Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 9 BL 8/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 5/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 28.11.2002 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin seit 01.04.1997 Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) zusteht.
Bei der 1946 geborenen Klägerin kam es 1990 zu einem infarktbedingten minutenlangen Herzstillstand und wegen des dabei aufgetretenen Sauerstoffmangels zu einer irreversiblen Schädigung der Gehirnrinde; die Klägerin befindet sich seither im sog. Wachkoma (apallisches Syndrom).
Im April 1997 beantragte die Klägerin durch ihren Ehemann/Betreuer beim Beklagten die Gewährung von Blindengeld.
Der Beklagte zog einen Bericht des Augenarztes S.B. vom 23.07.1997 bei und holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Augenarztes Dr. S. vom 01.09.1997 sowie ein versorgungsärztliches Gutachten des Augenarztes Dr.K. vom 28.02.1998 ein; ein weiteres Gutachten erstattete im Auftrag des Beklagten die Augenärztin Dr.L. (Oberärztin an der Augenklinik der Technischen Universität M.) am 04.01.2000.
Während Dr. S. wegen einer fast totalen Optikusatrophie mit Pupillenstarre das Vorliegen von Blindheit bejahte, verneinten Dr.K. und Dr.L. dies mit der Begründung, wesentliche Schäden lägen auf augenärztlichem Gebiet nicht vor; das weitgehende Fehlen der visuellen Wahrnehmung beruhe auf außerhalb des Sehorgans gelegenen cerebralen Schäden.
Mit Bescheid vom 15.02.2000 lehnte der Beklagte daraufhin die Zahlung von Blindengeld an die Klägerin ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen (Dr. S. 29.05.2000; Dr.L. 11.07.2000) mit Widerspruchsbescheid vom 01.08.2000 zurück.
Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Landshut Klage erhoben und beantragt, ihr ab Antragstellung Blindengeld zu gewähren: Der Beklagte verkenne, dass der Begriff der Blindheit auch dann erfüllt sei, wenn - wie in ihrem Fall - bei weitgehend intaktem Sehorgan das Fehlen der visuellen Wahrnehmung durch höher gelegene cerebrale Schäden infolge der massiven Hirnschädigung bedingt sei. Da es nur auf die Tatsache des Unvermögens visueller Wahrnehmung und nicht darauf ankomme, auf welchen Gründen (Schäden des Sehorgans oder andere cerebrale Schäden) dies beruhe, habe sie Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Bestätigt werde diese Auffassung sowohl durch das Bundessozialgericht (BSG, 30.01.1995, 1 RS 1/93) als auch z.B. durch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW, 23.07.1991, L 6 (7) V 245/90).
Das Sozialgericht hat die einschlägigen, die Klägerin betreffenden Akten des Beklagten (Blindengeld- und Schwerbehinderten-Akte) beigezogen und mit Gerichtsbescheid vom 28.11.2002 die Klage abgewiesen: Aus den Gesetzesmaterialien zu Art.1 BayBlindG (Drucksache Nr.13/458 des Bayerischen Landtages vom 16.02.1995) ergebe sich, dass die "Blindheit" auf einem Defekt im optischen Apparat bzw. in der Verarbeitung optischer Reize beruhen müsse und andere hirnorganische Störungen keine Blindheit im Sinne des Gesetzes bedingten. Demzufolge liege bei der Klägerin, bei der keine dem augenärztlichen Bereich (Augen, Sehnerven, Sehrinde) zuzurechnenden Schädigungen festgestellt worden seien, zwar aufgrund der hochgradigen cerebralen Schädigung mit apallischem Syndrom eine generelle Wahrnehmungsstörung, nicht aber eine anspruchsbegründende Blindheit vor.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat die Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt: Der optische Apparat könne allein nicht sehen, auch wenn er vollständig intakt sei. Erst die Verarbeitung optischer Wahrnehmungen im Gehirn ermögliche das Sehen. Daraus sei zu folgern, dass das Gehirn ebenfalls zum optischen Apparat gehöre. Wenn aufgrund einer Hirnschädigung die Umsetzung visueller Informationen wie in ihrem Fall nicht mehr möglich sei, liege deshalb ebenfalls Blindheit im Sinne des Gesetzes vor. Nach Zuleitung des Urteils des BSG vom 20.07.2005 (B 9a BL 1/05 R) an die Beteiligten hat die Klägerin angeregt, durch Einholung eines neurologischen Gutachtens abzuklären, inwieweit das Zusammenspiel von "Erkennen-Können" und "Benennen-Können" visueller Informationen aufgrund der cerebralen Beeinträchtigung nicht funktioniere.
Mit Schreiben vom 11.11./26.11.2005 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den zuständigen Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 155 Abs.4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Landshut vom 28.11.2002 sowie des Bescheides vom 15.02.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2000 zu verurteilen, ihr ab 01.04.1997 Blindengeld zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil der Sach- und Rechtslage entspreche.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten des Beklagten (Blindengeld- und Schwerbehindertenakte der Klägerin) sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig (Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V.m. § 143, 151 SGG), sie ist jedoch nicht begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das Sozialgericht im Ergebnis mit Recht verneint.
Gemäß Art.1 Abs.1 BayBlindG erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art.1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG).
Als blind gelten gemäß Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleich zu achten sind.
Der Klägerin fehlt, wie sich u.a. aus der in der Augenklinik der Technischen Universität M. (Gutachten Dr.L. vom 04.01.2000) festgestellten Pupillenlichtreaktion und der VEP - Messungen (VEP = visuell evozierte Potentiale) ergibt, das Augenlicht nicht völlig.
Auch der Nachweis von Blindheit im Sinne von Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 BayBlindG kann nicht geführt werden. Denn die Reduzierung der Sehschärfe - also des Auflösungsvermögens des Auges - auf maximal 1/50 auf dem besseren Auge muss durch Messungen/Tests, die den Anforderungen des Vollbeweises genügen, festgestellt sein. Exakte Mess- und Testergebnisse sind bei der Klägerin aufgrund des apallischen Syndroms aber nicht zu erhalten.
Die Voraussetzungen der Nr.2 des Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG sind ebenfalls nicht erfüllt. Eine "faktische" Blindheit im Sinne dieser Vorschrift kann nach der Rechtsprechung des BSG (31.01.1995, 1 RS 1/93 = SozR 3-5920 § 1 Nr.1; 26.10.2004, B 7 SF 2/03 R; 20.07.2005, B 9a BL 1/05 R) auch auf cerebralen Schäden beruhen, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d.h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht.
Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden ist darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten. Bei einem vollständigen apallischen Syndrom ist dies nicht der Fall (BSG vom 20.07.2005).
Diese vom BSG herausgearbeitete zusätzliche Differenzierung beim Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden entspricht dem aus den Motiven zum BayBlindG (Landtagsdrucksache 13/458 vom 16.02.1995, S.5) sich ergebenden Willen des Landesgesetzgebers insoweit, als dieser Leistungen nach dem BayBlindG aufgrund einer ausschließlich infolge einer generellen cerebralen Behinderung mit allgemeiner Herabsetzung der kognitiven Fähigkeiten bestehenden Unfähigkeit zur visuellen Wahrnehmung ausschließen wollte.
Bei der Klägerin liegt eine derartige generelle cerebrale Behinderung mit im Wesentlichen gleichmäßiger und allgemeiner Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit sensorischer Reize vor. Infolge der durch Sauerstoffmangel nach zeitweiligem Herzstillstand (1990) aufgetretenen cerebralen Schäden befindet sich die Klägerin im sog. "Wachkoma" (apallisches Syndrom). Das Vollbild eines solchen Syndroms ist gekennzeichnet durch den vollständigen Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit, also permanente Bewusstlosigkeit, bei Erhalt der vegetativen Körperfunktionen.
Die in den Akten enthaltenen medizinischen Unterlagen belegen, dass bei der Klägerin ein dem Vollbild des apallischen Syndroms angenäherter Zustand vorliegt. Reaktionen auf sensible Reize sind nur in ganz rudimentärer, schwacher Form vorhanden; deutliche Unterschiede in der Funktionsfähigkeit der verschiedenen Sinnesmodalitäten bestehen nicht.
Da somit der Nachweis, dass die cerebrale Verarbeitung des sensorischen visuellen Inputs bereits auf der Stufe des Erkennens nicht stattfindet, nicht zu erbringen ist, war - dem Grundsatz der objektiven Beweislast entsprechend (vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 8. Auflage, Rdnr.19a zu § 103) - die Berufung der Klägerin gegen den angefochtenen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut zurückzuweisen.
Das von der Klägerseite zitierte Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.07.1991, das im Übrigen im Bereich der Kriegsopferversorgung erging, vermag - insbesondere im Hinblick auf das o.a. Urteil des BSG vom 20.07.2005 - die gegenteilige Auffassung nicht zu begründen. Für die von der Klägerin angeregten weiteren gutachtlichen Ermittlungen bestand u.a. wegen dieser Entscheidung ebenfalls kein Anlass.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Der Senat konnte durch den zuständigen Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden (§ 155 Abs.3, 4 SGG), weil die Beteiligten dazu ihr Einverständnis erklärt haben.
Zur Zulassung der Revision bestand im Hinblick auf die o.a. Rechtsprechung des BSG kein Anlass.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin seit 01.04.1997 Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) zusteht.
Bei der 1946 geborenen Klägerin kam es 1990 zu einem infarktbedingten minutenlangen Herzstillstand und wegen des dabei aufgetretenen Sauerstoffmangels zu einer irreversiblen Schädigung der Gehirnrinde; die Klägerin befindet sich seither im sog. Wachkoma (apallisches Syndrom).
Im April 1997 beantragte die Klägerin durch ihren Ehemann/Betreuer beim Beklagten die Gewährung von Blindengeld.
Der Beklagte zog einen Bericht des Augenarztes S.B. vom 23.07.1997 bei und holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Augenarztes Dr. S. vom 01.09.1997 sowie ein versorgungsärztliches Gutachten des Augenarztes Dr.K. vom 28.02.1998 ein; ein weiteres Gutachten erstattete im Auftrag des Beklagten die Augenärztin Dr.L. (Oberärztin an der Augenklinik der Technischen Universität M.) am 04.01.2000.
Während Dr. S. wegen einer fast totalen Optikusatrophie mit Pupillenstarre das Vorliegen von Blindheit bejahte, verneinten Dr.K. und Dr.L. dies mit der Begründung, wesentliche Schäden lägen auf augenärztlichem Gebiet nicht vor; das weitgehende Fehlen der visuellen Wahrnehmung beruhe auf außerhalb des Sehorgans gelegenen cerebralen Schäden.
Mit Bescheid vom 15.02.2000 lehnte der Beklagte daraufhin die Zahlung von Blindengeld an die Klägerin ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen (Dr. S. 29.05.2000; Dr.L. 11.07.2000) mit Widerspruchsbescheid vom 01.08.2000 zurück.
Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Landshut Klage erhoben und beantragt, ihr ab Antragstellung Blindengeld zu gewähren: Der Beklagte verkenne, dass der Begriff der Blindheit auch dann erfüllt sei, wenn - wie in ihrem Fall - bei weitgehend intaktem Sehorgan das Fehlen der visuellen Wahrnehmung durch höher gelegene cerebrale Schäden infolge der massiven Hirnschädigung bedingt sei. Da es nur auf die Tatsache des Unvermögens visueller Wahrnehmung und nicht darauf ankomme, auf welchen Gründen (Schäden des Sehorgans oder andere cerebrale Schäden) dies beruhe, habe sie Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Bestätigt werde diese Auffassung sowohl durch das Bundessozialgericht (BSG, 30.01.1995, 1 RS 1/93) als auch z.B. durch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW, 23.07.1991, L 6 (7) V 245/90).
Das Sozialgericht hat die einschlägigen, die Klägerin betreffenden Akten des Beklagten (Blindengeld- und Schwerbehinderten-Akte) beigezogen und mit Gerichtsbescheid vom 28.11.2002 die Klage abgewiesen: Aus den Gesetzesmaterialien zu Art.1 BayBlindG (Drucksache Nr.13/458 des Bayerischen Landtages vom 16.02.1995) ergebe sich, dass die "Blindheit" auf einem Defekt im optischen Apparat bzw. in der Verarbeitung optischer Reize beruhen müsse und andere hirnorganische Störungen keine Blindheit im Sinne des Gesetzes bedingten. Demzufolge liege bei der Klägerin, bei der keine dem augenärztlichen Bereich (Augen, Sehnerven, Sehrinde) zuzurechnenden Schädigungen festgestellt worden seien, zwar aufgrund der hochgradigen cerebralen Schädigung mit apallischem Syndrom eine generelle Wahrnehmungsstörung, nicht aber eine anspruchsbegründende Blindheit vor.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat die Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt: Der optische Apparat könne allein nicht sehen, auch wenn er vollständig intakt sei. Erst die Verarbeitung optischer Wahrnehmungen im Gehirn ermögliche das Sehen. Daraus sei zu folgern, dass das Gehirn ebenfalls zum optischen Apparat gehöre. Wenn aufgrund einer Hirnschädigung die Umsetzung visueller Informationen wie in ihrem Fall nicht mehr möglich sei, liege deshalb ebenfalls Blindheit im Sinne des Gesetzes vor. Nach Zuleitung des Urteils des BSG vom 20.07.2005 (B 9a BL 1/05 R) an die Beteiligten hat die Klägerin angeregt, durch Einholung eines neurologischen Gutachtens abzuklären, inwieweit das Zusammenspiel von "Erkennen-Können" und "Benennen-Können" visueller Informationen aufgrund der cerebralen Beeinträchtigung nicht funktioniere.
Mit Schreiben vom 11.11./26.11.2005 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den zuständigen Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 155 Abs.4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Landshut vom 28.11.2002 sowie des Bescheides vom 15.02.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2000 zu verurteilen, ihr ab 01.04.1997 Blindengeld zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil der Sach- und Rechtslage entspreche.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten des Beklagten (Blindengeld- und Schwerbehindertenakte der Klägerin) sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig (Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V.m. § 143, 151 SGG), sie ist jedoch nicht begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das Sozialgericht im Ergebnis mit Recht verneint.
Gemäß Art.1 Abs.1 BayBlindG erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art.1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG).
Als blind gelten gemäß Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleich zu achten sind.
Der Klägerin fehlt, wie sich u.a. aus der in der Augenklinik der Technischen Universität M. (Gutachten Dr.L. vom 04.01.2000) festgestellten Pupillenlichtreaktion und der VEP - Messungen (VEP = visuell evozierte Potentiale) ergibt, das Augenlicht nicht völlig.
Auch der Nachweis von Blindheit im Sinne von Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 BayBlindG kann nicht geführt werden. Denn die Reduzierung der Sehschärfe - also des Auflösungsvermögens des Auges - auf maximal 1/50 auf dem besseren Auge muss durch Messungen/Tests, die den Anforderungen des Vollbeweises genügen, festgestellt sein. Exakte Mess- und Testergebnisse sind bei der Klägerin aufgrund des apallischen Syndroms aber nicht zu erhalten.
Die Voraussetzungen der Nr.2 des Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG sind ebenfalls nicht erfüllt. Eine "faktische" Blindheit im Sinne dieser Vorschrift kann nach der Rechtsprechung des BSG (31.01.1995, 1 RS 1/93 = SozR 3-5920 § 1 Nr.1; 26.10.2004, B 7 SF 2/03 R; 20.07.2005, B 9a BL 1/05 R) auch auf cerebralen Schäden beruhen, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d.h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht.
Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden ist darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten. Bei einem vollständigen apallischen Syndrom ist dies nicht der Fall (BSG vom 20.07.2005).
Diese vom BSG herausgearbeitete zusätzliche Differenzierung beim Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden entspricht dem aus den Motiven zum BayBlindG (Landtagsdrucksache 13/458 vom 16.02.1995, S.5) sich ergebenden Willen des Landesgesetzgebers insoweit, als dieser Leistungen nach dem BayBlindG aufgrund einer ausschließlich infolge einer generellen cerebralen Behinderung mit allgemeiner Herabsetzung der kognitiven Fähigkeiten bestehenden Unfähigkeit zur visuellen Wahrnehmung ausschließen wollte.
Bei der Klägerin liegt eine derartige generelle cerebrale Behinderung mit im Wesentlichen gleichmäßiger und allgemeiner Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit sensorischer Reize vor. Infolge der durch Sauerstoffmangel nach zeitweiligem Herzstillstand (1990) aufgetretenen cerebralen Schäden befindet sich die Klägerin im sog. "Wachkoma" (apallisches Syndrom). Das Vollbild eines solchen Syndroms ist gekennzeichnet durch den vollständigen Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit, also permanente Bewusstlosigkeit, bei Erhalt der vegetativen Körperfunktionen.
Die in den Akten enthaltenen medizinischen Unterlagen belegen, dass bei der Klägerin ein dem Vollbild des apallischen Syndroms angenäherter Zustand vorliegt. Reaktionen auf sensible Reize sind nur in ganz rudimentärer, schwacher Form vorhanden; deutliche Unterschiede in der Funktionsfähigkeit der verschiedenen Sinnesmodalitäten bestehen nicht.
Da somit der Nachweis, dass die cerebrale Verarbeitung des sensorischen visuellen Inputs bereits auf der Stufe des Erkennens nicht stattfindet, nicht zu erbringen ist, war - dem Grundsatz der objektiven Beweislast entsprechend (vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 8. Auflage, Rdnr.19a zu § 103) - die Berufung der Klägerin gegen den angefochtenen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut zurückzuweisen.
Das von der Klägerseite zitierte Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.07.1991, das im Übrigen im Bereich der Kriegsopferversorgung erging, vermag - insbesondere im Hinblick auf das o.a. Urteil des BSG vom 20.07.2005 - die gegenteilige Auffassung nicht zu begründen. Für die von der Klägerin angeregten weiteren gutachtlichen Ermittlungen bestand u.a. wegen dieser Entscheidung ebenfalls kein Anlass.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Der Senat konnte durch den zuständigen Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden (§ 155 Abs.3, 4 SGG), weil die Beteiligten dazu ihr Einverständnis erklärt haben.
Zur Zulassung der Revision bestand im Hinblick auf die o.a. Rechtsprechung des BSG kein Anlass.
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