Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 7 U 119/01
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 U 70/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Riesenzelldystrophie ist keine Quasiberufskrankheit des Balletttänzers.
2. Bei nur vereinzelt vorkommenden Erkrankungen fehlt das statistische Material um eine gruppenspezifische Risikoerhöhung feststellen zu können.
2. Bei nur vereinzelt vorkommenden Erkrankungen fehlt das statistische Material um eine gruppenspezifische Risikoerhöhung feststellen zu können.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 25.04.2002 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für beide Instanzen nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung einer Riesenzelldystrophie als Quasi-Berufskrankheit des Balletttänzers.
Die am ...1965 geborene Klägerin wurde schon während des Schulbesuchs zur Tänzerin ausgebildet, ab 1983 war sie in ihrem Beruf in D ..., ab 1992 in L ... tätig. Am 26.03.1996 wurde bei ihr eine Ermüdungsfraktur am linken Unterschenkel diagnosti-ziert. Diese Gesundheitsstörung, die in der Folge auch aus Osteoidosteom, als Stressfrak-tur und als Periostose bezeichnet wurde, entwickelte sich zu einem chronischen Leiden. Nach lang andauernder Arbeitsunfähigkeit wurde ihr Arbeitsverhältnis 1999 gekündigt, die Klägerin war daraufhin arbeitslos, seit Januar 2001 wurde sie erfolgreich zur Physiothera-peutin umgeschult. Seitdem hat sie keine Beschwerden mehr im Bereich des linken Unter-schenkels.
Die Schmerzen hatten sich schon ab Januar 1996 eingestellt. Im Januar war die Premiere von "Schwanensee" vorgesehen. Nach vorheriger längerer Pause kam es zu verstärktem Training in Vorbereitung dieser Premiere. Die Schmerzen im linken Unterschenkel, die mit einer Schwellung einhergingen, wurden zunächst physiotherapeutisch behandelt. Nachdem das Training nach zwei Wochen Pause wieder aufgenommen wurde, traten die Schmerzen erneut auf. Das Leiden wurde daraufhin mit Stoßwellentherapie und durch Entlastung mit Unterarmstützen behandelt. Nach einer Pause von ca. sechs Wochen nahm die Klägerin das Training nochmals auf, woraufhin sich die Schmerzen wieder einstellten. Sie wurde deswegen am 01.04.1997 in der Orthopädischen Klinik L ... mit Anbohrung der ventralen Tibiakante links operiert. Eine histologische Untersuchung erbrachte keinen Anhalt für einen Tumor oder eine Entzündung. Nach einer Computertomographie wurde auch ein Osteoidosteom ausgeschlossen. Ein weiterer Trainingsversuch im September 1997 führte abermals zu Schmerzen, worauf eine zweite Operation vorgenommen wurde. Eine Rönt-genkontrolle erbrachte einen physiologischen Durchbau, die Schmerzen ließen aber nicht nach.
Die DAK zeigte am 30.03.1999 eine "Periostose des linken Unterschenkels" als Berufs-krankheit an. Ein Zusammenhang mit der beruflichen Belastung wurde ärztlicherseits (Stellungnahmen Prof. Dr. med. S1 ...vom 04.05.2000, Frau Dr. S2 ..., Fachärztin für Orthopädie vom 10.07.2000) allgemein bejaht.
Mit Bescheid vom 15.11.2000 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Erkrankung der linken Tibia als Berufskrankheit ab. Die festgestellte Erkrankung sei in der Berufskrank-heitenliste nicht enthalten. Auch eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII komme nicht in Betracht, da keine gesicherten Erkenntnisse darüber existierten, dass die festgestellte Erkrankung durch die beruflichen Belastungen einer Tänzerin verursacht werden könnten. Den Widerspruch vom 01.12.2000 begründete die Klägerin unter anderem damit, dass eine Fülle von wissenschaftlichen Beiträgen aus dem deutschsprachigen und angloamerikani-schen Raum durchaus darauf hinweise, dass die berufsspezifischen Belastungen von Tän-zern geeignet seien, Stressfrakturen der unteren Extremitäten zu verursachen. Angeheftet war eine Internetrecherche mit ca. 60 wissenschaftlichen Aufsätzen aus den 90er Jahren zu der genannten Problematik.
Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 15.05.2001 als unbegründet zurückgewiesen: Der Verordnungsgeber habe weder aus Anlass der Änderung der Berufskrankheiten- verordnung im Oktober 1997 noch davor die Frage eines möglichen ursächlichen Zusam-menhanges zwischen Erkrankungen an den Extremitäten, insbesondere im Bereich der Hüfte, der Kniegelenke, der Sprunggelenke, der Großzehengelenke sowie retropatellare Chondropathien und Belastungen sowie Überlastungen der Achillessehne und der Tätigkeit als Balletttänzerin geprüft. Zwischenzeitlich lägen keine neuen medizinischen Erkenntnis-se über einen entsprechenden Zusammenhang zwischen der Tätigkeit als Bühnentänzer und den genannten Erkrankungen an den Extremitäten vor.
Die Klage zum Sozialgericht Leipzig wurde damit begründet, dass die Erkrankung sehr wohl berufsbedingt entstanden sei. Sie sei darauf zurückzuführen, dass im Vorfeld einer Premiere, in einer Zeit also mit deutlich höherer körperlicher Belastung und einem größe-ren Arbeits- und Zeitaufwand (Sprungtraining bis zu sieben Stunden) Training und Proben auf dem ungefederten Bühnenboden stattgefunden hätten.
Das Sozialgericht hat daraufhin ein medizinisches Sachverständigengutachten bei Prof. R1 ..., M ...-Universität H ..., in Auftrag gegeben. In seinem Gutachten vom 20.11.2001 stellt er die Diagnose einer Riesenzelldystrophie. Bei der Klägerin liege nicht eine Periostrose und auch nicht eine Überlastungs- oder Stressfrak-tur vor, sondern dieses Krankheitsbild, welches bereits 1931 von Ollonquist unter dem Titel "Kallusbildung am Schienbein ohne Knochenbruch" bei Rekruten beschrieben wor-den sei. Die Riesenzelldystrophie komme bei Tänzern vor. Der Verlauf sei bei der Kläge-rin für diese Erkrankung geradezu klassisch gewesen. Nach einer Zeit verminderten Trai-nings komme es am oberen Drittes des Unterschenkels an der vorderen Schienbeinkante zu Schmerzen. Bei der Untersuchung werde dann diese Stelle als druckempfindlich, ge-schwollen oder erwärmt beschrieben. Solche Symptome seien als ein Warnzeichen für eine Überlastung dieser Stelle anzusehen. Eine solche Überlastung könne durch falsche Tanztechnik, Überforderung oder ungünstige Arbeitsbedingungen (vor allem zu harte Böden) verursacht werden. Wenn man diese Zu-sammenhänge erkenne und dementsprechend die richtige Diagnose stelle, so müsse der Tänzer sofort aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden. Es sei dann zu erwarten, dass die Symptome und Beschwerden abklingen. Wenn bei Wiederaufnahme des Tanzes die nötigen Korrekturen in der Tanztechnik oder in den ungenügenden Arbeitsbedingungen vorgenommen würden, sei damit zu rechnen, dass es nicht zu Rezidiven komme und die Krankheit somit als geheilt bezeichnet werden könne. Im Falle der Klägerin seien aller-dings die Schmerzen und Symptome als lokale Reizung behandelt worden; die Klägerin habe nach Abklingen der Beschwerden ihre Arbeit in unveränderter Form wieder aufge-nommen und es sei dann zu den einschlägigen Veränderungen am Knochen gekommen. Das Röntgenbild zeige eine Verdickung des Knochenschaftes. In einem späteren Stadium entwickelte sich dann ein Riss am Scheitel der Kortikalisverdickung. Auch dieser Zustand sei bei der Klägerin festzustellen gewesen. Im vorliegenden Fall handele es sich geradezu typisch um die Erkrankung der Riesenzell-dystrophie. Der Zusammenhang mit der vorliegenden Belastung sei klar. Der gleiche Zu-sammenhang sei auch bei Hochleistungssportlern oder bei Rekruten möglich. Bei entspre-chender Kenntnis des Krankheitsbildes und entsprechender Entlastung komme es – wie gesagt – zur Ausheilung auch ohne die bei der Klägerin vorgenommenen operativen Be-handlungen.
Möglicherweise habe eine anatomische Besonderheit bei der Klägerin die Entstehung der Krankheit begünstigt. Die Klägerin habe ein physiologisch etwas herabgesetzes "En de-hors". Dies sei eine für den Tanz ganz wichtige Bewegungsform mit der Auswärtsdrehung des Beines in Streckstellung im Hüftgelenk. Diese Bewegung, die im klassischen Tanz mit 60° erforderlich sei, habe bei der Klägerin nur mit 40° gemessen werden können. Bei dem Versuch, diese eingeschränkte Beweglichkeit zu kompensieren, komme es oft vor, die Auswärtsdrehung nicht nur in der Hüfte, sondern durch Kompensationsbewegungen im Knie auszugleichen. Dadurch könne es dann zu einer vermehrten Belastung im Unter-schenkel kommen. Die Riesenzelldystrophie finde sich nicht in der Berufskrankheitenliste. Es sei allerdings bemerkenswert, dass die gleiche Erkrankung bei einem Tänzer der Oper L ... beschrieben worden sei. Auf dem süddeutschen Orthopädenkongress im Jahre 2000 sei über die "Verletzungen beim professionellen Balletttanz – eine retrospektive klinische Studie –" berichtet worden. Es seien von 249 festangestellten Balletttänzern in 14 Ballettkompanien 35 Tänzer und 42 Tänzerinnen untersucht worden. Frakturen im oberen Sprunggelenk, Sehnen-, Kapsel-, Bänderrisse, Muskelfaserrisse, Zerrungen und Prellungen sowie Blockierungen im Bereich der Wirbelsäule hätten dort im Vordergrund gestanden. Die bei der Klägerin zunächst dis-kutierten Diagnosen und Funktionsstörungen "Periostose", "Ermüdungsfraktur" sowie die jetzt erkannte Riesenzelldystrophie seien in jenem Artikel allerdings nicht erwähnt worden.
Es stehe fest, dass die Berufstätigkeit für die Erkrankung ursächlich sei. Allerdings handele es sich insoweit nicht um "neue" Erkenntnisse. Die Riesenzelldystrophie sei eine seltene – gleichwohl seit 1931 bekannte eigenständige Erkrankung, die auch bei anderen beruflichen Belastungen auftrete. In der Literatur der DDR sei einmal ein doppelseitiger Ermüdungsbruch bei einem Ballett-tänzer – allerdings im Bereich der Fibula – anerkannt worden. Hierbei müsse allerdings berücksichtigt werden, dass es sich damals um die BK 75 der DDR-BKVO "Ermüdungs-brüche der Knochen" gehandelt habe. Diese Berufskrankheit gebe es jetzt nur noch als BK 2107 "Abrissbrüche der Wirbelfortsätze".
Gestützt auf das Gutachten von Prof. R1 ... hat das Sozialgericht mit Urteil vom 25.04.2002 der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die bei der Klägerin am linken Schienbein bestehende Riesenzelldystrophie als Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen und ohne Rentenzahlung zu entschädigen. "Neue" Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII seien auch solche objek-tiv "alten" Erkenntnisse, die der Verordnungsgeber bei Erlass der Berufskrankheiten-verordnung nicht kannte und daher nicht berücksichtigen konnte (Hinweis auf den Be-schluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.1981 – 1 BvR 1369/79). So sei es hier. Die seltene Erkrankung der Riesenzelldystrophie sei vom Verordnungsgeber offensichtlich bei der Prüfung eventueller Berufskrankheiten für Balletttänzer übersehen worden. Die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII ziele auf Lückenlosigkeit des Schutzes für alle Versi-cherten, die an einer durch Berufstätigkeit verursachten Krankheit leiden. Die bei der Klä-gerin aufgetretene Erkrankung sei auf ihre berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Sie sei deswegen als Quasi-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. § 9 Abs. 2 SGB VII sei keine General-klausel, die in jedem Fall einer tätigkeitsbedingten Erkrankung eine Entschädigung ermög-liche. Es handele sich auch nicht um eine Härteklausel. Eine Anfrage beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung habe ergeben, dass der Verordnungsgeber weder aus Anlass der BKVO im Oktober 1997 noch davor die Fra-ge eines möglichen ursächlichen Zusammenhanges zwischen Erkrankung an den Extremi-täten und der Tätigkeit als Bühnentänzer geprüft habe. Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 25.04.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 25.04.2002 zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, dass das Vorbringen der Beklagten gerade für die Anerkennung spre-che, denn wenn der Verordnungsgeber die Riesenzelldystrophie gar nicht geprüft, also offensichtlich übersehen habe, seien die Erkenntnisse über ihre berufliche Verursachung, wie es auch schon das Sozialgericht gesehen habe, durchaus als "neu" zu bezeichnen.
In einer Mitteilung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 06.10.2004 wurde noch einmal festgestellt, dass der beim Ministerium gebildete ärztliche Sachverständigenbeirat die Frage des Zusammenhangs eines Ermüdungsbruchs am Schienbein als Folge der Tätigkeit als Balletttänzer bisher nicht geprüft habe. Eine Prüfung sei derzeit auch nicht beabsichtigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die beigezogene Beklagtenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Allein der Umstand, dass die – inzwischen abgeheilte – Erkrankung der Klägerin durch ihre berufliche Tätigkeit als Balletttänzerin ausgelöst wurde, rechtfertigt nicht die Aner-kennung dieser Erkrankung als so genannte "Quasi-Berufskrankheit". Grundsätzlich sind Berufskrankheiten nur solche Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeich-net hat (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Unfallversicherungsträger haben allerdings eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Er-kenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine listenmäßige Bezeichnung als Berufskrankheit erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 SGB VII). Diese sind dann erfüllt, wenn eine Krankheit vorliegt, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausge-setzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). "In erheblich höherem Maße" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der jedoch nicht im Sinne der Risikoverdoppelung zu verstehen ist (BSG, Urteil vom 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R – BSGE 84, 30, 37). Wann der Verordnungsgeber eine Berufskrankheit in die Liste der Berufskrankheiten aufnehmen muss, ist jedoch nicht im Einzelnen gesetzlich bestimmt. Ihm kommt insoweit – in den Grenzen des Willkürver-botes – (vgl. BSG a.a.O. Seite 36) ein gewisser Gestaltungsfreiraum zu. Dieser Gestal-tungsfreiraum besteht bei der Quasi-Berufskrankheit nicht. Sind alle Voraussetzungen er-füllt, die den Verordnungsgeber berechtigen, die Berufskrankheit in die Liste aufzuneh-men, besteht im Einzelfall eine Verpflichtung des Versicherungsträgers, die Erkrankung – im Einzelfall – als Versicherungsfall anzuerkennen (vgl. Schmitt SGB VII, 2. Auflage, 2004, § 9 Rd.-Nr. 28).
Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass für die "Riesenzelldystrophie des Ballett-tänzers" eine "Sperrwirkung" (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 04.06.2002 – B 2 U 20/01 R -) nicht schon deswegen besteht, weil diese Erkrankung und ihre Auslösung durch Überlas-tung bereits seit den 30er Jahren bekannt ist, denn ausweislich der Auskünfte des BMGS hat eine entsprechende Prüfung nicht stattgefunden. Es ist daher systemgerecht, im Geiste der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.1981 – 1 BVR 1369/79 – die entsprechenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse als zumindest für den Ver-ordnungsgeber neu zu bezeichnen. Eine bewusste Ablehnung (vgl. BSG BG 1967/75; BSGE 44/90, 93, 94; BSGE 71, 303) hat nicht stattgefunden. Gleichwohl war weder die Beklagte noch das Sozialgericht verpflichtet, gewissermaßen an Stelle des "säumigen" Verordnungsgebers (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.2000 – B 2 U 42/98 R – SozR 3-2200 § 551 Nr. 14) tätig zu werden. Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 liegen nämlich bei der Riesenzelldystrophie des Balletttänzers zweifelsohne nicht vor. Ausweislich des Gutachtens von Prof. R1 ... handelt es sich um einen sehr seltenen Befund, der bei Tänzern vorkommt und der durch falsche Tanztechnik, Überforderung oder ungünstige Arbeitsbedingungen verursacht sein kann. Bei so vereinzelt auftretenden Erkrankungen fehlt schon das erforderliche statistische Ma-terial um eine gruppenspezifische Risikoerhöhung feststellen zu können. Der Umstand, dass die Riesenzelldystrophie bei Tänzern vorkommt, genügt gerade nicht. Auch Prof. R1 ... hat nichts für ein gehäuftes Auftreten bei Balletttänzern vorgetragen; lediglich für einen weiteren Tänzer an der Oper L ... hat er wegen der Beschreibung die (Fern-) Di-agnose: "Verdacht auf Riesenzelldystrophie" gestellt. Es gibt also weder alte noch neue Erkenntnisse, dass gerade die Riesenzelldystrophie gehäuft bei Balletttänzern auftritt. Der unstreitige Umstand, dass die Tätigkeit eines Balletttänzers vor allem bei Fehlbelastungen geeignet sein kann, die Erkrankung auszulösen, kann die gruppenspezifische Risikoerhö-hung nicht ersetzen.
Die Berufung führte daher zur Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils und zur Wieder-herstellung der ablehnenden Bescheide der Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG hat die Sache nicht deswegen, weil es – soweit ersichtlich – erstmals um die "Quasi-Berufskrankheit Riesenzelldystrophie des Balletttänzers" geht, die Anerkennung einer Quasi-Berufskrankheit hat zunächst vor-rangig nur Bedeutung für den Einzelfall; eine grundsätzliche Bedeutung liegt aber in der Frage, ob generell Krankheiten, die nur vereinzelt auftreten, Quasi-Berufskrankheiten sein können. Die Revision wurde daher gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
II. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für beide Instanzen nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung einer Riesenzelldystrophie als Quasi-Berufskrankheit des Balletttänzers.
Die am ...1965 geborene Klägerin wurde schon während des Schulbesuchs zur Tänzerin ausgebildet, ab 1983 war sie in ihrem Beruf in D ..., ab 1992 in L ... tätig. Am 26.03.1996 wurde bei ihr eine Ermüdungsfraktur am linken Unterschenkel diagnosti-ziert. Diese Gesundheitsstörung, die in der Folge auch aus Osteoidosteom, als Stressfrak-tur und als Periostose bezeichnet wurde, entwickelte sich zu einem chronischen Leiden. Nach lang andauernder Arbeitsunfähigkeit wurde ihr Arbeitsverhältnis 1999 gekündigt, die Klägerin war daraufhin arbeitslos, seit Januar 2001 wurde sie erfolgreich zur Physiothera-peutin umgeschult. Seitdem hat sie keine Beschwerden mehr im Bereich des linken Unter-schenkels.
Die Schmerzen hatten sich schon ab Januar 1996 eingestellt. Im Januar war die Premiere von "Schwanensee" vorgesehen. Nach vorheriger längerer Pause kam es zu verstärktem Training in Vorbereitung dieser Premiere. Die Schmerzen im linken Unterschenkel, die mit einer Schwellung einhergingen, wurden zunächst physiotherapeutisch behandelt. Nachdem das Training nach zwei Wochen Pause wieder aufgenommen wurde, traten die Schmerzen erneut auf. Das Leiden wurde daraufhin mit Stoßwellentherapie und durch Entlastung mit Unterarmstützen behandelt. Nach einer Pause von ca. sechs Wochen nahm die Klägerin das Training nochmals auf, woraufhin sich die Schmerzen wieder einstellten. Sie wurde deswegen am 01.04.1997 in der Orthopädischen Klinik L ... mit Anbohrung der ventralen Tibiakante links operiert. Eine histologische Untersuchung erbrachte keinen Anhalt für einen Tumor oder eine Entzündung. Nach einer Computertomographie wurde auch ein Osteoidosteom ausgeschlossen. Ein weiterer Trainingsversuch im September 1997 führte abermals zu Schmerzen, worauf eine zweite Operation vorgenommen wurde. Eine Rönt-genkontrolle erbrachte einen physiologischen Durchbau, die Schmerzen ließen aber nicht nach.
Die DAK zeigte am 30.03.1999 eine "Periostose des linken Unterschenkels" als Berufs-krankheit an. Ein Zusammenhang mit der beruflichen Belastung wurde ärztlicherseits (Stellungnahmen Prof. Dr. med. S1 ...vom 04.05.2000, Frau Dr. S2 ..., Fachärztin für Orthopädie vom 10.07.2000) allgemein bejaht.
Mit Bescheid vom 15.11.2000 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Erkrankung der linken Tibia als Berufskrankheit ab. Die festgestellte Erkrankung sei in der Berufskrank-heitenliste nicht enthalten. Auch eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII komme nicht in Betracht, da keine gesicherten Erkenntnisse darüber existierten, dass die festgestellte Erkrankung durch die beruflichen Belastungen einer Tänzerin verursacht werden könnten. Den Widerspruch vom 01.12.2000 begründete die Klägerin unter anderem damit, dass eine Fülle von wissenschaftlichen Beiträgen aus dem deutschsprachigen und angloamerikani-schen Raum durchaus darauf hinweise, dass die berufsspezifischen Belastungen von Tän-zern geeignet seien, Stressfrakturen der unteren Extremitäten zu verursachen. Angeheftet war eine Internetrecherche mit ca. 60 wissenschaftlichen Aufsätzen aus den 90er Jahren zu der genannten Problematik.
Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 15.05.2001 als unbegründet zurückgewiesen: Der Verordnungsgeber habe weder aus Anlass der Änderung der Berufskrankheiten- verordnung im Oktober 1997 noch davor die Frage eines möglichen ursächlichen Zusam-menhanges zwischen Erkrankungen an den Extremitäten, insbesondere im Bereich der Hüfte, der Kniegelenke, der Sprunggelenke, der Großzehengelenke sowie retropatellare Chondropathien und Belastungen sowie Überlastungen der Achillessehne und der Tätigkeit als Balletttänzerin geprüft. Zwischenzeitlich lägen keine neuen medizinischen Erkenntnis-se über einen entsprechenden Zusammenhang zwischen der Tätigkeit als Bühnentänzer und den genannten Erkrankungen an den Extremitäten vor.
Die Klage zum Sozialgericht Leipzig wurde damit begründet, dass die Erkrankung sehr wohl berufsbedingt entstanden sei. Sie sei darauf zurückzuführen, dass im Vorfeld einer Premiere, in einer Zeit also mit deutlich höherer körperlicher Belastung und einem größe-ren Arbeits- und Zeitaufwand (Sprungtraining bis zu sieben Stunden) Training und Proben auf dem ungefederten Bühnenboden stattgefunden hätten.
Das Sozialgericht hat daraufhin ein medizinisches Sachverständigengutachten bei Prof. R1 ..., M ...-Universität H ..., in Auftrag gegeben. In seinem Gutachten vom 20.11.2001 stellt er die Diagnose einer Riesenzelldystrophie. Bei der Klägerin liege nicht eine Periostrose und auch nicht eine Überlastungs- oder Stressfrak-tur vor, sondern dieses Krankheitsbild, welches bereits 1931 von Ollonquist unter dem Titel "Kallusbildung am Schienbein ohne Knochenbruch" bei Rekruten beschrieben wor-den sei. Die Riesenzelldystrophie komme bei Tänzern vor. Der Verlauf sei bei der Kläge-rin für diese Erkrankung geradezu klassisch gewesen. Nach einer Zeit verminderten Trai-nings komme es am oberen Drittes des Unterschenkels an der vorderen Schienbeinkante zu Schmerzen. Bei der Untersuchung werde dann diese Stelle als druckempfindlich, ge-schwollen oder erwärmt beschrieben. Solche Symptome seien als ein Warnzeichen für eine Überlastung dieser Stelle anzusehen. Eine solche Überlastung könne durch falsche Tanztechnik, Überforderung oder ungünstige Arbeitsbedingungen (vor allem zu harte Böden) verursacht werden. Wenn man diese Zu-sammenhänge erkenne und dementsprechend die richtige Diagnose stelle, so müsse der Tänzer sofort aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden. Es sei dann zu erwarten, dass die Symptome und Beschwerden abklingen. Wenn bei Wiederaufnahme des Tanzes die nötigen Korrekturen in der Tanztechnik oder in den ungenügenden Arbeitsbedingungen vorgenommen würden, sei damit zu rechnen, dass es nicht zu Rezidiven komme und die Krankheit somit als geheilt bezeichnet werden könne. Im Falle der Klägerin seien aller-dings die Schmerzen und Symptome als lokale Reizung behandelt worden; die Klägerin habe nach Abklingen der Beschwerden ihre Arbeit in unveränderter Form wieder aufge-nommen und es sei dann zu den einschlägigen Veränderungen am Knochen gekommen. Das Röntgenbild zeige eine Verdickung des Knochenschaftes. In einem späteren Stadium entwickelte sich dann ein Riss am Scheitel der Kortikalisverdickung. Auch dieser Zustand sei bei der Klägerin festzustellen gewesen. Im vorliegenden Fall handele es sich geradezu typisch um die Erkrankung der Riesenzell-dystrophie. Der Zusammenhang mit der vorliegenden Belastung sei klar. Der gleiche Zu-sammenhang sei auch bei Hochleistungssportlern oder bei Rekruten möglich. Bei entspre-chender Kenntnis des Krankheitsbildes und entsprechender Entlastung komme es – wie gesagt – zur Ausheilung auch ohne die bei der Klägerin vorgenommenen operativen Be-handlungen.
Möglicherweise habe eine anatomische Besonderheit bei der Klägerin die Entstehung der Krankheit begünstigt. Die Klägerin habe ein physiologisch etwas herabgesetzes "En de-hors". Dies sei eine für den Tanz ganz wichtige Bewegungsform mit der Auswärtsdrehung des Beines in Streckstellung im Hüftgelenk. Diese Bewegung, die im klassischen Tanz mit 60° erforderlich sei, habe bei der Klägerin nur mit 40° gemessen werden können. Bei dem Versuch, diese eingeschränkte Beweglichkeit zu kompensieren, komme es oft vor, die Auswärtsdrehung nicht nur in der Hüfte, sondern durch Kompensationsbewegungen im Knie auszugleichen. Dadurch könne es dann zu einer vermehrten Belastung im Unter-schenkel kommen. Die Riesenzelldystrophie finde sich nicht in der Berufskrankheitenliste. Es sei allerdings bemerkenswert, dass die gleiche Erkrankung bei einem Tänzer der Oper L ... beschrieben worden sei. Auf dem süddeutschen Orthopädenkongress im Jahre 2000 sei über die "Verletzungen beim professionellen Balletttanz – eine retrospektive klinische Studie –" berichtet worden. Es seien von 249 festangestellten Balletttänzern in 14 Ballettkompanien 35 Tänzer und 42 Tänzerinnen untersucht worden. Frakturen im oberen Sprunggelenk, Sehnen-, Kapsel-, Bänderrisse, Muskelfaserrisse, Zerrungen und Prellungen sowie Blockierungen im Bereich der Wirbelsäule hätten dort im Vordergrund gestanden. Die bei der Klägerin zunächst dis-kutierten Diagnosen und Funktionsstörungen "Periostose", "Ermüdungsfraktur" sowie die jetzt erkannte Riesenzelldystrophie seien in jenem Artikel allerdings nicht erwähnt worden.
Es stehe fest, dass die Berufstätigkeit für die Erkrankung ursächlich sei. Allerdings handele es sich insoweit nicht um "neue" Erkenntnisse. Die Riesenzelldystrophie sei eine seltene – gleichwohl seit 1931 bekannte eigenständige Erkrankung, die auch bei anderen beruflichen Belastungen auftrete. In der Literatur der DDR sei einmal ein doppelseitiger Ermüdungsbruch bei einem Ballett-tänzer – allerdings im Bereich der Fibula – anerkannt worden. Hierbei müsse allerdings berücksichtigt werden, dass es sich damals um die BK 75 der DDR-BKVO "Ermüdungs-brüche der Knochen" gehandelt habe. Diese Berufskrankheit gebe es jetzt nur noch als BK 2107 "Abrissbrüche der Wirbelfortsätze".
Gestützt auf das Gutachten von Prof. R1 ... hat das Sozialgericht mit Urteil vom 25.04.2002 der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die bei der Klägerin am linken Schienbein bestehende Riesenzelldystrophie als Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen und ohne Rentenzahlung zu entschädigen. "Neue" Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII seien auch solche objek-tiv "alten" Erkenntnisse, die der Verordnungsgeber bei Erlass der Berufskrankheiten-verordnung nicht kannte und daher nicht berücksichtigen konnte (Hinweis auf den Be-schluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.1981 – 1 BvR 1369/79). So sei es hier. Die seltene Erkrankung der Riesenzelldystrophie sei vom Verordnungsgeber offensichtlich bei der Prüfung eventueller Berufskrankheiten für Balletttänzer übersehen worden. Die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII ziele auf Lückenlosigkeit des Schutzes für alle Versi-cherten, die an einer durch Berufstätigkeit verursachten Krankheit leiden. Die bei der Klä-gerin aufgetretene Erkrankung sei auf ihre berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Sie sei deswegen als Quasi-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. § 9 Abs. 2 SGB VII sei keine General-klausel, die in jedem Fall einer tätigkeitsbedingten Erkrankung eine Entschädigung ermög-liche. Es handele sich auch nicht um eine Härteklausel. Eine Anfrage beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung habe ergeben, dass der Verordnungsgeber weder aus Anlass der BKVO im Oktober 1997 noch davor die Fra-ge eines möglichen ursächlichen Zusammenhanges zwischen Erkrankung an den Extremi-täten und der Tätigkeit als Bühnentänzer geprüft habe. Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 25.04.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 25.04.2002 zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, dass das Vorbringen der Beklagten gerade für die Anerkennung spre-che, denn wenn der Verordnungsgeber die Riesenzelldystrophie gar nicht geprüft, also offensichtlich übersehen habe, seien die Erkenntnisse über ihre berufliche Verursachung, wie es auch schon das Sozialgericht gesehen habe, durchaus als "neu" zu bezeichnen.
In einer Mitteilung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 06.10.2004 wurde noch einmal festgestellt, dass der beim Ministerium gebildete ärztliche Sachverständigenbeirat die Frage des Zusammenhangs eines Ermüdungsbruchs am Schienbein als Folge der Tätigkeit als Balletttänzer bisher nicht geprüft habe. Eine Prüfung sei derzeit auch nicht beabsichtigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die beigezogene Beklagtenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Allein der Umstand, dass die – inzwischen abgeheilte – Erkrankung der Klägerin durch ihre berufliche Tätigkeit als Balletttänzerin ausgelöst wurde, rechtfertigt nicht die Aner-kennung dieser Erkrankung als so genannte "Quasi-Berufskrankheit". Grundsätzlich sind Berufskrankheiten nur solche Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeich-net hat (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Unfallversicherungsträger haben allerdings eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Er-kenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine listenmäßige Bezeichnung als Berufskrankheit erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 SGB VII). Diese sind dann erfüllt, wenn eine Krankheit vorliegt, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausge-setzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). "In erheblich höherem Maße" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der jedoch nicht im Sinne der Risikoverdoppelung zu verstehen ist (BSG, Urteil vom 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R – BSGE 84, 30, 37). Wann der Verordnungsgeber eine Berufskrankheit in die Liste der Berufskrankheiten aufnehmen muss, ist jedoch nicht im Einzelnen gesetzlich bestimmt. Ihm kommt insoweit – in den Grenzen des Willkürver-botes – (vgl. BSG a.a.O. Seite 36) ein gewisser Gestaltungsfreiraum zu. Dieser Gestal-tungsfreiraum besteht bei der Quasi-Berufskrankheit nicht. Sind alle Voraussetzungen er-füllt, die den Verordnungsgeber berechtigen, die Berufskrankheit in die Liste aufzuneh-men, besteht im Einzelfall eine Verpflichtung des Versicherungsträgers, die Erkrankung – im Einzelfall – als Versicherungsfall anzuerkennen (vgl. Schmitt SGB VII, 2. Auflage, 2004, § 9 Rd.-Nr. 28).
Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass für die "Riesenzelldystrophie des Ballett-tänzers" eine "Sperrwirkung" (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 04.06.2002 – B 2 U 20/01 R -) nicht schon deswegen besteht, weil diese Erkrankung und ihre Auslösung durch Überlas-tung bereits seit den 30er Jahren bekannt ist, denn ausweislich der Auskünfte des BMGS hat eine entsprechende Prüfung nicht stattgefunden. Es ist daher systemgerecht, im Geiste der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.1981 – 1 BVR 1369/79 – die entsprechenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse als zumindest für den Ver-ordnungsgeber neu zu bezeichnen. Eine bewusste Ablehnung (vgl. BSG BG 1967/75; BSGE 44/90, 93, 94; BSGE 71, 303) hat nicht stattgefunden. Gleichwohl war weder die Beklagte noch das Sozialgericht verpflichtet, gewissermaßen an Stelle des "säumigen" Verordnungsgebers (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.2000 – B 2 U 42/98 R – SozR 3-2200 § 551 Nr. 14) tätig zu werden. Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 liegen nämlich bei der Riesenzelldystrophie des Balletttänzers zweifelsohne nicht vor. Ausweislich des Gutachtens von Prof. R1 ... handelt es sich um einen sehr seltenen Befund, der bei Tänzern vorkommt und der durch falsche Tanztechnik, Überforderung oder ungünstige Arbeitsbedingungen verursacht sein kann. Bei so vereinzelt auftretenden Erkrankungen fehlt schon das erforderliche statistische Ma-terial um eine gruppenspezifische Risikoerhöhung feststellen zu können. Der Umstand, dass die Riesenzelldystrophie bei Tänzern vorkommt, genügt gerade nicht. Auch Prof. R1 ... hat nichts für ein gehäuftes Auftreten bei Balletttänzern vorgetragen; lediglich für einen weiteren Tänzer an der Oper L ... hat er wegen der Beschreibung die (Fern-) Di-agnose: "Verdacht auf Riesenzelldystrophie" gestellt. Es gibt also weder alte noch neue Erkenntnisse, dass gerade die Riesenzelldystrophie gehäuft bei Balletttänzern auftritt. Der unstreitige Umstand, dass die Tätigkeit eines Balletttänzers vor allem bei Fehlbelastungen geeignet sein kann, die Erkrankung auszulösen, kann die gruppenspezifische Risikoerhö-hung nicht ersetzen.
Die Berufung führte daher zur Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils und zur Wieder-herstellung der ablehnenden Bescheide der Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG hat die Sache nicht deswegen, weil es – soweit ersichtlich – erstmals um die "Quasi-Berufskrankheit Riesenzelldystrophie des Balletttänzers" geht, die Anerkennung einer Quasi-Berufskrankheit hat zunächst vor-rangig nur Bedeutung für den Einzelfall; eine grundsätzliche Bedeutung liegt aber in der Frage, ob generell Krankheiten, die nur vereinzelt auftreten, Quasi-Berufskrankheiten sein können. Die Revision wurde daher gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
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