S 9 AS 26/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AS 26/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AS 11/06
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 02.02.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2005 und der Bescheide vom 15.04.2005 und 26.04.2005 verurteilt, dem Kläger Kosten der Unterkunft und Heizung über den 30.06.2005 hinaus in Höhe von 365,- EUR bis 31.10.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen weiterzuzaheln.
2. Die Kosten trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe der dem Kläger zu gewährenden Leistungen nach dem SGB II.

Die Beklagte, bzw. ihre Rechtsvorgänger, zahlten dem Kläger seit 01.01.2005 345,- EUR Regelleistung und 409,04 EUR Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II. Unter dem 02.02.2005 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Leistungen für die Unterkunft nur in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht werden können, soweit diese angemessen seien. Weiter hieß es: "Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die laufenden Aufwendungen für Ihre Unterkunft den nach der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen. Diese unangemessenen Kosten können nur solange als Bedarf anerkannt werden, wie es Ihnen nicht möglich oder nicht zumutbar ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für 6 Monate. Soweit Sie nicht nachweisen können, dass innerhalb dieser Frist angemessener Wohnraum nicht zur Verfügung stand, werden danach nur noch die angemessenen Kosten der Unterkunft berücksichtigt. Hierüber erhalten Sie dann einen gesonderten Bescheid."

Dem Hinweis an den Kläger lag eine diesem nicht mitgeteilte Berechnung zugrunde, wonach für eine Person eine Wohnung von 45 m2 angemessen sei und bis zu 245,- EUR für Kaltmiete und Nebenkosten anfallen dürften. Tatsächlich zahle der Kläger 378,36 Miete und Nebenkosten. Die Heizkosten (angemessen: 45 m² x 7,38 EUR jährlich = 27, 68 EUR monatlich) seien mit 30,68 EUR ebenfalls zu hoch.

Gegen das Schreiben vom 02.02.2005 legte der Kläger Widerspruch ein. Er habe eine Dachgeschosswohnung mit Schrägen und wisse nicht, wie diese Wohnfläche nach dem Mietspiegel zu berücksichtigen sei. Er bitte auch die Kosten der Unterkunft aufzuschlüsseln und zu erläutern. Er lebe seit über vier Jahren in dieser Wohnung und finde es nicht akzeptabel, einen Wohnungswechsel von ihm zu verlangen, da eine kleinere Wohnung fast die gleiche Miete koste. Er wünsche sich deshalb eine Stellungnahme und Klärung seitens der Beklagten.

Die Beklagte fasste dieses Schreiben als Widerspruch auf, den sie als unzulässig zurückwies, weil ihr Schreiben vom 02.02.2005 lediglich zur Information in einer Leistungsangelegenheit gedient habe. Weitergehende Informationen gab die Beklagte dem Kläger nach Aktenlage nicht.

Der Kläger erhob am 25.04.2005 Klage. Im Verlauf des Verfahrens tauschten sich die Beteiligten ausschließlich darüber aus, ob das Schreiben vom 02.02.2005 als Verwaltungsakt aufzufassen sei oder nicht.

Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt und ohne dass es einer der Beteiligten für notwendig gehalten hätte, das Gericht hiervon zu informieren, wurden der Verwaltungsakte der Beklagten außerhalb des eigentlichen Vorgangs – lose in eine hintere Aktentasche eingelegt – zwei Bescheide vom 15.04.2005 und 26.04.2005 beigefügt.

Der Bescheid vom 15.04.2005 betrifft die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.05.2005 bis 31.10.2005 in Höhe von je 754,04 EUR für Mai und Juni und je 617,68 EUR für Juli bis Oktober 2005. Der Bescheid vom 26.04.2005 ist als Änderungsbescheid bezeichnet und setzt die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.04.2005 auf 754,04 EUR fest.

Hintergrund ist offenbar, dass der Kläger unter dem 18.04.2005 mit seinen Vermietern eine Vereinbarung schloss, die Miete ab dem 01.05.2005 auf 285,- EUR, die Betriebskostenvorauszahlung auf 50,- EUR und die Heizkostenvorauszahlung auf 30,- EUR abzusenken (Gesamtzahlung 365,- EUR). Neben der Regelleistung von 345,- EUR zahlte die Beklagte demnach an Kosten der Unterkunft und Heizung gemäß den o.a. Bescheiden für Januar bis einschließlich April 2005 je 409,04 EUR, für Mai und Juni 2005 je 365,- EUR, für die Zeit von Juli bis einschließlich Oktober 2005 je 272,68 EUR. Warum ab dem 01.07.2005 nur noch 272,68 EUR getragen werden, ergibt sich aus keinem der Bescheide.

Die Klage richtet sich nunmehr gegen die Absenkung der Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung ab dem 01.07.2005.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 02.02.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2005 unter Einbeziehung der Bescheide vom 15.04.2005 und 26.04.2005 zu verurteilen, ihm für die Zeit bis einschließlich 31.10.2005 höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, auch die seit Mai gezahlte Miete sei immer noch unangemessen. Hierauf sei der Kläger hingewiesen worden. Unangemessene Unterkunftskosten seien nur für ein halbes Jahr zu übernehmen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist mit dem jetzt gestellten Antrag begründet. Die Voraussetzungen für eine Absenkung der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung auf das angemessene Maß gemäß dem angefochtenen Bescheid vom 15.04.2005 liegen bisher nicht vor. Die tatsächlichen Kosten sind deshalb weiter zu übernehmen.

Offen bleiben kann, ob bereits das Schreiben vom 02.02.2005 einen anfechtbaren Verwaltungsakt darstellte, denn aufgrund dieses Schreibens hat die Beklagte mit Bescheid vom 15.04.2005 die Kosten der Unterkunft und Heizung auf das ihrer Ansicht nach angemessene Maß reduziert. Spätestens hierdurch ist das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten verwaltungsseitig neu geregelt und verändert worden, so dass nunmehr eine anfechtbare Verwaltungsentscheidung vorliegt. Diese ist auch gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden. § 96 SGG ist unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie weit auszulegen (Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl., Rndr. 4 zu § 96). Danach sind grundsätzlich alle Verwaltungsakte zu erfassen, die den Prozessstoff beeinflussen können. Zwar betrifft § 96 SGG seinem Wortlaut nach nur die Fälle, in denen Verwaltungsakte durch spätere Verwaltungsakte abgeändert werden, wobei ja zwischen den Beteiligten gerade streitig ist, ob das Schreiben vom 02.02.2005 ein Verwaltungsakt war. Eine entsprechende Anwendung des § 96 SGG kommt jedoch auch in Betracht, wenn die durch den neuen Bescheid getroffene Regelung sich auf den Streitstoff des anhängigen Rechtsstreits auswirken kann (BSG, SozR 1500 § 96 Nr. 27). Dies ist hier zumindest der Fall.

Streitbefangen ist nur der Zeitraum vom 01.07. bis zum 31.10.2005. Bis zum 30.06.2005 hat die Beklagte die tatsächlichen Unterkunfts- und Heizkosten übernommen. Die vorliegende Verwaltungsentscheidung ist auf die Zeit bis 31.10.2005 begrenzt.

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) werden Leistungen für Unterkunft und Heizung (LfU) in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit sie angemessen sind. Nach Satz 2 der Vorschrift sind LfU, soweit die Aufwendungen den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, als Bedarf des Hilfebedürftigen solange zu berücksichtigen, wie es dem Betroffenen nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch für längstens sechs Monate. Dem Kläger war es jedenfalls bis zum 31.10.2005 nicht möglich, bzw. nicht zuzumuten, die Kosten seiner Unterkunft entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu senken, denn ihm fehlten schon die hierfür notwendigen Informationen. Nur derjenige Hilfebedürftige kann in der gesetzlich gebotenen Weise tätig werden, der hinreichend darüber informiert, was von ihm verlangt wird.

Der Kläger wusste ab Anfang Februar 2005, dass die Beklagte der Auffassung ist, er wohne in einer zu teuren Wohnung. Er wusste weder, aufgrund welcher Berechnungen die Beklagte zu dieser Ansicht kam, noch, welche Wohnungskosten denn angemessen gewesen wären. Dennoch hat er sich um eine Reduzierung seiner Wohnkosten bemüht und diese auch Mitte April durch entsprechende Verhandlungen mit seinem Vermieter erreicht. Zwar ist auf dem von ihm vorgelegten Mietvertragsformular – offenbar von einem Sachbearbeiter – handschriftlich der Vermerk: "unangemessen" angebracht worden, jedoch wird aus den Akten weder ersichtlich, dass dies dem Kläger mitgeteilt worden wäre, noch, um welchen Betrag die reduzierten Aufwendungen die Angemessenheitsgrenze überschreiten. Allerdings wurde unter dem 15.04.2005 der angefochtene Bescheid erstellt, wobei anhand der Aktenlage nicht beurteilt werden kann, ob und wann der Kläger hiervon Kenntnis nehmen konnte.

Der Kläger war demnach frühestens Ende April 2005 in der Lage, aus der Tatsache, dass die Beklagte ihm nur noch 272,68 EUR KfU bewilligte zu erschließen, dass dies offensichtlich der für angemessen gehaltene Betrag sei. Irgendeine Erläuterung hierzu findet sich auch im angefochtenen Bescheid nicht, obwohl der Kläger sich seit Februar 2005 um eine entsprechende Beratung durch die Beklagte bemüht.

Die Kammer hält vor diesem Hintergrund die Beklagte gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II für verpflichtet, die KfU des Klägers weiter in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, wenigstens bis einschließlich Oktober 2005. Zwar soll entsprechend der Vorschrift die Übernahme der tatsächlichen Kosten längstens für sechs Monate erfolgen. § 22 Abs. 1 sieht dies aber nur "in der Regel" vor, wobei der Regelfall angesichts der Intention des Gesetzgebers derjenige sein muss, in dem es dem Betroffenen aufgrund vollständiger und richtiger Information für volle sechs Monate möglich war, billigeren Ersatzwohnraum zu ermitteln und anzumieten. Hieran hat es beim Kläger zumindest bis einschließlich April 2005 gefehlt. Dem Kläger ist es nur möglich und zumutbar, preiswerteren Ersatzwohnraum zu suchen, wenn er von der Beklagten vollständig und richtig über seine Pflichten und Rechte informiert ist. Hierzu gehört es zumindest, dass ihm die Berechnungsgrundlagen mitgeteilt werden, so dass er sich zumindest darüber informieren kann, ob die Beklagte insoweit von richtigen Voraussetzungen ausgeht. Denn diese Voraussetzungen sind bisher keinesfalls als unstreitig anzusehen. So ist etwa die von der Beklagten vorgenommene Anbindung der Beurteilung der Angemessenheit von Wohnraum an das Wohnungsbindungsrecht von der 11. Kammer dieses Gerichts beanstandet worden (Urteil vom 16.11.2005, S 11 AS 70/05). Der Betroffene muss in die Lage versetzt werden, die Rechtsauffassung der Beklagten zu überprüfen (bei eventuell fehlender Verwaltungsaktqualität des entsprechenden Hinweisschreibens wäre hier auch eine Feststellungsklage denkbar) und er muss genau wissen, um welche Art Wohnung in welcher Preislage er sich sinnvollerweise bemühen sollte.

Der Betroffene ist darum mindestens darüber zu belehren, dass und warum seine eigene Wohnung zu groß oder zu teuer ist, welche Größe und welcher Preis bei gleicher Lage und Wohnungsqualität als angemessen betrachtet würde und aufgund welcher Berechnungsgrundlagen die Beklagte entscheiden wird, ob eventuell vom Betroffenen künftig anzumietender Wohnraum als angemessen angesehen werden kann. Außerdem ist er auf § 22 Abs. 2 Satz 1 SGG II hinzuweisen.

Solange dies nicht der Fall ist, beginnt die Sechs-Monats-Frist des § 22 Abs. 2 SGG II nicht zu laufen. Demnach sind die tatsächlichen Mietkosten in Höhe von 365,- EUR bis zum 31.10.2005 weiter zu übernehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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