L 1 RJ 142/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 4 RJ 423/01
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 RJ 142/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente ab 1. August 2000.

Der 1946 geborene Kläger, der keinen Beruf erlernt hatte, war in den 60er Jahren als Postbote, Dreher, Raffineriearbeiter und Fahrer, in den 70er Jahren als Fräser, Magaziner, Maschinenarbeiter und Verglaser und zu Beginn der 80er Jahre erneut als Raffineriearbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Von Juli 1986 bis November 1987 absolvierte er mit Erfolg eine vom Arbeitsamt geförderte Umschulung zum Handelsfachpacker (nach seinen Angaben u. a. mit Vermittlung von EDV - und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen sowie mit der Erlangung eines Staplerführerscheins). Ab 1988 war er als Lagerist tätig, zuletzt als Vorarbeiter im Lagerwesen/Kommissionierung im Bereich Warenausgang. Dies war eine angelernte Tätigkeit (Auskünfte der Firma S. GmbH & Co KG vom 25. Oktober 2000 und 3. Mai 2002). Der Kläger war (auf Grund der Tätigkeit und der jahrelangen Erfahrung) in Lohngruppe L 5 des Tarifvertrags des Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel Schleswig-Holstein eingestuft und erhielt eine übertarifliche Zulage

Am 9. Oktober 1995 erlitt der Kläger in der Lagerhalle einen Arbeitsunfall, als ihm ein Gabelstapler über den linken Vorfuß und Mittelfuß fuhr. Wegen der Folgen dieses Unfalls erhält er von der Großhandels - und Lagerei-Berufsgenossenschaft (BG) nach dem Bescheid vom 11. September 1997 eine Teilrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. Anerkannt sind eine Bewegungseinschränkung im linken Fußgelenk, herabgesetzte Belastbarkeit des linken Fußes bei Fußfehlstatik und Gangbildstörung links nach Großzehenamputation links und Fersenbeinbruch sowie Bruch des 1. und 2. Mittelfußknochens links mit der Notwendigkeit, orthopädische Schuhe zu tragen. Außerdem sind eine Einschränkung der Zehenbeweglichkeit links, eine Kalksalzminderung des linken Fußskelettes und eine Schwellung des linken Fußes als Schädigungsfolgen anerkannt. Eine Verschlimmerung des unfallbedingten Leidens ist nach dem Bescheid der BG vom 25. Oktober 2000 nicht eingetreten. Der Grad der Behinderung des Klägers auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts beträgt 30.

Der Kläger, der bis zum 10. Oktober 2000 Verletzten - und dann Arbeitslosengeld erhielt, beantragte am 18. Juli 2000 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Er gab an, Beschwerden im linken Fuß zu haben, der nicht mehr belastungsfähig sei. Längeres Sitzen, Laufen oder Stehen seien ihm nicht möglich. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag nach Einholung der Stellungnahme nach Aktenlage des Chirurgen Dr. S1 vom 1. September 2000 durch Bescheid vom 3. November 2000 ab. Der Kläger leide zwar an Belastungsbeschwerden des linken Fußes mit Gangbildstörung und Belastungsminderung sowie einer geringen Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk und Wackelsteife im unteren Sprunggelenk und könne deshalb die angelernte Tätigkeit eines Vorarbeiters im Lagerwesen nicht mehr verrichten. Er sei aber noch vollschichtig einsatzfähig für überwiegend im Sitzen durchführbare leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten. So vermöge er noch Pack-, Sortier-, Montier- und Etikettierarbeiten zu leisten. Auf diese könne er verwiesen werden. Häufige Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie auf unebenem Boden oder an absturzgefährdeten Stellen schieden aus.

Im anschließenden Vorverfahren führte der Kläger aus, das Tragen von (orthopädischen) Schuhen sei ihm bei vollschichtiger Tätigkeit nicht möglich, weil sein linker Fuß nach zwei Stunden zu kribbeln anfange. Es trete dann ein Gefühl wie bei einer Reizstromtherapie auf, nur heftiger und in Schmerzen übergehend. Das Auftreten sei ihm nur noch unter Schmerzen möglich, sein Konzentrationsvermögen sei hierdurch aufgehoben. Nach der letzten Belastungserprobung habe er diesen und den nächsten Tag nur dadurch durchzustehen vermocht, dass er den Fuß hoch gelegt habe. Zudem trete einer Hornhautbildung unter der Fußsohle auf. Diese mache ihm normales Gehen fast unmöglich und müsse dann ambulant entfernt werden.

Auf Grund dieses Vorbringens holte die Beklagte die Stellungnahme des Chirurgen Dr. S1 vom 16. Januar 2001 ein, dem, wie schon bei seiner früheren Stellungnahme vom 1. September 2000, die wesentlichen Gutachten aus dem berufsgenossenschaftlichen Verfahren, u. a. der neurologische Befundbericht des Dr. H. vom 27. März 2000 (Diagnose: Läsion des Nervus plantaris medialis der Nervus tibialis mit schmerzhaften Missempfindungen bei Belastung), vorlagen. Nach den Ausführungen Dr. S1’s bestand an der Wegefähigkeit des Klägers kein Zweifel. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20. März 2001 zurück. Als Angelernter im oberen Bereich sei der Kläger auf alle anderen Anlerntätigkeiten und auf ungelernte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verweisbar, die sich aus dem Kreis der ungelernten Arbeiten einfacher Art hervorhöben. Er könne Erwerbstätigkeiten als Pack-, Sortier-, Montier- und Etikettierarbeiter vollschichtig verrichten.

Seine Klage vom 12. April 2001, die auf die Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente beschränkt worden ist, hat der Kläger, dessen Arbeitsverhältnis durch Kündigung der Arbeitgeberin zum 30. April 2002 geendet hat, vorrangig darauf gestützt, dass die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten ihm nicht zumutbar seien. Diese Tätigkeiten hätten nur einen ganz geringen qualitativen Wert, sodass er auf sie nicht verwiesen werden dürfe. Zudem seien diese Tätigkeiten keine Berufe, sondern nur Bezeichnungen bloßer Arbeitsverrichtungen oder Arbeitsvorgänge. Die Tätigkeiten zeichneten sich nicht durch besondere Qualitätsmerkmale aus und erforderten keine umfangreiche Einarbeitung. Ihm sei ein derart erheblicher sozialer Abstieg nicht zuzumuten.

Das Sozialgericht hat Befundberichte von dem Nervenarzt Dr. V. und dem Chirurgen Dr. S2 sowie das Gutachten des Orthopäden P. vom 16. April 2003 eingeholt. Nach dem Bericht Dr. S2’s vom 19. Februar 2002 leidet der Kläger an einer erheblichen Minderbelastbarkeit des linken Fußes, einer schmerzhaften Neurombildung mit minderer Belastbarkeit der Fußsohle sowie an einem therapieresistenten Schmerzsyndrom, insbesondere beim Tragen von Sicherheitsschuhen.

Bei der orthopädischen Begutachtung am 15. April 2003, zu der der Kläger mit öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen ist, hat er angegeben, seine orthopädischen Stiefel nicht lange tragen zu können, weil er Kribbelmissempfindungen im linken Vorfußbereich, insbesondere im Bereich der Zehenamputation, und einen Phantomschmerz mit einem Quetschgefühl in Höhe der 1. Zehe verspüre. Er könne nur etwa 30 Minuten lang gehen. Wenn er zu lange gehe, träten Schmerzen in der linken Hüfte und auch Rückenschmerzen auf.

Nach Auffassung des Gutachters P. soll der Kläger nicht ausschließlich oder überwiegend im Gehen oder Stehen arbeiten. Dies vermöge er, unterbrochen durch sitzende Körperhaltung, nur zwei bis drei Stunden arbeitstäglich. In wechselnder Körperhaltung könne er problemlos arbeiten, wobei der sitzende Zeitanteil überwiegen solle. Die Wegefähigkeit sei erhalten. Die Verrichtung von Arbeiten auf Leitern, Gerüsten, unter Absturzgefährdung und auf grob unebenem Untergrund scheide aus. Lasten von sieben Kilogramm, zeitweise auch elf bis zwölf Kilogramm, könne der Kläger beidhändig tragen. Gesundheitlich zumutbare Arbeiten könne er – allerdings nur unter Witterungsschutz - vollschichtig verrichtet werden. Die genannten Einschränkungen bestünden seit Oktober 1995.

Im Termin vom 15. Mai 2003 hat das Sozialgericht, welches den Beteiligten im März 2002 eine berufskundige Stellungnahme des Arbeitsberaters M. über "Arbeiten mit einer körperlichen Belastung bis max. 5-6 kg" hatte zukommen lassen, den medizinischen Sachverständigen P. und als berufskundigen Sachverständigen den Abschnittsleiter bei der Bundesanstalt für Arbeit, S3, gehört, nach dessen Ausführungen der Kläger seine letzte Tätigkeit nicht mehr zu verrichten vermag. Tätigkeiten in Speditionsbetrieben und im Büro verlangten eine Einarbeitung von mehr als drei Monaten, solche als Gabelstaplerfahrer und Kurierfahrer schieden aus gesundheitlichen Gründen aus. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien Tätigkeiten bei der Firma P1 in der Endkontrolle, bei der Firma E. im Verpacken von Nahtmaterial und bei der Firma M1 B. bei der Kugelschreiber- und Federhaltermontage denkbar. Hierfür seien Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden. Die Einarbeitungszeit liege in der Regel bei zehn Tagen, dauere nicht mehrere Wochen.

Daraufhin hat das Sozialgericht die Beklagte durch Urteil vom 15. Mai 2003 verpflichtet, dem Kläger aufgrund eines Leistungsfalles der Antragstellung Berufsunfähigkeitsrente ohne zeitliche Begrenzung zu gewähren. Er könne auf keinerlei Tätigkeiten mehr zumutbar verwiesen werden. Auf Tätigkeiten, die einer bloßen Einweisung oder Einarbeitung bedürften, könne er nicht verwiesen werden. Verweisbar sei er lediglich auf Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung von mindestens drei Monaten erforderten, oder auf solche tariflich gleich gestellte Tätigkeiten. Deshalb schieden die vom berufskundigen Sachverständigen ausgeführten Tätigkeiten, die einer regelmäßigen Einarbeitungszeit von (nur) zehn Tagen bedürften, als Verweisungstätigkeiten aus.

Gegen das ihr am 8. Oktober 2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 29. Oktober 2003 Berufung eingelegt und vorgebracht, das Sozialgericht weiche von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab, indem es Tätigkeiten, die lediglich eine kurze Einweisung oder Einarbeitung erforderten, einem oberen Angelernten für sozial nicht mehr zumutbar erachte. Die in Rede stehenden Verweisungstätigkeiten würden in der Regel wie Anlerntätigkeiten entlohnt und in ihrer Wertigkeit durch die Tarifvertragsparteien sogar über dem gehobenen ungelernten Bereich eingeordnet.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Arbeiten, die sich deutlich aus dem Kreis der ungelernten Arbeiten einfacher Art hervorhöben und auf die er verwiesen werden könnte, seien nicht vorhanden.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Verwaltungsakten der Beklagten nebst Gutachtenakten und der Akten der Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft sowie der Akten Dr. S2 Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, frist- und formgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )). Sie ist auch begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit. Denn er ist nicht berufsunfähig.

Berufsunfähig sind nach § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden – hier anzuwendenden - Fassung Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Bisheriger Beruf des Klägers ist der eines Handelsfachpackers, der als Vorarbeiter (gewerblicher Mitarbeiter) im Bereich Lagerwesen (Warenausgang/Kommissionierung) tätig und in Gruppe 5 des einschlägigen Tarifvertrages Groß- , Ein- und Ausfuhrhandel Schleswig-Holstein, in der ausschließlich Vorarbeiter aufgeführt sind, eingestuft gewesen ist. Diese Lohngruppe liegt unterhalb der Lohngruppe 6, in der u. a. mit dem Elektriker Facharbeiter aufgeführt sind, und oberhalb der Lohngruppe 4, der Einstellungslohngruppe für Staplerfahrer/Lagerarbeiter und Arbeiter am Postband und im Wareneingang (Bereitsteller). Der Kläger ist mithin sowohl nach seiner Ausbildung (als Handelsfachpacker) und Tätigkeit als auch nach seiner tariflichen Einstufung in dem vom BSG entwickelten Berufsgruppenschema als oberer Angelernter zu betrachten. Seinen bisherigen Beruf kann er wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 9. Oktober 1995 zwar nicht mehr verrichten, insbesondere deswegen nicht, weil er längere Steh- und Gehbelastungen nicht mehr tolerieren kann. Er kann als oberer Angelernter aber nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI auf einige der Tätigkeiten verwiesen werden, die ihm die Beklagte benannt hat und die sowohl der Arbeitsberater M. als auch der berufskundige Sachverständige S3 als vom Kläger noch vollschichtig verrichtbar erachtet haben.

Nach dem von der Beklagten herangezogenen Urteil des BSG vom 29. März 1994 (13 RJ 35/93SozR 3-2200 § 1246 Nr. 45) kann ein Angehöriger der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten im oberen Bereich allerdings nicht schlechthin auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden. Ungelernte Tätigkeiten nur ganz geringen qualitativen Wertes scheiden danach als Verweisungstätigkeiten aus. In Betracht kommende Verweisungstätigkeiten müssen sich durch Qualitätsmerkmale, zum Beispiel das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher und betrieblicher Vorkenntnisse, auszeichnen. Solche Tätigkeiten sind in zwar der Regel der Gruppe mit dem Leitbild des Angelernten (unterer Bereich) zuzurechnen. Es kommen aber auch durch Qualitätsmerkmale herausgehobene ungelernte Tätigkeiten als Verweisungstätigkeiten in Betracht. Aus der eingeschränkten Verweisbarkeit folgt, dass mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen ist. Für die konkrete Bezeichnung einer zumutbaren Verweisungstätigkeit reicht es nicht aus, bestimmte Tätigkeiten zusammengefasst als zumutbar zu bezeichnen. Erforderlich ist vielmehr die Benennung eines typischen Arbeitsplatzes mit der üblichen Berufsbezeichnung. Im Einzelnen ist festzustellen, welche Anforderungen in gesundheitlicher und fachlicher Hinsicht diese berufliche Tätigkeit stellt, ob der Versicherte diesen Anforderungen nach seinem gesundheitlichen und geistigen Leistungsvermögen sowie seinem beruflichen Können und Wissen gewachsen und ob er in der Lage ist, die Verweisungstätigkeit innerhalb einer Einarbeitungszeit von höchstens drei Monaten vollwertig auszuüben. Es ist also eine typisierende Arbeitsplatzbeschreibung über den tatsächlichen Umfang der Anforderungen sowie den Arbeitsablauf und typische Belastungssituationen einzuholen. Gegen die Beiziehung von Sachverständigengutachten aus früheren gleich gelagerten Verfahren und deren Verwertung im Wege des Urkundenbeweises bestehen keine Bedenken.

Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen kann der Kläger zumutbar auf die von dem berufskundigen Sachverständigen S3 aufgeführten Tätigkeiten eines Verpackers (chirurgisches Nadel- und Nahtmaterial, Zahnfüllstoffe, Kleinteile ( u. a. Dichtungsringe ) für die Automobilindustrie, Kunststoffkleinteile in der Brillen- und Glasindustrie) und eines Monteurs von Schreibartikeln (Federhalter- und Kugelschreiberfertigung, Pressen, Schränken und Schlitzen von Schreibfedern) verwiesen werden. Dasselbe gilt für Abpackarbeiten in der Ernährungsindustrie bzw. im Handel (z. B. Tee) und einfache Kontroll- und Prüftätigkeiten außerhalb der qualifizierten Güteprüfung (z. B. Gummidichtungen, Metallfedern etc.), wie es durch eine Reihe berufskundiger Sachverständigenaussagen von Arbeitsberatern der Hamburger Agentur für Arbeit gerichtsbekannt geworden ist. Hierbei ist es unerheblich, ob die Einarbeitungszeit i. d. R. zehn Tage, wie der berufskundige Sachverständige S3 ausgeführt hat, oder, wie sich aus der schriftlichen Stellungnahme des berufskundigen Sachverständigen M. ergibt, je nach Anstelligkeit zwei bis zehn Wochen beträgt (letzteres bestätigt eine jüngere, dem Gericht vorliegende Aussage des Arbeitsberaters M2). Denn auch eine erforderliche Einarbeitungs- oder Einweisungszeit von zehn Tagen (zwei Arbeitswochen) hebt diese Tätigkeiten aus ungelernten Tätigkeiten ganz geringen qualitativen Wertes hervor. Im Übrigen bedürfen diese Tätigkeiten jedenfalls keiner Einarbeitungszeit von mehr als drei Monaten. Die Auffassung des Sozialgerichts, dass lediglich auf Tätigkeiten verwiesen werden könne, die eine echte betriebliche Ausbildung von mindestens drei Monaten erforderten oder solchen Tätigkeiten gleichgestellt seien, ist mit der Rechtsprechung des BSG nicht zu vereinbaren. Diese lässt als Qualitätsmerkmal schon eine Einweisung und Einarbeitung genügen. Sie erfordert gerade nicht eine (echte) betriebliche Ausbildung/Einarbeitung/Einweisung von mindestens drei Monaten. Denn das hieße im Ergebnis, dass die Verweisung eines oberen Angelernten ausschließlich auf Tätigkeiten erfolgen dürfte, die zumindest dem unteren angelernten Bereich angehören. Dies geht aus der Rechtsprechung des BSG aber nicht hervor.

Die genannten Verweisungstätigkeiten werden auch von Tarifverträgen erfasst. So wird beispielsweise die Tätigkeit eines Packers nach Lohngruppe 2 des Tarifvertrags für den Groß- und Außenhandel Hamburg und nach Gruppe 2 des Tarifvertrags für den Groß-, Einzel- und Ausfuhrhandel Schleswig-Holstein, dem der Kläger zuletzt unterfiel, vergütet, nach einem Jahr dieser Tätigkeit nach Gruppe 3. Die dem Kläger benannten Verweisungstätigkeiten sind ihm im Rahmen des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI (a. F.) deshalb sozial zumutbar.

Alle diese Tätigkeiten kann der Kläger, dessen Leistungseinschränkungen sich aus den Folgen des Arbeitsunfalls vom Oktober 1995 ergeben, mit dem vorhandenen Restleistungsvermögen noch vollschichtig verrichten. Der berufskundige Sachverständige M. hat in seiner schriftlichen Stellungnahme "Arbeiten mit einer körperlichen Belastung bis maximal fünf bis sechs Kilogramm", auf deren Inhalt Bezug genommen wird, dargestellt, welche gesundheitlichen Anforderungen diese Arbeiten stellen. Diesen Anforderungen entspricht der Kläger. Denn er kann überwiegend im Sitzen, zu ebener Erde und unter Witterungsschutz arbeiten, vermag Lasten sogar bis zu 12 kg Gewicht zu bewegen (Orthopäde P. im Termin vom 15. Mai 2003) und ist nicht nur in der Lage, die am Arbeitsplatz gewöhnlich vorkommenden Wege zurückzulegen, sondern auch generell wegefähig, weil er Fußwege von 500 Meter ohne erhebliche Schmerzen und ohne übermäßige Anstrengung oder erhebliche Gesundheitsgefährdung viermal am Tag in einer Zeit von jeweils weniger als zwanzig Minuten bewältigen kann. Im Übrigen ist der Kläger auch in der Lage, etwaige Hemmungen gegenüber einer Arbeitsaufnahme aus eigener Kraft zu überwinden. Eine tiefer greifende psychische oder neurotische Gesundheitsstörung, die dem entgegenstehen könnte, liegt bei ihm nicht vor. Ob beim Kläger bewusstseinsnahe Aggravationstendenzen gegeben sind, die Dr. H. nicht hat ausschließen wollen, kann hierbei dahingestellt bleiben.

Nach alledem ist der Kläger nicht berufsunfähig iSd § 43 SGB VI (a. F.). Er hat ebenfalls keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 240 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung, weil er die vorstehend genannten Verweisungstätigkeiten zumindest sechs Stunden am Tag – sogar vollschichtig – verrichten kann.

Die Berufung der Beklagten hat daher in vollem Umfang Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen.
Rechtskraft
Aus
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