Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 2 AL 1606/01
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 108/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 10. November 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zukunft (ab dem 29. Juni 2001).
Der 1943 geborene Kläger war Gesellschafter und Geschäftsführer der E. Elektro-Anlagen GmbH D. (GmbH) und hielt in der Zeit vom 28. Mai 1991 bis zum 10. Juni 1992 50% der Gesellschaftsanteile, in der Zeit bis zum 17. Dezember 1998 25% der Gesellschaftsanteile und zuletzt 34% der Stammeinlagen der Gesellschaft.
Ausweislich § 10 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrages vom 17. Juni 1992 wurden Gesellschafterbeschlüsse mit 75%iger Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst, soweit nicht Gesetz oder Gesellschaftsvertrag eine größere Mehrheit vorsehen. Je 100,00 DM eines Gesellschaftsanteiles gewährten eine Stimme. Stimmenthaltungen galten als Nein-Stimmen.
Auf den Inhalt des Dienstvertrages des Klägers mit der GmbH wird Bezug genommen (vgl. Blatt 66 bis 69 der Verwaltungsakte - VA -).
Die Techniker Krankenkasse teilte dem Kläger Anfang Dezember 1995 unter anderem mit, nach der neuerlichen Prüfung stehe er ab dem 1. Juli 1995 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis und sei daher als Arbeitnehmer zu betrachten. Unter anderem aus dem Umstand, dass die Gesellschafterbeschlüsse mit einfacher Mehrheit gefasst würden, ließe sich erkennen, dass er selbst keinen maßgeblichen Einfluss auf sein Beschäftigungsverhältnis habe.
Der Kläger kündigte sein Beschäftigungsverhältnis unter Hinweis auf den Dienstvertrag vom 1. November 1998 am 6. April 2001 wegen ausbleibender Lohnzahlungen ab Februar 2001 zum 30. April 2001.
Er beantragte am 12. April 2001 die Zahlung von Arbeitslosengeld.
Ausweislich eines Aktenvermerks der Beklagten vom 29. Mai 2001 sei im Hinblick auf die Prüfung der Techniker Krankenkasse von der Arbeitnehmerfunktion des Klägers auszugehen.
Anfang April 2001 erklärte der Kläger der Beklagten, dass er der GmbH Darlehen beziehungsweise Kredite in Höhe von insgesamt 125.561,71 DM gewährt habe (IKH 50.000,00 DM, IHP 62.000,00 DM und weitere 13.561,71 DM). In der Gesellschaft habe ein Stimmrecht in Form einer qualifizierten Mehrheit von 75% gegolten. Weiter teilte der Kläger die oben genannten Gesellschaftsanteile mit.
Die Beklagte bewilligte ihm Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 1. Mai 2001 in wöchentlicher Höhe von 569,38 DM (Bescheid vom 31. Mai 2001) bis einschließlich 28. Juni 2001.
Nachdem der Kläger Insolvenzgeld beantragt hatte, prüfte die Beklagte seine Arbeitnehmereigenschaft erneut und teilte ihm unter dem 12. Juli 2001 mit, dass der Leistungsbezug (des Arbeitslosengeldes) unrechtmäßig sein könne, weil im Rahmen des Insolvenzgeldverfahrens nochmals eine eingehende Prüfung seiner Arbeitnehmereigenschaft bei der Gesellschaft vorgenommen worden sei. Nur bei überwiegender Arbeitnehmereigenschaft könne auch eine Tätigkeit als Gesellschafter in einem Unternehmen der Anspruchsbegründung für die Gewährung von Arbeitslosengeld dienen. Im vorliegenden Fall sei jedoch festgestellt worden, dass er ein erhebliches finanzielles Risiko zu tragen gehabt habe und somit nicht mehr überwiegend als Arbeitnehmer eingestuft werden könne. Die Tätigkeit im genannten Unternehmen habe somit nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit dienen können, sodass die Bewilligung des Arbeitslosengeldes ab dem 1. Mai 2001 unrechtmäßig gewesen sei. Es sei deshalb festzustellen, ob und inwieweit die Rücknahme des Bescheides in Betracht komme. Sofern er nach einer Rücknahme der Bewilligung für die Zukunft auf Sozialhilfe angewiesen sein sollte, werde er gebeten, innerhalb einer genannten Frist außerdem eine Bescheinigung des zuständigen Sozialamtes darüber vorzulegen, in welcher Höhe bei einer vollständigen Rücknahme Sozialhilfe zustehen würde. Ohne Vorlage einer solchen Bescheinigung sei davon auszugehen, dass er bei einer Rücknahme des Bewilligungsbescheides nicht sozialhilfebedürftig werde. Selbst wenn er auf Sozialhilfe angewiesen sein sollte, müsse er sich darauf einstellen, dass die Rücknahme dennoch uneingeschränkt in Betracht komme. Den Antrag auf Insolvenzgeld des Klägers lehnte die Beklagte ab, weil er zu Gunsten der Firma ein Eigenkapitalhilfedarlehen in Höhe von 50.000,00 DM und ein Existenzgründungsdarlehen in Höhe von 62.000,00 DM in Anspruch genommen habe. Diese Inanspruchnahme sei ein hinreichendes Indiz für eine selbstständige unternehmerische Tätigkeit. Der Antragsteller und seine Ehefrau würden persönlich für die Darlehen haften, es liege somit ein für einen Arbeitnehmer untypisches Unternehmerrisiko vor (Bescheid vom 12. Juni 2001).
Der Kläger teilte der Beklagten im Hinblick auf das Anhörungsschreiben vom 12. Juni 2001 unter anderem mit, dass er seit dem 1. Juni 1995 Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt habe, ohne dass die Bundesanstalt jemals erklärt habe, dass er nicht als fremder Arbeitnehmer zu betrachten sei. Die geforderte Bescheinigung des Sozialamtes Worbis könne er nicht beilegen, weil nach Aussage der Sachbearbeiterin Kowalewski ein Sozialhilfeantrag erst nach Vorlage eines Zahlscheines vom Arbeitsamt bearbeitet werden könne.
Die Beklagte teilte dem Kläger Ende Juni 2001 mit, ihre Entscheidung vom 31. Mai 2001 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 1. Juni 2001 zurückzunehmen, weil sie rechtswidrig sei. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld könne nur durch Beschäftigungszeiten begründet werden, die aber nicht vorlägen. Die tatsächliche Abführung der Beiträge könne keine Berücksichtigung finden. Das Arbeitslosengeld könne daher nicht weiter gezahlt werden. Bei der Rücknahme sei Ermessen ausgeübt worden. Hierbei hätte zwischen dem Sinn und Zweck der Gesetzesvorschriften, dem öffentlichen Interesse und den Umständen des Falles abgewogen werden müssen. Es seien keine besonderen Gesichtspunkte erkennbar, die eine andere Entscheidung ermöglicht hätten (Bescheid vom 26. Juni 2001).
Den Widerspruch begründete der Kläger unter anderem damit, dass er weisungsabhängig beschäftigt gewesen sei.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit der Maßgabe als unbegründet zurück, dass der Bescheid ab dem 29. Juni 2001 zurückgenommen wurde. Der Kläger habe in seinem Schreiben vom 26. Juni 2001 keine Tatsachen genannt, die gegen eine Rücknahme der Entscheidung sprechen würden. Vom zustehenden Ermessen sei Gebrauch gemacht worden. Bei der Ausübung des Ermessens seien die vorgetragenen beziehungsweise nach Aktenlage bekannten individuellen Verhältnisse des Widerspruchsführers berücksichtigt worden. Zweck der Ausübung des Ermessens sei es, dem Sinn des Gesetzeszweckes entsprechende rechtsfehlerfreie Entscheidungen zu treffen und somit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns Rechnung zu tragen, ohne dabei jedoch die Umstände des konkreten Einzelfalles außer Acht zu lassen. Dabei sollten die materiell-rechtlichen Gesetzesnormen konkret individuelle Lebensinhalte in der Weise regeln, dass unter Berücksichtigung des gesetzlich verankerten Gleichheitsgrundsatzes bei Vorliegen identischer Verhältnisse auch gleiche Entscheidungen getroffen würden. Das öffentliche Interesse an der Rücknahme der Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld sei insofern abzuwägen gegen das individuelle persönliche Interesse des Widerspruchsführers an der Weiterzahlung der Leistung. Mit dem Zugang des Anhörungsschreibens vom 12. Juni 2001, in dem die Rechtswidrigkeit der getroffenen Entscheidung eindeutig dargelegt worden sei, könne sich der Kläger nicht mehr darauf berufen, die fehlerhafte Entscheidung nicht gekannt zu haben. Eine Rücknahme für die Vergangenheit komme nicht in Betracht, sondern lediglich für die Zukunft, das heiße ab dem 29. Juni 2001. Nach Abwägung mit dem gesetzlichen Zweck zur Ausübung des Ermessens sowie dem öffentlichen Interesse sei der Verwaltungsakt daher zurückzunehmen gewesen (Widerspruchsbescheid vom 16. November 2001).
Der Kläger hat hiergegen am 6. Dezember 2001 Klage erhoben. Er verfüge nicht über eine so genannte Sperrminorität sowie einen größeren tatsächlichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft als nach seinen Kapitalanteilen an sich möglich. Die Aufnahme eines Darlehens stehe der Arbeitnehmereigenschaft schon deshalb nicht entgegen, weil ansonsten nahezu jeder Gesellschafter einer GmbH nicht mehr Arbeitnehmer sein könne. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kläger unter anderem erklärt, ab August 2001 eine Nebentätigkeit auf einer 630,00 DM-Basis ausgeübt zu haben. Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes hätten diese Einkünfte nicht ausgereicht. Er sei vielmehr von seiner Ehefrau unterhalten worden, die ab August 2001 wieder ein Erwerbseinkommen gehabt habe.
Das Sozialgericht hat antragsgemäß die Bescheide der Beklagten vom 26. Juni 2001 und 5. November 2001, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2001, aufgehoben. Der Kläger habe zwar über eine Sperrminorität verfügt und sei somit nicht Beschäftigter der GmbH gewesen, weil er die Möglichkeit gehabt habe, jeden Beschluss, also jede nicht genehme Weisung der Gesellschaft zu verhindern. Dahingestellt bleiben könne letztlich, ob der Kläger Vertrauensschutz im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) habe. Denn selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, seien die angefochtenen Bescheide im Hinblick auf die fehlerhafte Ausübung des Ermessens im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X rechtswidrig. Die Beklagte habe ersichtlich ihr Ermessen nur dahingehend ausgeübt, dass die Bewilligung von Arbeitslosengeld nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft aufgehoben werde. Dies sei fehlerhaft und daher rechtswidrig. Zwar stehe es der Behörde grundsätzlich frei, auf welche Umstände sie abstellen wolle. Erforderlich sei aber eine Überprüfung hinsichtlich aller wesentlichen Umstände des konkreten Einzelfalles. Dies betreffe insbesondere die wirtschaftlichen Folgen, die mit einer Aufhebung der bewilligten Leistung auch für die Zukunft für den von der Aufhebung betroffenen Leistungsempfänger verbunden seien. Hierüber enthielten aber die angefochtenen Bescheide keine weiteren Ausführungen. Die in den angefochtenen Bescheiden verwandten formelhaften Feststellungen genügten dem nicht. Die fehlerhafte Ermessensausübung könne auch nicht nachträglich geheilt werden, so dass die Voraussetzungen für die beantragte Aussetzung des Verfahrens durch die Beklagte nicht vorgelegen hätten. Denn nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X sei eine Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt, wie hier, nach § 40 SGB X nichtig machten, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben werde. Die Begründung könne bis zur letzten Tatsachenentscheidung des sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (§ 41 Abs. 2 SGB X). Diese seit dem Januar 2001 geltende Regelung beziehe sich jedoch nur auf verfahrensrechtliche Fehler. Lägen neben heilbaren Verfahrensfehlern auch materiell-rechtliche Fehler vor, die das Gericht zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes verpflichteten, sei eine Aussetzung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) oder die Nachholung der Begründung ausgeschlossen (unter Hinweis auf LSG Rheinland-Pfalz vom 11. September 2002 - Az.: L 6 RJ 2/02). Infolgedessen scheide hier eine Aussetzung aus (Urteil vom 10. November 2003, der Beklagten am 20. Januar 2004 zugestellt).
Die Beklagte hat hiergegen am 16. Februar 2004 Berufung eingelegt und hilfsweise erneut beantragt, das Verfahren nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG auszusetzen. Der Bescheid sei einer Heilung nach § 41 Abs. 2 SGB X zugänglich (unter Hinweis auf Wiesner in von Wulffen, SGB X, Kommentar, § 41 Rdnr. 6). Die Beklagte sei bei ihrer Entscheidung erkennbar davon ausgegangen, dass eine Ermessensentscheidung zu treffen gewesen sei. Das Arbeitsamt habe sich mit seiner Entscheidung auch innerhalb des Ermessensspielraums bewegt. Damit lägen jedenfalls die Voraussetzungen für ein Nachschieben von Ermessenserwägungen vor. In diesem Falle sei der Rechtsstreit aber zur Heilung des Verfahrensmangels entsprechend dem Hilfsantrag auszusetzen. Mit Blick auf die Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz, die das Sozialgericht in Bezug genommen habe, werde zugleich hilfsweise die Zulassung der Revision begehrt. Das Nachholen von Ermessenserwägungen sei aber kein materiell-rechtlicher Fehler. Ein Ermessensfehler als materiell-rechtlicher Fehler sei nur bei Ermessensüberschreitung oder -fehlgebrauch anzunehmen. Die Beklagte habe, wie bereits vorgetragen, aber erkannt, dass es sich bei ihrer Entscheidung um eine Ermessensentscheidung handele und habe das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt. Dabei habe sie sich auch innerhalb des Ermessensspielraums bewegt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 10. November 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise das Verfahren auszusetzen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Die vom Kläger gegen die streitigen Bescheide der Beklagten statthaft erhobene Anfechtungsklage ist begründet.
Nach § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG ist der Kläger beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder die Unterlassung eines Verwaltungsaktes rechtswidrig ist (Abs. 1 Satz 1). Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (Abs. 2 Satz 2).
Der Senat muss nicht prüfen, ob er das gerichtliche Verfahren auf Antrag der Beklagten zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern der zu überprüfenden Bescheide aussetzt (vgl. § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG). Denn es kann dahinstehen, ob die Ermessensentscheidung der Beklagten im Sinne eines Verfahrensfehlers formell fehlerhaft war bzw. ist und gegebenenfalls noch im Berufungsverfahren hätte geheilt werden können (vgl. §§ 35 Abs. 1, 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X).
Die Ermessensentscheidung der Beklagten, die Arbeitslosengeldbewilligung für die Zukunft zurückzunehmen, leidet nämlich an einem (nicht heilbaren) materiellen Begründungsmangel (Ermessensdefizit), dessentwegen eine entsprechende Anwendung von § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG ausscheidet (vgl. Roller in SGG, Handkommentar, 2003, § 114 Rz. 5 m.w.N.; möglicherweise anderer Auffassung Waschull in LPK-SGB X, 2004, § 41 Rz. 12: mit der Neufassung des § 41 Abs. 2 SGB X ist die unterschiedliche Behandlung von gebundenen Verwaltungsakten und Ermessensverwaltungsakten hinsichtlich des Nachschiebens von Gründen obsolet geworden. Das Nachschieben von Gründen bei Ermessensverwaltungsakten ist nunmehr auch im Klageverfahren, jedenfalls vor dem SG und dem LSG zulässig. Eine Ausnahme ist für den Fall vorzunehmen, dass die Behörde ihre Ermessensbefugnis verkannt hat (Ermessensausfall) und von einer gebundenen Entscheidung ausging).
Als rechtlicher Maßstab für die Aufhebung (Rücknahme) der Bewilligung des Arbeitslosengeldes kommt allein § 45 SGB X in Betracht. Danach darf (Ermessens-Kann der Behörde; vgl. BSG SozR 1300 § 45 Nr. 19) ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 dieser Bestimmung ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Dass die Bewilligung des Arbeitslosengeldes rechtswidrig erfolgt ist, weil der Kläger im Hinblick auf die konkret bestehende Sperrminorität in keinem Versicherungspflichtverhältnis zu der GmbH gestanden hat (vgl. hierzu nur Brand in Niesel, SGB III, 3. Aufl. 2005, § 25 Rz. 18), ist (mittlerweile) zwischen den Beteiligten unstreitig. Gegenteilige Anhaltspunkte hat auch der Senat keine.
Da mit den streitigen Bescheiden die Bewilligung des Arbeitslosengeldes mit Wirkung für die Zukunft, also für einen Zeitraum nach Erlass der Aufhebungsentscheidung zurückgenommen worden ist, und kein Anhaltspunkt für die Bösgläubigkeit des Klägers gegeben ist, beurteilt sich die Rechtmäßigkeit des Bescheides (zunächst) nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X.
Hiernach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Abs. 2 Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 SGB X).
Ob der Kläger solche Dispositionen getroffen hat, kann hier aber dahinstehen.
Denn die Begründung der Ermessensentscheidung der Beklagten, der Kläger habe in seinem Schreiben vom 26. Juni 2001 keine Tatsachen vorgetragen, die gegen eine Rücknahme sprechen würden, sodass der Bescheid zurückzunehmen gewesen sei, trägt die Ermessensentscheidung der Rücknahme der Bewilligung nicht.
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ermessensentscheidung der Verwaltung hat das Gericht am Maßstab des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG gemessen auch zu prüfen, ob die Verwaltung von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen ist und ob alle wesentlichen Umstände ermittelt worden sind mit der Folge, dass bei deren Nichtberücksichtigung im Zusammenhang mit der erforderlichen Ermessensbetätigung das Gericht den Bescheid wegen materieller Rechtswidrigkeit aufhebt.
Bei der Ermessensbetätigung im Rahmen von § 45 SGB X, der eine vollständige oder teilweise Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Zukunft ermöglicht, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalles zu berücksichtigen, soweit sie sich auf den Konflikt von Rechtssicherheit im Interesse des (gutgläubigen) Leistungsempfängers einerseits und das Interesse an der Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns andererseits beziehen.
Typischer Gesichtspunkt, der für das Interesse des Leistungsempfängers am Bestand des Verwaltungsaktes streitet, ist neben den wirtschaftlichen Verhältnissen (z.B.: Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit oder verstärkte Inanspruchnahme), auf die die Beklagte im Widerspruchsbescheid nicht mehr eingegangen ist, obwohl der Kläger mitgeteilt hatte, seine Vorsprache beim Sozialamt sei ergebnislos verlaufen, ein (grobes) Verschulden der Behörde bei Erlass des rechtswidrigen Verwaltungsaktes (vgl. BSG SozR 1300 § 45 Nr. 19), auf den der Betroffene - wie hier - gleichwohl gutgläubig vertraut hat und vertrauen durfte.
Ob dem Umstand Bedeutung zukommt, dass die Beklagte eine mögliche Sozialhilfebedürftigkeit des Klägers nicht ermittelt hat, kann hier dahinstehen. Denn die Bewilligung des Arbeitslosengeldes basiert auf einem groben Verschulden der Beklagten, das bei der Ermessensbetätigung in die Abwägung hätte eingestellt werden müssen. Anhaltspunkte dafür, dass dies geschehen ist, hat der Senat keine. Dies entspricht auch der Erklärung der Sitzungsvertreterin der Beklagten im Termin.
Die Beklagte hat die Prüfung der versicherungsrechtlichen Beurteilung des Status des Klägers ausweislich des Aktenvermerks von 29. Mai 2001 einerseits auf die Entscheidung der Krankenkasse und andererseits auf eine bestehende Kapitalbeteiligung von unter 50 Prozent gestützt mit der Folge, der Kläger sei Arbeitnehmer gewesen.
Dass aber insbesondere das Prüfungskriterium "Kapitalbeteiligung von unter 50 Prozent ?" bei Gesellschafter-Geschäftsführern von Kapitalgesellschaftern grundsätzlich dann keine positive Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft mehr zulässt, wenn, wie hier, die mit einer Sperrminorität verbundene umfassende Rechtsmacht zur Verhinderung von Weisungen ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausschließt und damit einem Anspruch auf Arbeitslosengeld entgegensteht, entspricht allgemeinen Kenntnisstand (auch) der Beklagten (vgl. nur Brand in Niesel, SGB III, 3. Aufl. 2005, § 25 Rz. 18). Infolgedessen hätte die Beklagte, der der Gesellschaftsvertrag vorlag, nach dem Gesellschafterbeschlüsse grundsätzlich mit 75-prozentiger Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst werden mussten, zweifelsfrei kein Arbeitslosengeld bewilligen dürfen.
Ob und in welchem Umfang das Nachschieben von Gründen bei Ermessensentscheidungen im Verfahren nach dem SGG unzulässig ist, weil es, anders als nach der VwGO (§ 114 Satz 2 VwGO), an einer Vorschrift fehlt, die dies zulässt (vgl. Littmann in Hauck/Vogelgesang, SGB X, § 41 Rdnr. 11, Stand: November 2004; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 54 Rz. 35e; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 41 SGB X Rz. 24, Stand: Mai 2003: Weitere Neuerungen, die im Zusammenhang mit § 45 Abs. 2 n.F. VwVfG in die VwGO aufgenommen worden waren, z.B. § 114 Satz 2 VwGO, sind dem sozialgerichtlichen Verfahren erspart geblieben), kann schon deshalb dahinstehen, weil die Beklagte keine Gründe nachgeschoben hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der Vorschrift des § 193 Abs. 1 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil ihre gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG). Von grundsätzlicher Bedeutung ist insbesondere die Frage, ob § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG bzw. § 41 SGB X eine Heilung materieller Fehler der Ermessensbetätigung ermöglichen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zukunft (ab dem 29. Juni 2001).
Der 1943 geborene Kläger war Gesellschafter und Geschäftsführer der E. Elektro-Anlagen GmbH D. (GmbH) und hielt in der Zeit vom 28. Mai 1991 bis zum 10. Juni 1992 50% der Gesellschaftsanteile, in der Zeit bis zum 17. Dezember 1998 25% der Gesellschaftsanteile und zuletzt 34% der Stammeinlagen der Gesellschaft.
Ausweislich § 10 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrages vom 17. Juni 1992 wurden Gesellschafterbeschlüsse mit 75%iger Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst, soweit nicht Gesetz oder Gesellschaftsvertrag eine größere Mehrheit vorsehen. Je 100,00 DM eines Gesellschaftsanteiles gewährten eine Stimme. Stimmenthaltungen galten als Nein-Stimmen.
Auf den Inhalt des Dienstvertrages des Klägers mit der GmbH wird Bezug genommen (vgl. Blatt 66 bis 69 der Verwaltungsakte - VA -).
Die Techniker Krankenkasse teilte dem Kläger Anfang Dezember 1995 unter anderem mit, nach der neuerlichen Prüfung stehe er ab dem 1. Juli 1995 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis und sei daher als Arbeitnehmer zu betrachten. Unter anderem aus dem Umstand, dass die Gesellschafterbeschlüsse mit einfacher Mehrheit gefasst würden, ließe sich erkennen, dass er selbst keinen maßgeblichen Einfluss auf sein Beschäftigungsverhältnis habe.
Der Kläger kündigte sein Beschäftigungsverhältnis unter Hinweis auf den Dienstvertrag vom 1. November 1998 am 6. April 2001 wegen ausbleibender Lohnzahlungen ab Februar 2001 zum 30. April 2001.
Er beantragte am 12. April 2001 die Zahlung von Arbeitslosengeld.
Ausweislich eines Aktenvermerks der Beklagten vom 29. Mai 2001 sei im Hinblick auf die Prüfung der Techniker Krankenkasse von der Arbeitnehmerfunktion des Klägers auszugehen.
Anfang April 2001 erklärte der Kläger der Beklagten, dass er der GmbH Darlehen beziehungsweise Kredite in Höhe von insgesamt 125.561,71 DM gewährt habe (IKH 50.000,00 DM, IHP 62.000,00 DM und weitere 13.561,71 DM). In der Gesellschaft habe ein Stimmrecht in Form einer qualifizierten Mehrheit von 75% gegolten. Weiter teilte der Kläger die oben genannten Gesellschaftsanteile mit.
Die Beklagte bewilligte ihm Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 1. Mai 2001 in wöchentlicher Höhe von 569,38 DM (Bescheid vom 31. Mai 2001) bis einschließlich 28. Juni 2001.
Nachdem der Kläger Insolvenzgeld beantragt hatte, prüfte die Beklagte seine Arbeitnehmereigenschaft erneut und teilte ihm unter dem 12. Juli 2001 mit, dass der Leistungsbezug (des Arbeitslosengeldes) unrechtmäßig sein könne, weil im Rahmen des Insolvenzgeldverfahrens nochmals eine eingehende Prüfung seiner Arbeitnehmereigenschaft bei der Gesellschaft vorgenommen worden sei. Nur bei überwiegender Arbeitnehmereigenschaft könne auch eine Tätigkeit als Gesellschafter in einem Unternehmen der Anspruchsbegründung für die Gewährung von Arbeitslosengeld dienen. Im vorliegenden Fall sei jedoch festgestellt worden, dass er ein erhebliches finanzielles Risiko zu tragen gehabt habe und somit nicht mehr überwiegend als Arbeitnehmer eingestuft werden könne. Die Tätigkeit im genannten Unternehmen habe somit nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit dienen können, sodass die Bewilligung des Arbeitslosengeldes ab dem 1. Mai 2001 unrechtmäßig gewesen sei. Es sei deshalb festzustellen, ob und inwieweit die Rücknahme des Bescheides in Betracht komme. Sofern er nach einer Rücknahme der Bewilligung für die Zukunft auf Sozialhilfe angewiesen sein sollte, werde er gebeten, innerhalb einer genannten Frist außerdem eine Bescheinigung des zuständigen Sozialamtes darüber vorzulegen, in welcher Höhe bei einer vollständigen Rücknahme Sozialhilfe zustehen würde. Ohne Vorlage einer solchen Bescheinigung sei davon auszugehen, dass er bei einer Rücknahme des Bewilligungsbescheides nicht sozialhilfebedürftig werde. Selbst wenn er auf Sozialhilfe angewiesen sein sollte, müsse er sich darauf einstellen, dass die Rücknahme dennoch uneingeschränkt in Betracht komme. Den Antrag auf Insolvenzgeld des Klägers lehnte die Beklagte ab, weil er zu Gunsten der Firma ein Eigenkapitalhilfedarlehen in Höhe von 50.000,00 DM und ein Existenzgründungsdarlehen in Höhe von 62.000,00 DM in Anspruch genommen habe. Diese Inanspruchnahme sei ein hinreichendes Indiz für eine selbstständige unternehmerische Tätigkeit. Der Antragsteller und seine Ehefrau würden persönlich für die Darlehen haften, es liege somit ein für einen Arbeitnehmer untypisches Unternehmerrisiko vor (Bescheid vom 12. Juni 2001).
Der Kläger teilte der Beklagten im Hinblick auf das Anhörungsschreiben vom 12. Juni 2001 unter anderem mit, dass er seit dem 1. Juni 1995 Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt habe, ohne dass die Bundesanstalt jemals erklärt habe, dass er nicht als fremder Arbeitnehmer zu betrachten sei. Die geforderte Bescheinigung des Sozialamtes Worbis könne er nicht beilegen, weil nach Aussage der Sachbearbeiterin Kowalewski ein Sozialhilfeantrag erst nach Vorlage eines Zahlscheines vom Arbeitsamt bearbeitet werden könne.
Die Beklagte teilte dem Kläger Ende Juni 2001 mit, ihre Entscheidung vom 31. Mai 2001 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 1. Juni 2001 zurückzunehmen, weil sie rechtswidrig sei. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld könne nur durch Beschäftigungszeiten begründet werden, die aber nicht vorlägen. Die tatsächliche Abführung der Beiträge könne keine Berücksichtigung finden. Das Arbeitslosengeld könne daher nicht weiter gezahlt werden. Bei der Rücknahme sei Ermessen ausgeübt worden. Hierbei hätte zwischen dem Sinn und Zweck der Gesetzesvorschriften, dem öffentlichen Interesse und den Umständen des Falles abgewogen werden müssen. Es seien keine besonderen Gesichtspunkte erkennbar, die eine andere Entscheidung ermöglicht hätten (Bescheid vom 26. Juni 2001).
Den Widerspruch begründete der Kläger unter anderem damit, dass er weisungsabhängig beschäftigt gewesen sei.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit der Maßgabe als unbegründet zurück, dass der Bescheid ab dem 29. Juni 2001 zurückgenommen wurde. Der Kläger habe in seinem Schreiben vom 26. Juni 2001 keine Tatsachen genannt, die gegen eine Rücknahme der Entscheidung sprechen würden. Vom zustehenden Ermessen sei Gebrauch gemacht worden. Bei der Ausübung des Ermessens seien die vorgetragenen beziehungsweise nach Aktenlage bekannten individuellen Verhältnisse des Widerspruchsführers berücksichtigt worden. Zweck der Ausübung des Ermessens sei es, dem Sinn des Gesetzeszweckes entsprechende rechtsfehlerfreie Entscheidungen zu treffen und somit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns Rechnung zu tragen, ohne dabei jedoch die Umstände des konkreten Einzelfalles außer Acht zu lassen. Dabei sollten die materiell-rechtlichen Gesetzesnormen konkret individuelle Lebensinhalte in der Weise regeln, dass unter Berücksichtigung des gesetzlich verankerten Gleichheitsgrundsatzes bei Vorliegen identischer Verhältnisse auch gleiche Entscheidungen getroffen würden. Das öffentliche Interesse an der Rücknahme der Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld sei insofern abzuwägen gegen das individuelle persönliche Interesse des Widerspruchsführers an der Weiterzahlung der Leistung. Mit dem Zugang des Anhörungsschreibens vom 12. Juni 2001, in dem die Rechtswidrigkeit der getroffenen Entscheidung eindeutig dargelegt worden sei, könne sich der Kläger nicht mehr darauf berufen, die fehlerhafte Entscheidung nicht gekannt zu haben. Eine Rücknahme für die Vergangenheit komme nicht in Betracht, sondern lediglich für die Zukunft, das heiße ab dem 29. Juni 2001. Nach Abwägung mit dem gesetzlichen Zweck zur Ausübung des Ermessens sowie dem öffentlichen Interesse sei der Verwaltungsakt daher zurückzunehmen gewesen (Widerspruchsbescheid vom 16. November 2001).
Der Kläger hat hiergegen am 6. Dezember 2001 Klage erhoben. Er verfüge nicht über eine so genannte Sperrminorität sowie einen größeren tatsächlichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft als nach seinen Kapitalanteilen an sich möglich. Die Aufnahme eines Darlehens stehe der Arbeitnehmereigenschaft schon deshalb nicht entgegen, weil ansonsten nahezu jeder Gesellschafter einer GmbH nicht mehr Arbeitnehmer sein könne. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kläger unter anderem erklärt, ab August 2001 eine Nebentätigkeit auf einer 630,00 DM-Basis ausgeübt zu haben. Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes hätten diese Einkünfte nicht ausgereicht. Er sei vielmehr von seiner Ehefrau unterhalten worden, die ab August 2001 wieder ein Erwerbseinkommen gehabt habe.
Das Sozialgericht hat antragsgemäß die Bescheide der Beklagten vom 26. Juni 2001 und 5. November 2001, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2001, aufgehoben. Der Kläger habe zwar über eine Sperrminorität verfügt und sei somit nicht Beschäftigter der GmbH gewesen, weil er die Möglichkeit gehabt habe, jeden Beschluss, also jede nicht genehme Weisung der Gesellschaft zu verhindern. Dahingestellt bleiben könne letztlich, ob der Kläger Vertrauensschutz im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) habe. Denn selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, seien die angefochtenen Bescheide im Hinblick auf die fehlerhafte Ausübung des Ermessens im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X rechtswidrig. Die Beklagte habe ersichtlich ihr Ermessen nur dahingehend ausgeübt, dass die Bewilligung von Arbeitslosengeld nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft aufgehoben werde. Dies sei fehlerhaft und daher rechtswidrig. Zwar stehe es der Behörde grundsätzlich frei, auf welche Umstände sie abstellen wolle. Erforderlich sei aber eine Überprüfung hinsichtlich aller wesentlichen Umstände des konkreten Einzelfalles. Dies betreffe insbesondere die wirtschaftlichen Folgen, die mit einer Aufhebung der bewilligten Leistung auch für die Zukunft für den von der Aufhebung betroffenen Leistungsempfänger verbunden seien. Hierüber enthielten aber die angefochtenen Bescheide keine weiteren Ausführungen. Die in den angefochtenen Bescheiden verwandten formelhaften Feststellungen genügten dem nicht. Die fehlerhafte Ermessensausübung könne auch nicht nachträglich geheilt werden, so dass die Voraussetzungen für die beantragte Aussetzung des Verfahrens durch die Beklagte nicht vorgelegen hätten. Denn nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X sei eine Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt, wie hier, nach § 40 SGB X nichtig machten, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben werde. Die Begründung könne bis zur letzten Tatsachenentscheidung des sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (§ 41 Abs. 2 SGB X). Diese seit dem Januar 2001 geltende Regelung beziehe sich jedoch nur auf verfahrensrechtliche Fehler. Lägen neben heilbaren Verfahrensfehlern auch materiell-rechtliche Fehler vor, die das Gericht zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes verpflichteten, sei eine Aussetzung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) oder die Nachholung der Begründung ausgeschlossen (unter Hinweis auf LSG Rheinland-Pfalz vom 11. September 2002 - Az.: L 6 RJ 2/02). Infolgedessen scheide hier eine Aussetzung aus (Urteil vom 10. November 2003, der Beklagten am 20. Januar 2004 zugestellt).
Die Beklagte hat hiergegen am 16. Februar 2004 Berufung eingelegt und hilfsweise erneut beantragt, das Verfahren nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG auszusetzen. Der Bescheid sei einer Heilung nach § 41 Abs. 2 SGB X zugänglich (unter Hinweis auf Wiesner in von Wulffen, SGB X, Kommentar, § 41 Rdnr. 6). Die Beklagte sei bei ihrer Entscheidung erkennbar davon ausgegangen, dass eine Ermessensentscheidung zu treffen gewesen sei. Das Arbeitsamt habe sich mit seiner Entscheidung auch innerhalb des Ermessensspielraums bewegt. Damit lägen jedenfalls die Voraussetzungen für ein Nachschieben von Ermessenserwägungen vor. In diesem Falle sei der Rechtsstreit aber zur Heilung des Verfahrensmangels entsprechend dem Hilfsantrag auszusetzen. Mit Blick auf die Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz, die das Sozialgericht in Bezug genommen habe, werde zugleich hilfsweise die Zulassung der Revision begehrt. Das Nachholen von Ermessenserwägungen sei aber kein materiell-rechtlicher Fehler. Ein Ermessensfehler als materiell-rechtlicher Fehler sei nur bei Ermessensüberschreitung oder -fehlgebrauch anzunehmen. Die Beklagte habe, wie bereits vorgetragen, aber erkannt, dass es sich bei ihrer Entscheidung um eine Ermessensentscheidung handele und habe das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt. Dabei habe sie sich auch innerhalb des Ermessensspielraums bewegt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 10. November 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise das Verfahren auszusetzen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Die vom Kläger gegen die streitigen Bescheide der Beklagten statthaft erhobene Anfechtungsklage ist begründet.
Nach § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG ist der Kläger beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder die Unterlassung eines Verwaltungsaktes rechtswidrig ist (Abs. 1 Satz 1). Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (Abs. 2 Satz 2).
Der Senat muss nicht prüfen, ob er das gerichtliche Verfahren auf Antrag der Beklagten zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern der zu überprüfenden Bescheide aussetzt (vgl. § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG). Denn es kann dahinstehen, ob die Ermessensentscheidung der Beklagten im Sinne eines Verfahrensfehlers formell fehlerhaft war bzw. ist und gegebenenfalls noch im Berufungsverfahren hätte geheilt werden können (vgl. §§ 35 Abs. 1, 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X).
Die Ermessensentscheidung der Beklagten, die Arbeitslosengeldbewilligung für die Zukunft zurückzunehmen, leidet nämlich an einem (nicht heilbaren) materiellen Begründungsmangel (Ermessensdefizit), dessentwegen eine entsprechende Anwendung von § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG ausscheidet (vgl. Roller in SGG, Handkommentar, 2003, § 114 Rz. 5 m.w.N.; möglicherweise anderer Auffassung Waschull in LPK-SGB X, 2004, § 41 Rz. 12: mit der Neufassung des § 41 Abs. 2 SGB X ist die unterschiedliche Behandlung von gebundenen Verwaltungsakten und Ermessensverwaltungsakten hinsichtlich des Nachschiebens von Gründen obsolet geworden. Das Nachschieben von Gründen bei Ermessensverwaltungsakten ist nunmehr auch im Klageverfahren, jedenfalls vor dem SG und dem LSG zulässig. Eine Ausnahme ist für den Fall vorzunehmen, dass die Behörde ihre Ermessensbefugnis verkannt hat (Ermessensausfall) und von einer gebundenen Entscheidung ausging).
Als rechtlicher Maßstab für die Aufhebung (Rücknahme) der Bewilligung des Arbeitslosengeldes kommt allein § 45 SGB X in Betracht. Danach darf (Ermessens-Kann der Behörde; vgl. BSG SozR 1300 § 45 Nr. 19) ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 dieser Bestimmung ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Dass die Bewilligung des Arbeitslosengeldes rechtswidrig erfolgt ist, weil der Kläger im Hinblick auf die konkret bestehende Sperrminorität in keinem Versicherungspflichtverhältnis zu der GmbH gestanden hat (vgl. hierzu nur Brand in Niesel, SGB III, 3. Aufl. 2005, § 25 Rz. 18), ist (mittlerweile) zwischen den Beteiligten unstreitig. Gegenteilige Anhaltspunkte hat auch der Senat keine.
Da mit den streitigen Bescheiden die Bewilligung des Arbeitslosengeldes mit Wirkung für die Zukunft, also für einen Zeitraum nach Erlass der Aufhebungsentscheidung zurückgenommen worden ist, und kein Anhaltspunkt für die Bösgläubigkeit des Klägers gegeben ist, beurteilt sich die Rechtmäßigkeit des Bescheides (zunächst) nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X.
Hiernach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Abs. 2 Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 SGB X).
Ob der Kläger solche Dispositionen getroffen hat, kann hier aber dahinstehen.
Denn die Begründung der Ermessensentscheidung der Beklagten, der Kläger habe in seinem Schreiben vom 26. Juni 2001 keine Tatsachen vorgetragen, die gegen eine Rücknahme sprechen würden, sodass der Bescheid zurückzunehmen gewesen sei, trägt die Ermessensentscheidung der Rücknahme der Bewilligung nicht.
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ermessensentscheidung der Verwaltung hat das Gericht am Maßstab des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG gemessen auch zu prüfen, ob die Verwaltung von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen ist und ob alle wesentlichen Umstände ermittelt worden sind mit der Folge, dass bei deren Nichtberücksichtigung im Zusammenhang mit der erforderlichen Ermessensbetätigung das Gericht den Bescheid wegen materieller Rechtswidrigkeit aufhebt.
Bei der Ermessensbetätigung im Rahmen von § 45 SGB X, der eine vollständige oder teilweise Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Zukunft ermöglicht, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalles zu berücksichtigen, soweit sie sich auf den Konflikt von Rechtssicherheit im Interesse des (gutgläubigen) Leistungsempfängers einerseits und das Interesse an der Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns andererseits beziehen.
Typischer Gesichtspunkt, der für das Interesse des Leistungsempfängers am Bestand des Verwaltungsaktes streitet, ist neben den wirtschaftlichen Verhältnissen (z.B.: Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit oder verstärkte Inanspruchnahme), auf die die Beklagte im Widerspruchsbescheid nicht mehr eingegangen ist, obwohl der Kläger mitgeteilt hatte, seine Vorsprache beim Sozialamt sei ergebnislos verlaufen, ein (grobes) Verschulden der Behörde bei Erlass des rechtswidrigen Verwaltungsaktes (vgl. BSG SozR 1300 § 45 Nr. 19), auf den der Betroffene - wie hier - gleichwohl gutgläubig vertraut hat und vertrauen durfte.
Ob dem Umstand Bedeutung zukommt, dass die Beklagte eine mögliche Sozialhilfebedürftigkeit des Klägers nicht ermittelt hat, kann hier dahinstehen. Denn die Bewilligung des Arbeitslosengeldes basiert auf einem groben Verschulden der Beklagten, das bei der Ermessensbetätigung in die Abwägung hätte eingestellt werden müssen. Anhaltspunkte dafür, dass dies geschehen ist, hat der Senat keine. Dies entspricht auch der Erklärung der Sitzungsvertreterin der Beklagten im Termin.
Die Beklagte hat die Prüfung der versicherungsrechtlichen Beurteilung des Status des Klägers ausweislich des Aktenvermerks von 29. Mai 2001 einerseits auf die Entscheidung der Krankenkasse und andererseits auf eine bestehende Kapitalbeteiligung von unter 50 Prozent gestützt mit der Folge, der Kläger sei Arbeitnehmer gewesen.
Dass aber insbesondere das Prüfungskriterium "Kapitalbeteiligung von unter 50 Prozent ?" bei Gesellschafter-Geschäftsführern von Kapitalgesellschaftern grundsätzlich dann keine positive Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft mehr zulässt, wenn, wie hier, die mit einer Sperrminorität verbundene umfassende Rechtsmacht zur Verhinderung von Weisungen ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausschließt und damit einem Anspruch auf Arbeitslosengeld entgegensteht, entspricht allgemeinen Kenntnisstand (auch) der Beklagten (vgl. nur Brand in Niesel, SGB III, 3. Aufl. 2005, § 25 Rz. 18). Infolgedessen hätte die Beklagte, der der Gesellschaftsvertrag vorlag, nach dem Gesellschafterbeschlüsse grundsätzlich mit 75-prozentiger Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst werden mussten, zweifelsfrei kein Arbeitslosengeld bewilligen dürfen.
Ob und in welchem Umfang das Nachschieben von Gründen bei Ermessensentscheidungen im Verfahren nach dem SGG unzulässig ist, weil es, anders als nach der VwGO (§ 114 Satz 2 VwGO), an einer Vorschrift fehlt, die dies zulässt (vgl. Littmann in Hauck/Vogelgesang, SGB X, § 41 Rdnr. 11, Stand: November 2004; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 54 Rz. 35e; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 41 SGB X Rz. 24, Stand: Mai 2003: Weitere Neuerungen, die im Zusammenhang mit § 45 Abs. 2 n.F. VwVfG in die VwGO aufgenommen worden waren, z.B. § 114 Satz 2 VwGO, sind dem sozialgerichtlichen Verfahren erspart geblieben), kann schon deshalb dahinstehen, weil die Beklagte keine Gründe nachgeschoben hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der Vorschrift des § 193 Abs. 1 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil ihre gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG). Von grundsätzlicher Bedeutung ist insbesondere die Frage, ob § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG bzw. § 41 SGB X eine Heilung materieller Fehler der Ermessensbetätigung ermöglichen.
Rechtskraft
Aus
Login
FST
Saved