L 11 KR 3018/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 8 KR 434/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 3018/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Keine Arzneimitteltherapie von ADHS bei Erwachsenen mit dem Wirkstoff Methylphenidat zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Bestätigung der Entscheidung vom 25.10.2005 - L 11 KR 2788/05 -.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 09. Mai 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Kosten für die Behandlung der Klägerin mit dem den Wirkstoff Methylphenidat enthaltenden Medikament "Medikinet" im Rahmen des sog. Off-Label-Use zu übernehmen hat.

Die 1966 geborene Klägerin steht in Behandlung des Facharztes für Allgemeinmedizin T. W., Schwerpunktpraxis für Diagnose und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Dieser wandte sich im Oktober 2002 wegen eines Antrags auf Kostenübernahme für die Substanz Methylphenidat in der Off-Label-Indikation und einer Regressverzichtserklärung bei Off-Label-Verordnung an die Beklagte.

Die Beklagte teilte hierauf dem Arzt W. mit Schreiben vom 09.10.2002 mit, dass die Prüfung der Voraussetzungen für eine Off-Label-Verordnung ausschließlich in seiner ärztlichen Verantwortung stehe und lehnte den gewünschten Verzicht auf Regressansprüche ab. Hiervon unterrichtete sie die Klägerin.

Die Klägerin reichte daraufhin bei der Beklagten u.a. ein Rezept des Arztes W. vom 22.10.2002 über Medikinet und ein Schreiben dieses Arztes an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vom 09.10.2002 ein und beantragte die Erstattung von 79.51 EUR.

Mit Bescheid vom 28.10.2002 lehnte die Beklagte eine Kostenerstattung des Medikamentes Medikinet ab. Durch die Verordnung auf einem Privatrezept bringe der Arzt W. zum Ausdruck, dass die notwendigen Voraussetzungen für eine Verordnung auf einem "Kassenrezept" nicht vorgelegen hätten.

Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, das Präparat sei medizinisch notwendig und ihr Krankheitsbild entspreche den vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Bedingungen. Sie bitte daher um Kostenerstattung und zukünftige Übernahme der Kosten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2002 gab die Beklagte dem Widerspruch der Klägerin nicht statt: Die in Deutschland zugelassenen Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin, Medikinet, Equasym) hätten nur eine Zulassung für die Behandlung von ADHS im Kindesalter, welches spätestens mit Ablauf des 18. Lebensjahres ende. Das BSG habe mit Urteil vom 19.03.2002 entschieden, dass ein Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden könne, auf das sich die Zulassung nicht erstrecke. Ausnahmen kämen nur in Betracht, wenn es sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung handle, bei der keine andere Therapie verfügbar sei und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen sei. Dies bedeute aber, dass Forschungsergebnisse vorliegen müssten, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne. Die Prüfung, ob bei dem vorliegenden Krankheitsbild der Klägerin die vom BSG aufgestellten Bedingungen erfüllt seien, liege ausschließlich in der ärztlichen Verantwortung.

Deswegen erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) mit der Begründung, mit 11 Jahren sei bei ihr ADHS diagnostiziert worden. Sie sei alleinerziehende Mutter zweier Kinder mit einem Grad der Behinderung von 80 bzw. 40. Die Kosten für Medikinet in Höhe von ca. 80 bis 90 EUR im Monat stellten ein finanzielles Problem für sie dar. Sie stehe seit über zwanzig Jahren in psychologischer Behandlung.

Das SG hörte den behandelnden Arzt W. als sachverständigen Zeugen. Dieser bekundete, er behandle die Klägerin seit Oktober 2000. Die Klägerin sei von der behandelnden Psychologin N., einer international hoch anerkannten Expertin zum Thema ADHS, welche bereits eine umfassende psychologische Diagnostik durchgeführt habe, in einer Lebenskrise nach Trennung von ihrem Lebensgefährten und Vater ihrer Kinder zwecks medikamentöser Behandlung ihres ADHS zu ihm geschickt worden. An Symptomen der Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität habe er eine ausgeprägte Konzentrationsschwäche, hochgradige Nervosität, und eine ausgeprägte Selbststeuerungsschwäche, besonders im Umgang mit ihren Kindern, festgestellt. Neben der bei der Psychologin N. erfolgten Psychotherapie habe er eine medikamentöse Therapie mittels Stimulanzien durchgeführt, die bei ADHS als Mittel der ersten Wahl gelte. Die hierbei verordnete Substanz sei Methylphenidat in Form des Fertigarzneimittels Medikinet. Der Behandlungserfolg sei gut. Insbesondere sei der Klägerin ein kontrollierter Umgang mit ihren ebenfalls ADHS-betroffenen Kindern möglich in Form eines gelasseneren liebevolleren und dennoch konsequenteren Erziehungsstils. Im Februar 2003 habe in Bad Boll eine internationale Fachtagung über ADHS mit dem Schwerpunkt des ADHS bei Erwachsenen stattgefunden, an der international renommierte Wissenschaftler als Referenten teilgenommen hätten. Dabei sei explizit auf die Notwendigkeit einer Stimulanzientherapie als Basis jeder weiteren Therapie hingewiesen worden. Der Arzt W. fügte eine Stellungnahme zur Weiterleitung an den MDK vom März 2003, eine Stellungnahme von J. F. u. M. S. von der D. G. für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Nervenarzt 73 (2002) 1210 - 1212), einen Bericht zum Umwandlungsantrag V T 3a (Langzeitantrag für eine Erwachsene mit der Diagnose eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms) und einen Bericht zum Fortführungsantrag V T 3b, jeweils von der Dipl.-Psychologin N., bei.

Sodann holte das SG eine Auskunft des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein. Dieses teilte mit, derzeit sei weder ein nationales noch ein europäisches Verfahren auf Zulassung eines Methylphenidat-haltigen Arzneimittels zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter anhängig. Im Rahmen eines nach § 31 Abs. 3 AMG durchgeführten Verfahrens zur Verlängerung der Zulassung eines Methylphenidat-haltigen Innovatorpräparates sei eine entsprechende Indikationsformulierung abgelehnt worden, weil seitens des pharmazeutischen Unternehmens keine ausreichenden klinischen Unterlagen und Studien zur therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Wirkstoffs in dieser Indikation vorgelegt worden seien. Die Frage, warum Methylphenidat-haltige Arzneimittel gegenwärtig nur für das Kindes-, nicht aber für das Erwachsenenalter zugelassen seien, erkläre sich dadurch, dass hinsichtlich des Einsatzes des Wirkstoffs im Erwachsenenalter bislang keine als ausreichend eingeschätzte Begründung der therapeutischen Wirksamkeit vorgelegt worden sei. Eine entsprechende Prüfung der Wirksamkeit für diese Indikation habe seitens des BfArM daher noch nicht erfolgen können. Zu berücksichtigen sei auch, dass insbesondere in Europa die Existenz des ADHS im Erwachsenenalter bis vor wenigen Jahren nicht als etablierte Lehrmeinung gegolten habe. Dies habe sich insofern geändert, als nunmehr davon ausgegangen werde, dass in einem nicht unerheblichen Teil der kindlichen ADHS-Erkrankungen die Symptome auch bis ins Erwachsenenalter fortbestünden. Es existierten eine Reihe von veröffentlichten klinischen Berichten über den Einsatz von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter. Eine belegte klinisch relevante Wirksamkeit und Unbedenklichkeit könne nur auf Antrag des pharmazeutischen Unternehmens im Rahmen eines Zulassungs- oder Änderungsverfahren beurteilt werden. Selbst wenn der pharmazeutische Unternehmer eine Erweiterung der bestehenden Zulassung beantragt haben sollte, könnte eine Aussage zur Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit des geänderten Anwendungsgebietes erst nach Abschluss des Zulassungs- oder Änderungsverfahrens gemacht werden.

Der Arzt W. äußerte sich in einer ergänzenden Aussage dahingehend, dass eine akute Gefährdung im Sinne von "keine Medikamente Tod oder Invalidität" wenig wahrscheinlich sei. Es seien allerdings durchaus Fälle bekannt, in denen ADHS-Betroffene in akuter Depression und ohne jeglichen Ausweg für ihr Leben zu sehen, Suizid oder Suizidversuche begangen hätten. Die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung und die Stärke von Komorbiditäten, also vergesellschafteten Parallelerkrankungen wie z.B. Depressionen, steige mit dem Grad der Ausprägung des ADHS. Untersuchungen zeigten, dass bei ca. 70 % der Erwachsenen, bei denen in Kindheit oder Jugend ADHS diagnostiziert worden sei, weiterhin Symptome aufträten, und etwa 30 % der betroffenen Erwachsenen wenigstens bedarfsweise Medikamente benötigten. Besonders ausgeprägte Fälle - hierfür lägen ihm keine Zahlen vor - benötigten auch im Erwachsenenalter eine mehr oder weniger kontinuierliche Therapie. Bei der Klägerin seien die Umstände per se bereits erschwert, denn sie sei alleinerziehend und es bestünden erhebliche Probleme mit dem Vater der Kinder sowie bei der Sicherung des Lebensunterhaltes. Bei der Klägerin bestehe seit langem eine Grunddepression, die lediglich in der Stärke der Ausprägung schwanke. Dadurch, dass das Medikament die Fähigkeiten zur Selbststeuerung bei ADHS-Betroffenen drastisch verbessere, übe die Therapie einen gravierenden Einfluss auf die Entwicklung des Betroffenen selbst und seines Umfeldes aus. Neben der Medikation kämen noch andere, ebenfalls für diese Indikation nicht zugelassene Stimulanzien, Verhaltenstherapie, das Lernen und Verstehen des eigenen Krankheitsbildes und eine antidepressive Begleitmedikation in Betracht. Die letzten drei Maßnahmen würden durchgeführt. Die Wichtigkeit der Methylphenidat-Medikation erkläre sich daher, dass nur diese kausal ansetze und auf neurobiochemischem Weg die Ursache des ADHS teilweise und temporär außer Kraft setze. Unter einer Stimulanzientherapie könne das Gehirn "normaler" funktionieren, die Selbststeuerung verbessere sich und oftmals könne erst dann das umgesetzt werden, was man als richtig gelernt habe.

Die Beklagte trat der Klage unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 19.03.2003 (B 1 KR 37/00 R) entgegen. Eine Leistungspflicht der Beklagten für eine Arzneitherapie außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete könne danach nicht von vornherein verneint werden, sie komme jedoch nur ausnahmsweise unter engen Voraussetzungen in Betracht, die bei der Klägerin jedoch nicht erfüllt seien. Es fehlten hinreichend gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit dieser Behandlung und es existierten andere anerkannte Behandlungsmethoden wie Verhaltenstherapie und eine antidepressive Begleitmedikation.

Mit Urteil vom 09.05.2005, an die Klägerin mit Einschreiben-Rückschein zugestellt am 25.06.2005, wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen führte es im wesentlichen aus, der Wirkstoff Methylphenidat habe lediglich die arzneimittelrechtliche Zulassung für die ADHS-Behandlung bei Kindern, nicht jedoch bei Erwachsenen, weshalb die Klägerin gemäß § 31 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) keinen Anspruch auf Versorgung mit diesem Wirkstoff habe. Bei der Medikation handle es sich auch nicht um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne von § 135 SGB V, sondern vielmehr um eine Pharmakotherapie außerhalb ihrer Zulassung. Ein solcher Off-Label-Use komme nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehe, keine andere Therapie verfügbar sei und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden könne. Vorliegend handle es sich bei ADHS nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung, jedoch werde die Lebensqualität der Klägerin nachhaltig beeinträchtigt. Es seien bisher aber keine Studien veröffentlicht, die auf einen Behandlungserfolg schließen ließen. Eine erweiterte Zulassung sei bisher nicht beantragt worden, auch habe der Arzt W. keine klinisch relevanten Studien über Wirksamkeit, respektive klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen können. Damit scheide ein Kostenerstattungsanspruch gemäß der Rechtsprechung des BSG aus. Darüber hinaus sei das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass ebenfalls andere zumutbare Therapien wie antidepressive Behandlungen und Verhaltenstherapie zur Verfügung stünden.

Hiergegen richtet sich die am 22.07.2005 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie trägt zur Begründung u.a. vor, sie werde von der Dipl.-Psychologin N. und dem Arzt W. betreut. Aus der Sicht der behandelnden Ärzte sei die Versorgung mit Methylphenidat unbedingt erforderlich und als Behandlung erster Wahl zu klassifizieren, um ihr ein erträgliches Leben zu gewährleisten. Gegenwärtig laufe bei der Firma M. bereits seit längerem eine Zulassungsstudie, welche sich bereits in der Endphase befinde und kurz vor ihrem Abschluss stehe. Durch die ADHS-Erkrankung sei ihre Lebensqualität nachhaltig und auf Dauer beeinträchtigt. Ihr behandelnder Arzt W. habe ausdrücklich dargelegt, dass zwar Verhaltenstherapien und antidepressive Begleitung in Frage kämen, allerdings nur neben der Methylphenidatgabe. In Kürze werde klinisch erwiesen sein, dass die ADHS-Problematik auch bei Erwachsenen vorliegen könne und die Wirksamkeit des Medikamentes auch bei Erwachsenen erwiesen sei. In den einschlägigen Fachkreisen, in welchen das vorhandene Problem bereits seit Jahren diskutiert werde, bestehe Konsens über den Nutzen des Medikamentes. Bereits im Jahre 2002 habe die D. G. für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde einen Katalog von Indikationen, in denen der "Off-Label-Use" von Psychopharma als dem Stand der Wissenschaft entsprechend anzusehen sei, vorgelegt. Diese Stellungnahme sei veröffentlicht in Nervenarzt 73 (2002). Die Klägerin hat eine Stellungnahme der Bundesärztekammer zur "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)" - Kurzfassung - vom August 2005 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt - teilweise sinngemäß -,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 09. Mai 2005 sowie den Bescheid vom 28. Oktober 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Dezember 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat zu erstatten und auch zukünftig zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet das angefochtene Urteil für zutreffend. Die medikamentöse Therapie mit dem Wirkstoff Methylphenidat sei nach wie vor bei Erwachsenen aufgrund fehlender arzneimittelrechtlicher Zulassung nicht möglich. Es sei kein Grund erkennbar, im Vorgriff auf einen möglicherweise geplanten Zulassungs- bzw. Erweiterungsantrag und eine möglicherweise erteilte Genehmigung schon jetzt die Kosten zu übernehmen.

Der Senat hat eine weitere Auskunft des BfArM eingeholt, derzufolge hinsichtlich Methylphendidat-haltiger Arzneimittel in der Zwischenzeit gegenüber dem Schreiben vom Juli 2003 keine Veränderung des Sachstandes eingetreten sei. Seit Dezember 2004 verfüge ein Arzneimittel mit der Bezeichnung "Strattera" (Wirkstoff: Atomoxetin) über eine arzneimittelrechtliche Zulassung zur Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen. In ganz besonderen Einzelfällen könne jedoch die Behandlung auf das Erwachsenenalter ausgedehnt werden. Ein Beginn der Behandlung mit Atomoxetin bei Erwachsenen sei unter den Angaben zum Anwendungsgebiet des Arzneimittels jedoch nicht zugelassen.

Der Facharzt für Allgemeinmedizin W. hat auf Anfrage des Senats dargelegt, die Klägerin konsultiere ihn regelmäßig einmal pro Quartal und klage kontinuierlich über Konzentrationsschwäche, Nervosität und Selbststeuerungsschwäche, besonders im Umgang mit ihren Kindern, was der Behandlung von deren ADHS abträglich sei. Insgesamt sei die häusliche Situation nicht zufriedenstellend, mit Methylphenidat jedoch erträglich. Ohne das Medikament bestünden dieselben Probleme wie vor Behandlungsbeginn. Eine bereits davor begonnene psychologische Behandlung werde bedarfsmäßig fortgesetzt. Die medikamentöse Therapie mit Methylphenidat gelte bei ADHS als Mittel der ersten Wahl. Da erfahrungsgemäß andere Behandlungsversuche weniger Erfolg zeigen würden, sei keine alternative Behandlung durchgeführt worden. Das Behandlungskonzept für das Erwachsenenalter sei in einschlägig erfahrenen Fachkreisen anerkannt. Derzeit werde in Deutschland eine Zulassungsstudie durchgeführt, an der er als eines der über 30 Studienzentren teilnehme. In den USA und in Großbritannien bestehe Einigkeit über die Therapie, die dort auch zugelassen sei. Der Antrag auf Erweiterung der Zulassung auch für Erwachsene stehe wahrscheinlich 2006 nach Abschluss der bereits erwähnten Zulassungsstudie durch die Firma M. in I. für das Präparat Medikinet retard bevor. Der Aussage sind Quellenangaben zur wissenschaftlichen Begründung beigefügt worden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig und insbesondere statthaft im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG, da die Berufung einen längeren Zeitraum als ein Jahr umfasst. Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Nach Auffassung des Senats ist die Berufung bereits aus den vom SG ausführlich und zutreffend dargestellten Gründen als unbegründet zurückzuweisen. Insoweit nimmt der Senat auf die Entscheidungsgründe des SG Bezug und verzichtet auf deren erneute Darstellung (§ 153 Abs. 2 SGG).

Der Senat bestätigt seine Rechtssprechung, wonach kein Anspruch auf Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter besteht (vgl. Urteil vom 25.10.2005 - L 11 KR 2788/05 -).

Unstreitig handelt es sich bei "Methylphenidat" um einen arzneimittelrechtlich zugelassenen Wirkstoff. Die Zulassung eines Arzneimittels erfolgt indes stets anwendungsbezogen. Für einen Einsatz außerhalb der durch die Zulassung festgelegten Anwendungsgebiete fehlt dem jeweiligen Präparat die Verkehrsfähigkeit. Die Leistungspflicht der Krankenkasse besteht bei zulassungsüberschreitender Anwendung (so genannter Off-Label-Use) grundsätzlich nicht, da für das neue Anwendungsgebiet weder die Wirksamkeit noch etwaige Risiken des Arzneimittels in dem nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) vorgeschriebenen Zulassungsverfahren geprüft worden sind. An der Zulassung des Medikaments Medikinet mit dem Wirkstoff Methylphenidat für den Anwendungsbereich der ADHS bei Erwachsenen fehlt es hier unstreitig. Dies hat grundsätzlich zur Folge, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung bzw. Übernahme der zukünftig entstehenden Kosten hat.

Nur ausnahmsweise sind die Krankenkassen zur Versorgung der Versicherten mit Medikamenten im Rahmen des Off-Label-Use verpflichtet. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184 ff.), der sich der Senat anschließt, die insoweit erforderlichen Voraussetzungen klargestellt. Danach ist ein Off-Label-Use gestattet, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.

Zumindest diese letztgenannten Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin auch zur Überzeugung des Senats nicht erfüllt. Ausweislich der vom Senat eingeholten Auskunft des BfArM hat sich hinsichtlich Methylphenidat-haltiger Arzneimittel gegenüber der Auskunft vom Juli 2003 keine Veränderung des Sachstandes ergeben. Die Erweiterung der Zulassung ist unstreitig nicht beantragt. Insoweit ist es unerheblich, ob diese für das Präparat Medikinet retard angestrebt wird, worauf der Arzt W. hingewiesen hat. Auch sind die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III bisher nicht veröffentlicht. Nach der Aussage des behandelnden Arztes W. wird derzeit in Deutschland eine Zulassungsstudie durchgeführt, nach deren Abschluss wahrscheinlich 2006 durch die Firma M. für das Präparat Medikinet retard die Erweiterung der Zulassung beantragt werden soll. Nach Auffassung des Senats fehlt es an hinreichend gesicherten Erkenntnissen über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet, die zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. Insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht. Der von dem Arzt W. vorgelegte Aufsatz von J. F. & M. S. von der D. G. für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in: Nervenarzt 73 (2002) 1210 - 1212 kann insoweit nicht als Beleg herangezogen werden, auch wenn die Autoren die Vergabe von Methylphenidat enthaltenden Medikamenten an Erwachsene empfehlen. Darin verweisen die Autoren nämlich darauf, dass nur wenige Studien zur Anwendung des Wirkstoffs Methylphenidat bei Erwachsenen vorliegen und diese an methodischen Mängeln leiden. Daran hat sich in der Folgezeit offenbar nichts entscheidend verändert. Denn auch das BfArM hat in seiner Auskunft vom Juli 2003 deutlich gemacht, dass zwar eine Reihe von veröffentlichten klinischen Berichten über den Einsatz von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter existieren, seitens eines pharmazeutischen Unternehmers aber im Rahmen eines nach § 31 Abs. 3 AMG durchgeführten Verfahrens zur Verlängerung der Zulassung eines Methylphenidat-haltigen Innovatorpräparates keine ausreichenden klinischen Unterlagen und Studien zur therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Wirkstoffs vorgelegt werden konnten. Eine Veränderung des Sachstandes ist ausweislich der Auskunft des BfArM vom Oktober 2005 seither nicht eingetreten. Bezeichnend ist insoweit auch, dass die Zulassung des Arzneimittels "Strattera" (Wirkstoff: Atomoxetin) vom Dezember 2004 nicht den Beginn der Behandlung mit Atomoxetin bei Erwachsenen beinhaltet. Es ist auch zu berücksichtigen, dass bisher keine publizierten Daten zu Effekten und Nebenwirkungen einer medikamentösen Langzeittherapie existieren (vgl. Leitlinien der DGPPN - ADHS im Erwachsenenalter - Der Nervenarzt 10, 2003, 939 - 949). Im untersuchten Zeitraum wurden keine kontrollierten Studien zur Frage publiziert, ob Methylphenidat das Risiko einer Abhängigkeit von psychotropen Substanzen erhöht oder erniedrigt und als Substanz gehäuft missbraucht wird. Kontrollierte Studien werden für erforderlich gehalten.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Behandlung der Klägerin mit Medikinet als individueller Heilversuch dar. Für diesen lässt aber das geltende Recht weder bei gänzlich fehlender arzneimittelrechtlicher Zulassung des Medikaments (BSG SozR 3 - 2500 § 31 Nr:7, BVerfG NJW 1997, 3085) noch im Bereich der zwar grundsätzlich gegebenen, sich jedoch nicht auf das konkrete Krankheitsziel erstreckenden Zulassung, die Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkasse zu (BSGE 89, 184 ff., 191).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der zuletzt noch vorgelegten Stellungnahme der Bundesärztekammer vom August 2005. Darin wird es zwar als unbefriedigend und abhilfebedürftig angesehen, dass in Deutschland Stimulanzien für die Indikation ADHS im Erwachsenenalter nicht zugelassen sind, aber im Rahmen eines individuellen Heilversuches verordnet würden, gleichzeitig aber auf die Notwendigkeit vermehrter Forschungsanstrengungen hingewiesen.

Dass bei der Klägerin nach den Angaben ihres behandelnden Allgemeinmediziners W. ein guter Behandlungserfolg erzielt werden konnte, vermag die Leistungspflicht der Beklagten nicht zu begründen, denn es reicht nicht aus, dass die streitige Therapie nach Einschätzung des behandelnden Arztes positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte sie befürwortet haben (so zuletzt BSG, Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 27/02 R).

Bei der Klägerin liegt auch keine Ausnahmekonstellation wie in dem vom BSG am 19.10.2004 (B 1 KR 27/02 R) entschiedenen Fall vor, denn es fehlt bereits an der Einzigartigkeit des Krankheitsbildes ADHS, welches vielmehr auch bei Erwachsenen durchaus verbreitet ist.

Im übrigen stimmt der Senat dem SG auch insoweit zu, dass bei der Klägerin andere zumutbare Therapien wie antidepressive Behandlungen und Verhaltenstherapie zur Verfügung stehen.

Damit hat die Klägerin weder einen Anspruch auf Übernahme der zukünftig entstehenden Kosten für die Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat noch auf Erstattung der bereits entstandenen Behandlungskosten gemäß § 13 Abs. 3 2. Alternative SGB V (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 25.10.2005 -L 11 KR 2788/05-).

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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