S 6 AS 1393/05 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AS 1393/05 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Bescheid über die Erstattung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach § 50 SGB 10 haben aufschiebende Wirkung.
I. Es wird festgestellt, dass die Anfechtungsklage der Antragstellerin gemäß Schreiben vom 19.12.2005, eingegangen bei Gericht am 21.12.2005 (Az.: S 6 AS 1358/05), gegen den Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 25.08.2005 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 21.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.2005 aufschiebende Wirkung hat.
II. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.

Gründe:

I.

Die am ... geborene Antragstellerin bezog bis zum 22.03.2005 Arbeitslosengeld. Am 02.03.2005 stellte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Mit Bescheid vom 19.04.2005 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II vom 23.03. bis 31.03.2005 i.H.v. 96,05 EUR und vom 01.04. bis 30.06.2005 i.H.v. 323,86 EUR monatlich.

Mit Bescheid vom 25.08.2005 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 21.11.2005 hob die Antragsgegnerin die Entscheidung über die Bewilligung der Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 23.03. bis 30.06.2005 ganz i.H.v. 1.067,58 EUR auf. Zur Begründung führ-te sie im Wesentlichen aus, dass die Antragstellerin ab Februar 2005 eine Nebentätigkeit aufgenommen habe und sie daraus Einkommen erzielt habe, welches auf den Bedarf ab März 2005 anzurechnen sei. Des Weiteren forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin im Bescheid vom 25.08.2005 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 21.11.2005 auf, insgesamt 1.063,86 EUR zu erstatten.

Mit Bescheid vom 23.11.2005 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch der Antragstel-lerin als unbegründet zurück. Hiergegen reichte die Antragstellerin mit Schreiben vom 19.12.2005, eingegangen bei Gericht am 21.12.2005, Klage ein (Az.: S 6 AS 1358/05). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die Zusammensetzung des Rückzah-lungsbetrages unklar sei und dass sie vor Aufnahme der Nebenbeschäftigung der Agentur für Arbeit den Beginn der Nebenbeschäftigung mitgeteilt habe. Des Weiteren seien die gezahlten Beiträge aufgebraucht, da sich die Aufwendungen für die Nebentätigkeit und die erhaltenen Leistungen nahezu aufgehoben hätten. Zudem sei nicht nachvollziehbar warum keine Ermessenentscheidung erfolgt sei.

Mit Schreiben vom 28.12.2005 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass ihr Einwand keine aufschiebende Wirkung hat und sie nicht von der sofortigen Zahlungs-pflicht entbindet. Im selbigen Schreiben wurde die Fälligkeit der Forderung auf den 31.01.2006 gelegt und der Antragstellerin die zwangsweise Einziehung angekündigt.

Mit Schreiben vom 28.12.2005, eingegangen bei Gericht am 29.12.2005, begehrt die An-tragstellerin die Forderung der Antragsgegnerin bis zum Ende des Verfahrens weiterhin aufzuschieben.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, festzustellen, dass die Anfechtungsklage gemäß Schreiben vom 19.12.2005, eingegangen bei Gericht am 21.12.2005 (Az.: S 6 AS 1358/05), gegen den Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 25.08.2005 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 21.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbeschei-des vom 23.11.2005 aufschiebende Wirkung hat.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass die angefochtene Entscheidung als Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende anzusehen sei und damit der sofortigen Vollziehung nach § 39 SGB II unterliege. Auch eine Aussetzung der Vollziehung komme angesichts der Gesamtlage des Falles nicht in Betracht.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin mit der Stammnummer ... und die Verwaltungsakte der Agentur für Arbeit Pirna mit der Stammnummer ... beigezogen und zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Gerichts-akte ergänzend Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozi-algerichtsgesetz (SGG) analog (vgl. hierzu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auf-lage 2005, § 86b Rn. 5 und 15 m.w.N.) ist begründet.

Die Anfechtungsklage der Antragstellerin gemäß Schreiben vom 19.12.2005, eingegangen bei Gericht am 21.12.2005 (Az.: S 6 AS 1358/05), gegen den Erstattungsbescheid der An-tragsgegnerin vom 25.08.2005 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 21.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.2005 hat aufschiebende Wirkung mit der Folge, dass diese Wirkung angesichts der Nichtbeachtung durch die Antragsgegnerin fest-zustellen ist.

Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 86a Abs. 1 SGG auf-schiebende Wirkung. Die im Regelfall vom Gesetzgeber vorgesehene aufschiebende Wir-kung von Rechtsbehelfen füllt das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) aus. Die aufschiebende Wirkung entfällt entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht in Fällen wie dem hier vorliegenden, in denen die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II nach §§ 45 oder 48 SGB X zurückgenommen oder aufgehoben worden ist oder wird und nunmehr – ggf. wie vorliegendenfalls zeitgleich – Rückforderungsansprüche nach § 50 SGB X durch Erstat-tungsbescheid geltend gemacht werden.

Es liegen insoweit weder die Voraussetzungen des § 86a Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 SGG vor, noch ist eine Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 getroffen worden. Die Auffassung der Antragsgegnerin, dass die aufschiebende Wirkung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 SGB II entfalle, trifft nach Überzeugung des Gerichts nicht zu.

Nach § 39 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet (Nr. 1) oder den Übergang eines Anspruchs bewirkt (Nr. 2) keine aufschiebende Wirkung.

Nach der hier vertretenen Auffassung ist § 39 SGB II auf Erstattungsbescheide nach § 50 SGB X nicht anzuwenden (ebenso im Ergebnis: Conradis in LPK-SGB II, Komm., 2004, § 39 Rn. 7; Pilz, in Gagel, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rn. 9; Berlit, Vorläufiger gerichtli-cher Rechtsschutz im Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitssuchende, Info also 2005, S. 3 ff. (5); Grieger, Vorläufiger Rechtsschutz in Angelegenheiten der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende, ZFSH/SGB, S. 579 ff. (580); Sozialgericht Magdeburg, Beschluss vom 27.10.2005, Az.: S 28 AS 543/05 ER; Sozialgericht Hamburg, Beschluss vom 15.11.2005, Az.: S 55 AS 1397/05 ER).

Die gegenteilige Auffassung (vgl. Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rn. 3, 12; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, Komm., 2004, § 39 Rn. 11, 44; Grö-schel-Gundermann, in: Linhart/Adolph, SGB II, Komm., 2004, § 39 Rn. 2; Sozialgericht Dresden, Beschluss vom 14.12.2005, Az.: S 3 AS 1118/05 ER; wohl auch Seegmüller, in: Estelmann, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rn. 6 und Winkler, in Kruse/Rheinardt/Winkler, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rn. 4) überzeugt nicht.

Ein Erstattungsbescheid nach § 50 SGB X entscheidet allein über eine Rückleistung, die von der Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung ebenso verschieden ist wie ein übergegangener Anspruch (ebenso z.B. Sozialgericht Hamburg, Beschluss vom 15.11.2005, Az.: S 55 AS 1397/05 ER). Der Wortlaut der Vorschrift des § 39 SGB II ist in Bezug auf Rückforderungen nicht eindeutig. Als Ausnahme von der Regel des § 86a Abs. 1 SGG ist § 39 Nr. 1 SGB II vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gebotes des effektiven Rechtsschutzes gemäß § 19 Abs. 4 GG jedoch eng auszulegen (vgl. auch Sozi-algericht Magdeburg, Beschluss vom 27.10.2005, Az.: S 28 AS 543/05 ER). Bei einem weiten Verständnis des § 39 Nr. 1 SGB II wäre die Regelung des § 39 Nr. 2 SGB II zudem im Ergebnis überflüssig, da auch der Übergang von Ansprüchen letztlich Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose betrifft (ebenso Conradis in LPK-SGB II, Komm., 2004, § 39 Rn. 5, 7).

Hätte der Gesetzgeber auch Rückforderungen von § 39 Nr. 1 SGB II umfassen wollen, so hätte er klarer zum Ausdruck bringen müssen, dass insoweit im Bereich des SGB II eine Abweichung von den bisherigen Grundsätzen des Sozialrechts vorgenommen werden soll.

Sowohl im Bereich des Arbeitslosengeldes und der früheren Arbeitslosenhilfe (vgl. § 336a SGB III), als auch im Bereich der Sozialhilfe (vgl. § 93 Abs. 3 SGB XII), fehlt es an einer Parallelvorschrift im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II. Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen Rückforderungsbescheide haben hier entsprechend des Regelfalls aufschiebende Wirkung. Ein plausibler Grund warum der Gesetzgeber insoweit für den Bereich des SGB II möglicherweise eine abweichende Regelung treffen wollte ist nicht ersichtlich. Auch aus der Gesetzesbegründung zu § 39 SGB II (BT-Drucks 15/1516, S. 63) ergeben sich insoweit keine klärenden Anhaltspunkte. Eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfängern einerseits, sowie von Empfängern von Leistungen nach dem SGB II andererseits, wäre vor diesem Hintergrund auch verfassungsrechtlich unter Gleich-heitsgesichtspunkten (Art. 3 Abs. 1 GG) bedenklich (vgl. diesbezüglich auch die Darle-gungen von Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rn. 3, wobei dessen Ansinnen, diesen Bedenken durch eine großzügige Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde - § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG - bzw. durch eine großzügige Anordnung der aufschie-benden Wirkung durch das Gericht - § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG - zu begegnen, im Ergebnis inkonsequent erscheint).

Im Vordergrund der gesetzgeberischen Überlegungen dürfte gestanden haben, dass not-wendige Eingliederungsmaßnahmen nicht durch die Erhebung von Rechtsbehelfen verzö-gert werden, sondern schnellstmöglich durchgeführt werden (vgl. Radüge, in: Schle-gel/Voelzke, jurisPK-SGB II, Komm., 2005, § 39 Rn. 6 m.w.N.). Diesem Normzweck läuft die Annahme des Regelfalls der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfech-tungsklage gegen Rückforderungsbescheide nach § 50 SGB X nicht zu wider.

Die vom Gericht vertretene Auffassung erscheint schließlich vor dem Hintergrund sachge-recht, dass der betroffene Personenkreis in der Regel nicht über die Mittel zur sofortigen Rückzahlung verfügt bzw. eine solche zu Härten führen dürfte, so dass eine regelmäßige Klärung der Rechtmäßigkeit vor der Vollziehung erfolgen sollte (ebenso etwa Sozialge-richt Hamburg, Beschluss vom 15.11.2005, Az.: S 55 AS 1397/05 ER). In Ausnahmefällen bleibt der Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehung unbenommen (z.B. wenn die Gefahr des Vermögensverlustes besteht und damit die Gefährdung der Realisierung der Erstattungsforderung einhergeht).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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