L 19 R 647/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 4 RJ 219/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 647/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 22.11.2002 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2002 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2001 zu gewähren.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Beginn einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1942 geborene Klägerin hat nach ihren Angaben den Beruf der Einzelhandels-Kauffrau erlernt (Prüfung 1959), war aber nur bis 1963 in diesem Beruf tätig. Sie war zuletzt von Juni 1983 bis Januar 2001 als Wäschereiarbeiterin (Waschen, Bügeln, Aufbewahren der Wäsche) in einem Altenheim versicherungspflichtig beschäftigt.

Am 07.09.2001 beantragte sie die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Zuvor hatte sie sich vom 31.05. bis 16.06.2001 einer stationären Heilmaßnahme in Bad A. unterzogen. In Auswertung des Entlassungsberichts vom 26.06.2001 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 26.09.2001 ab, da die Klägerin nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert sei.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und verwies auf ihre massiven orthopädischen Gesundheitsstörungen. Die Beklagte ließ sie untersuchen durch den Chirurgen Dr.R. , den Internisten Dr.H. und die Nervenärztin Dr.F ... Die Sachverständigen kamen am 10.01.2002 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin noch für leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus in Vollschicht einsetzbar sei. Es sollte sich um geistig einfache Tätigkeiten handeln, Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen sollten vermieden werden. Die Wegefähigkeit sei erhalten. Die Umstellungsfähigkeit für geistig einfache Tätigkeiten sei noch gegeben. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 28.02.2002 zurück. Die Klägerin könne unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 28.03.2002 Klage beim Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben und erneut (und ausschließlich) auf massive orthopädische Störungen hingewiesen, welche es ihr unmöglich machten, einer Erwerbstätigkeit mit Regelmäßigkeit nachzugehen. Das SG hat Befundberichte des Orthopäden Dr.F. , des Orthopäden Dr.P. und des Allgemeinarztes Dr.O. zum Verfahren beigenommen. Auf Veranlassung des SG hat der Internist und Sozialmediziner Dr.G. das Gutachten vom 22.11.2002 erstattet. Er hat als Diagnosen genannt: Abnutzungserscheinungen am Skelettsystem, insbesondere an der Wirbelsäule und in den Hüft- und Kniegelenken, Funktionseinschränkung im rechten Schultergelenk, toxisch-nutritiver Leberparenchymschaden, leichtes Übergewicht. Im Vordergrund stünden bei der Klägerin die Beschwerden und Beeinträchtigungen seitens des Bewegungsapparates, Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule sowie auch in den Hüft- und Kniegelenken seien nachgewiesen. Eine hinreichende Umstellungsfähigkeit sei nur noch für äußerst einfache Tätigkeiten gegeben, wie z.B. einfache Sortierarbeiten. Mit Urteil vom 22.11.2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall am 22.11.2002 bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer einzuweisen; des Weiteren hat es der Beklagten aufgegeben, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Das Gericht sah die Klägerin nicht mehr in der Lage, im Beruf der Wäschereiarbeiterin weiterzuarbeiten oder in irgendeinem anderen Beruf tätig zu sein. Zwar sei die Klägerin nach ihrem beruflichen Werdegang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland verweisbar. Die Verweisbarkeit habe jedoch dort ihre Grenzen, wo eine Umstellungsfähigkeit auf welche Tätigkeiten einfachster Art auch immer nicht mehr angenommen werde könne. Die vom ärztlichen Sachverständigen ins Auge gefassten "einfachen Sortierarbeiten" seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht verfügbar. Die Klägerin sei demnach mit Leistungsfall am 22.11.2002 voll erwerbsgemindert.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 20.12.2002 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin. Diese verlangt die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2001, nach einem mit der Antragstellung eingetretenen Leistungsfall am 07.09.2001. Auf der Grundlage dieses Leistungsfalls dürfe die Klägerin mit einer erheblich geringeren Abschlagsregelung bei Ermittlung des Rentenbetrags rechnen.

Die Beklagte hat der Klägerin mit Bescheid vom 17.01.2003 Altersrente für Frauen ab 01.12.2002 bewilligt. Mit weiterem Bescheid vom 22.05.2003 hat die Beklagte der Klägerin anstatt der vorgenannten Rente Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.12.2002 bewilligt. Der Bescheid vom 17.01.2003 wurde aufgehoben. Die Klägerin hat dazu mitgeteilt, dass sie an der Berufung voll umfänglich festhalte. Der Rentenabschlag betrage zwar nunmehr nur noch 3,3 %, die Klägerin habe jedoch ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse an einem früheren Rentenbeginn, da die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung eng verknüpft seien mit den Leistungsansprüchen aus der kirchlichen Zusatzversorgung.

Die AOK Bayern, Geschäftsstelle S. , hat mitgeteilt, dass die Klägerin vom 19.02.2001 bis 03.06.2002 Krankengeld bezogen hat. Nach dem Schwerbehindertengesetz ist ein GdB von 20 anerkannt, lt. Bescheid vom 22.04.1997. Der Allgemeinarzt Dr.O. hat seine gesamten über die Klägerin vorliegenden ärztlichen Unterlagen übersandt. Auf Veranlassung des Senats hat der Internist und Arbeitsmediziner Dr.M. das Gutachten vom 23.11.2004 nach Aktenlage erstattet. Das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin werde in erster Linie beeinträchtigt durch degenerative Veränderungen im Bereich des Bewegungsapparates und durch eingeschränkte geistige und seelische Belastbarkeit. Der Klägerin seien körperlich nur noch leichte Arbeiten zumutbar, sie sei nur noch zu in geistiger und nervlicher Hinsicht ausgesprochen einfachen bzw. schonenden Tätigkeiten im Stande. Selbst unter Beachtung dieser Vorgaben habe die Klägerin in der Zeit ab September 2001 nur noch in einem zeitlich reduzierten Umfang von drei bis unter sechs Stunden arbeiten können. Dies folge im Wesentlichen aus der Tatsache, dass neben der Einschränkung der geistig-seelischen Belastbarkeit auch die körperliche Belastbarkeit der Klägerin erheblich eingeschränkt war. Die Beklagte hält weiterhin daran fest, dass der vom SG festgestellte Leistungsfall 22.11.2002 zutreffend sei; nach Auffassung ihres ärztlichen Dienstes sei das Leistungsvermögen der Klägerin erst ab Begutachtung durch Dr.M. im November 2004 auch für leichte Tätigkeiten allgemeiner Art auf drei- bis unter sechsstündig zu beurteilen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Bayreuth vom 22.11.2002 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ausgehend von einem Leistungsfall zum 07.09.2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2001 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Dem Gericht haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des SG Bayreuth sowie die Schwerbehinderten-Akte des Versorgungsamtes Bayreuth und die gesamten ärztlichen Unterlagen über die Klägerin von Dr.O. vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig, §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Das Rechtsmittel der Klägerin erweist sich im Ergebnis als begründet.

Die Klägerin ist nicht erst ab November 2002 voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der seit 01.01.2001 geltenden Fassung, sondern bereits seit der Rentenantragstellung im September 2001. Dies ergibt sich für den Senat aus der zusammenschauenden Bewertung der Gutachten von Dr.G. vom November 2002 und von Dr.M. vom November 2004. Bereits Dr.G. hatte in seinem Gutachten deutlich herausgestellt, dass im Hinblick auf die recht einfachen Strukturen und die auch erheblichen sonstigen Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes der Klägerin er eine hinreichende Umstellungsfähigkeit auf andere als äußerst einfache Tätigkeiten nicht mehr für gegeben hält. Nach dem Gutachten von Dr.M. , das nach Aktenlage erstattet wurde, ist das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin insgesamt bereits ab Rentenantragstellung im September 2001 auf drei bis weniger als sechs Stunden täglich abgesunken. Dr.M. hat dies im Wesentlichen mit dem Zusammenwirken der Einschränkungen aus der geminderten geistig-seelischen Belastbarkeit und der eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit begründet. Die bei der Klägerin bestehende Intelligenzminderung schränkt deren Leistungsfähigkeit auch in zeitlicher Hinsicht ein, als dadurch die geistig-seelischen Ressourcen zur Kompensation der verschiedenen körperlichen Beeinträchtigungen gemindert sind, mit dem Ergebnis einer eingeschränkten Ausdauer bzw. vorschnellen Erschöpfung. Demnach sind der Klägerin nur noch körperlich leichte und geistig anspruchslose Tätigkeiten zumutbar, und diese auch nur in einem zeitlich deutlich reduzierten Umfang von drei bis weniger als sechs Stunden. Dazu kommt, dass die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit zur Übernahme einer in körperlicher und geistiger Hinsicht angepassten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei der Klägerin nicht mehr gegeben ist. Die Einschränkungen bestehen in ihrer Gesamtheit bereits seit September 2001, wie Dr.M. in fachübergreifender Auswertung aller ärztlichen Unterlagen auch für den Senat überzeugend festgestellt hat. Die durch die Beklagte - Stellungnahme von Dr.F. vom 11.01.2005 - dagegen vorgebrachten Einwendungen überzeugen den Senat dagegen nicht. Dr.F. hat die Klägerin zwar im Dezember 2001 gesehen und begutachtet; sie hat ihre Beurteilung aber rein auf ihr Fachgebiet bezogen und ist insoweit sogar zu dem Ergebnis gekommen - abweichend von dem Fachgutachten des chirurgisch-orthopädischen Gebiets -, dass die Klägerin auch ihre letzte Berufstätigkeit weiter ausüben könne. Dies wurde von Dr.M. überzeugend widerlegt. Wenn Dr.F. von einem Absinken des Leistungsvermögens der Klägerin erst ab der Begutachtung durch Dr.M. ausgehen will, erscheint dies wenig überzeugend; eine Begutachtung nach Aktenlage - bei Fehlen eines persönlichen Eindrucks von der zu begutachtenden Person - wird immer auf vorhandene ärztliche Unterlagen bei der Festlegung eines Leistungsfalles zurückgreifen müssen, nicht jedoch auf das zufällige Datum der Gutachtenserstellung.

Mit dem bereits seit September 2001 abgesunkenen zeitlichen Leistungsvermögen im Zusammenwirken mit der fehlenden Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit auch für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ist die Klägerin als voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 SGB VI n.F. anzusehen. Da bei ihr auch die übrigen Zugangsvoraussetzungen für Rentenleistungen nach § 43 Abs 2 SGB VI gegeben sind, steht ihr die entsprechende Rente bis zum Beginn der Altersrente zu. Da bei Eintritt des Leistungsfalls bereits keine begründete Aussicht mehr bestand, dass die beschriebenen Leistungseinschränkungen in absehbarer Zeit behoben werden könnten, war die der Klägerin zustehende Rente auch nicht mehr zu befristen.

Da dem Berufungsantrag der Klägerin zu entsprechen war, hat die Beklagte auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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