - die in ihrem Gutachten vom 7. Mai 2001 ausführte, die Klägerin sei bei nachgewiesener MS in der Grundpflege nicht auf Fremdhilfe angewiesen. Im Einzelnen beschrieb sie:
Obere Extremitäten: Arme frei beweglich, Schürzengriff, Nackengriff, Griff auf die gegenseitige Schulter beidseits möglich, vollständiger Faustschluß möglich, regelrechte Greiffunktion. Untere Extremitäten: Vers. kann frei sitzen, Beine werden aktiv bewegt, Aufrichten ohne fremde Hilfe möglich, freier Stand, Gang- bild kleinschrittig und mit gelegentlicher Abstützreaktion bei un- sicherem Stand, Bücken möglich.
In der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe ein Hilfebedarf von 3 Stunden pro Woche. Mit Bescheid vom 18. Mai 2001 lehnte die Beklagte Leistungen aus der Pflegeversicherung ab. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte aus, ihre Tochter müsse ihr beim täglichen Baden helfen. Mittwochs komme eine Freundin, die ihr beim Anziehen der Schuhe helfe und sie zur Krankengymnastik begleite. Nach Einholung einer Stellungnahme der Gutachterin und der Pflegefachkraft W nach Lage der Akten wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2001 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 10. November 2001 Klage beim Sozialgericht erhoben, mit der sie geltend machte, sie sei in ihrer Bewegung, beim Waschen, Ankleiden, bei der Ernährung und beim Ausscheiden stark eingeschränkt und hilfsbedürftig. Das Sozialgericht hat die die Klägerin betreffenden Rentenakten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (von der die Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung bezieht) beigezogen und die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie M. G mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. Diese hat in ihrem Gutachten vom 19. März 2003 die Diagnosen mitgeteilt:
Encephalomyelitis disseminata, z.Z. mit chronisch- progredientem Verlauf, Anpassungsstörung mit Neigung zu depressiven Zuständen, Lymphoedem beider Beine, Adipositas, medikamentös gut eingestellter Hypertonus.
Sie führte aus, seit der Stellung des Antrages habe sich die Erkrankung erheblich verschlechtert. Insbesondere seit Sommer 2002 sei eine Behinderung an den oberen Extremitäten hinzugekommen. In diesem Bereich lägen mäßige Funktionseinschränkungen vor. Wegen rechtsbetonter Kraftminderung und gestörter Feinmotorik seien feine und zielgerichtete Bewegungen rechts beeinträchtigt. An den unteren Extremitäten lägen schwere Funktionsausfälle vor. Wegen der spastischen Parese beider Beine und zusätzlicher Gleichgewichtsstörung könne die Klägerin nur noch festgestützt an Möbeln einige Schritte in der Wohnung gehen. Sie könne praktisch nicht mehr frei stehen. Sie benutze in der Wohnung einen Rollstuhl, auf der Straße sei sie völlig gehunfähig. Sie beschrieb folgenden Hilfebedarf:
Duschen/Baden 10 Min. mundgerechte Zubereitung der Nahrung 6 Min. Ankleiden (Teilhilfe) 3 Min. Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung für das zweimal wöchentliche Aufsuchen der Krankengymnastikpraxis 12 Min.
Hinzu komme ein Hilfebedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung von 40,5 Min.
Mit Urteil vom 6. Mai 2004 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin Pflegegeld nach Pflegestufe I seit September 2002 zu gewähren. Es hat zur Begründung ausgeführt, aufgrund der von der Sachverständigen festgestellten Behinderungen sei der Hilfebedarf seit spätestens September 2002 wenigstens bei der Körperpflege und beim Ankleiden höher zu schätzen, nämlich auf 20 Minuten für die Körperpflege und 11 Minuten für das Ankleiden. Beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung seien 12 Minuten anzusetzen. Es sei auch der Klägerin nicht zuzumuten, den Weg mit einem Elektrorollstuhl statt mit einem Auto des Mobilitätsdienstes zurückzulegen. Auch seien 3 Minuten für das Anziehen der Stützstrümpfe anzurechnen.
Gegen das ihr am 4. Juni 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14. Juni 2004 Berufung eingelegt und vorgetragen, die vom Sozialgericht zugrunde gelegten Pflegezeiten seien nicht nachvollziehbar und stünden im Widerspruch zu dem eingeholten Gutachten. Insbesondere sei auch nicht überzeugend, weshalb die Klägerin nicht den ihr inzwischen zur Verfügung gestellten Elektrorollstuhl benutzen könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2004 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hat vorgetragen, sie habe den Elektrorollstuhl zurückgegeben, da sie mit den Bordsteinkanten nicht zurechtkomme.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf ihre Schriftsätze Bezug genommen.
Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten des Sozialgerichts Berlin S 76 P 677/01 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts war aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen, da die Klägerin die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht erfüllt.
Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - SGB XI - setzt der Anspruch auf Pflegegeld Pflegebedürftigkeit voraus. Die Klägerin ist jedoch nicht pflegebedürftig im Sinne der gesetzlichen Regelungen.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Laufe des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen. Gemäß § 14 Abs. 3 SGB XI besteht die Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen. Nach Abs. 4 dieser Vorschrift sind gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Abs. 1
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- und Blasenent- leerung,
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett- Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,
4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Nach § 15 Abs. 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen nach diesem Gesetz pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 einer von drei gesetzlich näher umschriebenen Pflegestufen zuzuordnen. Voraussetzung für die Zuordnung zur niedrigsten Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) ist, dass die Person bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der Hauswirtschaftsversorgung benötigt (§ 15). Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI (in der Fassung des Ersten SGB XI - Änderungsgesetzes vom 14. Juni 1996 - BGBl. I Seite 830) täglich im Wochendurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.
Die vorgenannten gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt die Klägerin bereits deshalb nicht, weil der zu berücksichtigende Pflegebedarf in der Grundpflege nicht mehr als 45 Minuten beträgt. Es konnte deshalb im Ergebnis offen bleiben, in welchem Umfang für die Klägerin Pflegebedarf im hauswirtschaftlichen Bereich anfällt.
Nach den im Verlauf des Verfahrens im Auftrag der Beklagten und des Gerichts erstellten Gutachten liegt der Hilfebedarf der Klägerin in den Bereichen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) deutlich unter dem vom Gesetz geforderten Mindestbedarf von 46 Minuten täglich im Wochendurchschnitt.
Nach dem Gutachten des MdK - Ärztin Dr. B-H - vom 7. Mai 2001 lag im Bereich der Grundpflege kein Hilfebedarf vor. Dies ist nachvollziehbar, da die Gutachterin im Bereich der oberen Extremitäten keine Funktionseinschränkungen beschrieben hat. Bei den unteren Extremitäten fielen lediglich ein kleinschrittiges Gangbild mit gelegentlicher Abstützreaktion und ein unsicherer Stand auf. Aus dem Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G geht allerdings hervor, dass sich seitdem die Krankheit erheblich verschlimmert hat. Dadurch ist die Klägerin zwar hilfebedürftig geworden, aber nicht in einem Umfang, der bereits Pflegebedürftigkeit im Sinne der Pflegestufe I begründet. Im Bereich der Körperpflege hat die Sachverständige überzeugend einen Hilfebedarf von 10 Minuten für das Baden angenommen und einen solchen für die kleine Körperwäsche verneint. Letzteres ist darin begründet, dass an den oberen Extremitäten nur mäßige Funktionsausfälle vorliegen. Die Klägerin ist lediglich bei feinen Bewegungen und Zielbewegungen rechts beeinträchtigt, so dass sie die kleine Körperpflege "oberflächlich" noch selbst vornehmen kann. Für das erforderliche tägliche Bad ist nicht der für diesen Vorgang in den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches - BRi - angegebene volle Umfang von 20 bis 25 Minuten anzusetzen, da nur Teilhilfen - nämlich für das Einsteigen und das Verlassen der Wanne sowie das Abtrocknen mit anschließendem Eincremen und das Haarewaschen erforderlich sind. In der Wanne liegend kann sich die Klägerin - mit Ausnahme des Haarewaschens - selbständig waschen. Ein Hilfebedarf für Zahnpflege, Kämmen (die Klägerin trägt einen einfachen Kurzhaarschnitt), Darm- und Blasenentleerung ist nach der Darstellung der Sachverständigen nicht vorhanden. Den Hilfebedarf im Bereich Ernährung hat die Sachverständige überzeugend - täglich 6 Minuten - damit begründet, dass die Klägerin zwar nicht selbständig eine Scheibe Brot abschneiden und belegen und auch kein Fleisch kleinschneiden kann. Im Übrigen kann sie die Nahrung aber selbst portionieren, mit Besteck umgehen sowie Speisen und Getränke selbst zu sich nehmen. Die Verrichtung Kaffee- oder Teekochen ist dem Bereich Kochen und damit der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzurechnen und gehört nicht in den Bereich der Grundpflege. Dasselbe gilt auch für das in ihrem Schriftsatz vom 18. Februar 2005 erwähnte Zubereiten von warmen Mahlzeiten.
Im Bereich Mobilität benötigt die Klägerin entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nur Teilhilfen beim An- und Auskleiden, da sie keine Knöpfe und Verschlüsse betätigen und keine Schuhe binden kann. Beim Aufstehen und Zu-Bett-Gehen braucht sie keine Hilfe. Das Gehen in der Wohnung ist nur für einige Schritte mit Abstützen an Wänden und Möbeln möglich. Dieses Defizit ist aber durch einen Rollstuhl ausgeglichen, mit dem die Klägerin der Sachverständigen zufolge einen Platzwechsel problemlos selbständig durchführen kann, zumal die Klägerin in einer rollstuhlgerechten Wohnanlage wohnt. Für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für die zweimalige Behandlung bei der Krankengymnastin hat die Sachverständige einen täglichen Zeitaufwand von 12 Minuten angesetzt. Dabei hat sie ein zweimal wöchentliches Aufsuchen der krankengymnastischen Praxis (einfacher Weg 20 Minuten) berücksichtigt. Dagegen hat die Klägerin keine Einwendungen erhoben.
Die von der Sachverständigen G abgegebene Schätzung des Hilfebedarfs der Klägerin ist nach alledem überzeugend begründet, und es besteht kein Anlass, hiervon abzuweichen. Der für Pflegestufe I gesetzlich vorgeschriebene Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten täglich in der Grundpflege wird auch nicht dadurch erreicht, dass zu dem Zeitaufwand von insgesamt 31 Minuten noch weitere 3 Minuten für das Anziehen der Stützstrümpfe hinzugerechnet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
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