L 16 AL 43/04*10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AL 4068/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 AL 43/04*10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 2004 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 1. Juni 2001 bis zum 5. Juni 2001 sowie die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 6. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2001 und die damit verbundene Erstattungsforderung in Höhe von 12.297,51 DM (= 6.287,62 Euro).

Der 1972 geborene Kläger meldete sich nach einer Beschäftigung als Malergeselle zuletzt vom 16. Mai 1994 bis zum 6. Januar 1998 bei der Beklagten am 7. Januar 1998 arbeitslos. Er bezog seit dem 7. Januar 1998 Alg, zuletzt auf Grund des Bewilligungsbescheides vom 8. November 2000 bis zum 5. Juni 2001 (Anspruchserschöpfung) nach einem gerundeten wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1.040,00 DM in Höhe von wöchentlich 307,16 DM. Mit Bescheid vom 16. Juli 2001 bewilligte die Beklagte ihm Anschluss-Alhi für die Zeit vom 6. Juni bis 31. Dezember 2001.

Mit Bescheid vom 6. Juli 2001 hatte die Beklagte wegen der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit des Klägers am 1. Juni 2001 Überbrückungsgeld für die Zeit vom 1. Juni 2001 bis zum 30. November 2001 in Höhe von monatlich 2.226,03 DM als Zuschuss gewährt. Der Kläger zeigte die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mit Veränderungsmitteilung vom 23. Juli 2001 an.

Mit Bescheid vom 3. Juni 2002 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg bzw. Alhi für die Zeit vom 1. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2001 auf und forderte von dem Kläger eine Erstattung in Höhe von 12.297,51 DM (= 6.287,62 Euro). Der Kläger habe erkennen müssen, dass der Anspruch auf die Leistungen mit der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit am 1. Juni 2001 weggefallen sei. Das Anhörungsschreiben der Beklagten zum Aufhebungsbescheid datiert ebenfalls vom 3. Juni 2002. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2002).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Aufhebung des Bescheides vom 3. Juni 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2002 gerichtete Klage mit Urteil vom 23. März 2004 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Beklagte sei berechtigt gewesen, den Bescheid über die Bewilligung von Alg gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) i.V.m. § 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) sowie den Bescheid über die Bewilligung von Alhi gemäß § 45 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III für die Zeit ab 1. Juni 2001 (Alg) bzw. 6. Juni 2001 (Alhi) aufzuheben. Die Weiter- bzw. Neubewilligung von Arbeitslosenunterstützung sei seit dem 1. Juni 2001 rechtswidrig gewesen, weil der Kläger von diesem Zeitpunkt an nicht mehr arbeitslos, sondern selbständig tätig gewesen sei. Er habe auch gewusst, dass ihm seit diesem Zeitpunkt keine Leistungen wegen Arbeitslosigkeit mehr zugestanden hätten. Denn er habe die Beklagte selbst auf die irrtümliche Doppelbewilligung von Überbrückungsgeld und Arbeitslosenunterstützung hingewiesen. Die Beklagte sei auch innerhalb eines Jahres nach Kenntnis der die Aufhebung rechtfertigenden Tatsachen tätig geworden. Die Leistungsstelle habe erst am 6. Juni 2001 von der Selbständigkeit des Klägers Kenntnis erhalten (Mitteilung der Vermittlungsstelle der Beklagten). Der Bescheid vom 3. Juni 2002 sei mithin innerhalb der Jahresfrist ergangen.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist nach wie vor der Ansicht, dass die Beklagte die Jahresfrist für die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Alg bzw. Alhi nicht eingehalten habe. Er habe den Antrag auf Überbrückungsgeld bei der Beklagten bereits am 28. Mai 2001 gestellt. Es sei davon auszugehen, dass auch die Leistungsabteilung der Beklagten bereits zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der beabsichtigten Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit gehabt habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 2004 und den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2002 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Leistungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Das Gericht hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung durch Beschluss zurückweisen können, weil es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).

Die Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlich statthaft erhobene isolierte Anfechtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG weiter verfolgt, ist nicht begründet. Die Beklagte hat die Bewilligung von Alg rückwirkend für die Zeit vom 1. Juni bis zum 5. Juni 2001 und die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 6. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2001 zu Recht zurückgenommen bzw. aufgehoben und sie kann von dem Kläger die Erstattung erbrachter Leistungen in Höhe von 12.297,51 DM (= 6287,62 Euro) verlangen.

Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides vom 3. Juni 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2002 misst sich hinsichtlich der Bewilligung von Alg für die Zeit vom 1. Juni bis zum 5. Juni 2001 an § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III und hinsichtlich der Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 6. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2001, die erst mit Bescheid vom 16. Juli 2001 erfolgte, an § 45 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben, soweit in den Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist und der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Nach § 45 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III ist ein objektiv rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich der Betroffene auf sein Vertrauen in die Bestandskraft des Bescheides nicht berufen kann, weil er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Ermessenserwägungen sind in beiden genannten Fällen nicht anzustellen (vgl. § 330 Abs. 2 und Abs. 3 SGB III). Die Rücknahme muss innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolgen, welche die Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (§ 45 Abs. 4 Satz 2, § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X).

Die Bewilligung von Alg und von Alhi für die Zeit ab 1. Juni 2001 war rechtswidrig, weil der Kläger an diesem Tag eine selbständige Tätigkeit aufnahm und deswegen - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - nicht mehr arbeitslos im Sinne der §§ 117 Abs. 1 Nr. 1, 190 Abs. 1 Nr. 1 SGB III war. Der Kläger ist auch nach § 24 Abs. 1 SGB X ordnungsgemäß angehört worden. Zwar richtete die Beklagte erst zeitgleich mit dem Aufhebungsbescheid vom 3. Juni 2002 ein Anhörungsschreiben an den Kläger. Hierdurch war er aber spätestens im Widerspruchsverfahren über die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen hinreichend informiert, so dass er noch vor Erteilung des Widerspruchsbescheides ausreichend Gelegenheit hatte, hierzu sachgerecht Stellung zu nehmen. Von der Nachholung der erforderlichen Anhörung spätestens im Verlauf des Widerspruchsverfahrens ist somit auszugehen (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X). Im Übrigen konnte die Beklagte von einer Anhörung des Klägers gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X absehen, weil sie von dessen tatsächlichen Angaben in seinem Antrag auf Überbrückungsgeld vom 28. Mai 2001 nicht abgewichen ist.

Zur Überzeugung des Senats steht auch fest, dass der Kläger wusste, dass sein Anspruch auf Alg mit der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit entfiel und dass ihm demgemäß auch die Rechtswidrigkeit der Alhi-Bewilligung mit Bescheid vom 16. Juli 2001 bewusst war. Dies folgt bereits daraus, dass der Kläger selbst auf die "amtsirrtümliche" Bewilligung von Alhi hingewiesen und die irrtümliche Doppelzahlung bei der Beklagten gerügt hatte (Schreiben des Klägers vom 30. Juni 2002 und Vorsprache bei der Beklagten ausweislich der Niederschrift vom 2. August 2001). Dass die Beklagte nach Kenntnisnahme von der selbständigen Tätigkeit des Klägers spätestens am 6. Juni 2001 (Mitteilung der Vermittlungsstelle an die Leistungsabteilung) nicht zeitnäher tätig wurde, ändert nichts an der positiven Kenntnis des Klägers von der Rechtswidrigkeit der Alg-Zahlung ab 1. Juni 2001 bzw. der Alhi-Bewilligung für die Zeit ab 6. Juni 2001.

Die Beklagte hat auch die Fristen zur rückwirkenden Aufhebung in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X bzw. § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten. Danach muss die Behörde den Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit u.a. in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X bzw. des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen, welche die Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Frühester Zeitpunkt für den Beginn der Jahresfrist ist der Eintritt der Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen. Die vorliegend in Rede stehenden Leistungen für die Zeit ab 1. Juni 2001 wurden dem Kläger am 6. Juni 2001 (Alg) bzw. 16. Juli 2001 (erste Alhi-Überweisung) ausgezahlt. Bei einer Rücknahmeentscheidung, die sich - wie hier - auf den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bzw. Kenntnis der Rechtswidrigkeit stützt, beginnt die Jahresfrist dann zu laufen, wenn die Beklagte Kenntnis davon hatte, dass der Kläger die (teilweise) Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Maßgeblich ist damit der Zeitpunkt, zu dem die Behörde auf Grund des ermittelten Sachverhaltes Kenntnis von der Bösgläubigkeit des Klägers hatte. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit ist die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis der Behörde dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (vgl. BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 32; BSG, Urteil vom 27. Juli 2000 -B 7 AL 88/99 R = SozR 3-1300 § 45 Nr. 42 m.w.N.). Frühestens nach der tatsächlichen Zahlung der zu Unrecht gewährten Leistungen und der Rückäußerung des Klägers vom 2. August 2001 über seine Kenntnis von der "amtsirrtümlichen" Bewilligung der Leistungen verfügte die Beklagte somit über die notwendigen tatsächlichen Informationsgrundlagen, um die Rücknahmeentscheidung treffen zu können. Hiervon ausgehend hat sie aber mit Erteilung des Bescheides vom 3. Juni 2002 die gesetzliche Jahresfrist eingehalten.

Gemäß § 330 Abs. 2 und Abs. 3 SGB III war eine Ermessensausübung der Beklagten hinsichtlich der Rücknahme bzw. Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit nicht erforderlich. Die Beklagte hat auch die Erstattungsforderung in dem angefochtenen Bescheid in Höhe von 12.297,51 DM (= 6.287,62 Euro) zutreffend berechnet. Sie entspricht dem Gesamtbetrag der dem Kläger in der Zeit vom 1. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2001 gezahlten Alg- bzw. Alhi-Leistungen (Alg für die Zeit vom 1. Juni bis zum 5. Juni 2001 in Höhe von 219,40 DM sowie Alhi für die Zeit ab 6. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2001 in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 57,79 DM).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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