L 5 KR 139/05

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Trier (RPF)
Aktenzeichen
S 4 KR 114/04 Tr
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 KR 139/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Anspruch auf Ausstattung eines behinderten Menschen mit einem Rollstuhlzuggerät als Hilfsmittel (§ 33 SGB V) kann nicht damit begründet werden, der Betroffene benötige dieses, weil er anderenfalls im Winter bei Schnee keine Entfernungen außerhalb der Wohnung zurücklegen könne, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß bewältigt.
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 12.7.2005 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob die Beklagte der Klägerin ein Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät (elektrisch betriebenes Rollstuhlzuggerät zum Ankoppeln vor einen handelsüblichen Rollstuhl) sowie einen Leichtgewicht-Aktivrollstuhl als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen hat.

Die 1979 geborene Klägerin, bei der Beklagten krankenversichert, leidet an einer kompletten Paraplegie unterhalb des 1. Lendenwirbelkörpers und ist seit 2003 mit einem Aktivrollstuhl ausgestattet. Im März 2004 verordnete der Leitende Arzt des Berufsförderungswerks B , wo die Klägerin eine Qualifizierung zur Bauzeichnerin durchführte, Dr R , ein Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät sowie einen Leichtgewicht-Aktivrollstuhl (Kosten laut Kostenvorschlag insgesamt 9.271,18 EUR). Mit Bescheid vom 9.6.2004 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab, da das Rollstuhlzuggerät sowie der Leichtgewicht-Aktivrollstuhl nicht zur Befriedigung von Grundbedürfnissen der Klägerin notwendig seien und die Erschließung des Nahbereichs mit dem zur Verfügung gestellten Aktivrollstuhl ausreichend sichergestellt sei.

Zur Begründung ihres hiergegen eingelegten Widerspruchs legte die Klägerin eine ausführliche Bescheinigung von Dr R vor, wonach sie das Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät zur Erledigung von Alltagsgeschäften außerhalb ihrer Wohnung auf hügeligem Gelände und im Winter, wenn Schnee liege, benötige; der außerdem gewünschte Leichtgewicht-Aktivrollstuhl sei als Wechselrollstuhl gedacht; zusätzlich sei dieser zur wirbelsäulenfreundlicheren Wechselmöglichkeit auf verschiedene Sitzhöhen einstellbar. Durch Widerspruchsbescheid vom 13.8.2004 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Zu dem Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums gehöre nur die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und diese zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien (Hinweis auf Bundessozialgericht BSG 10.10.2000 B 3 KR 29/99 R). Besonderheiten des Wohnorts, zB eine hügelige Gegend, seien unerheblich. Das Grundbedürfnis auf freie Bewegung in der eigenen Wohnung und im Nahbereich habe sie, die Beklagte, durch die Bereitstellung des Aktivrollstuhls erfüllt. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf einen weiteren Aktivrollstuhl. Um die geklagten Rückenschmerzen zu verhindern oder zu beheben, bestehe die Möglichkeit, den vorhandenen Rollstuhl mit einem besonderen, auf die Klägerin zugeschnittenen Rücken auszustatten.

Mit ihrer am 10.9.2004 erhobenen Klage hat die Klägerin ua geltend gemacht: Auf flacher Strecke sei sie zwar in der Lage, den vorhandenen Rollstuhl manuell zu bedienen. Sie wohne jedoch in der Eifel in hügeliger Umgebung. Zudem biete das Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät die Möglichkeit, es ähnlich einem Fahrrad oder Mofa zu verwenden.

Durch Urteil vom 12.7.2005 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" könne die Klägerin mit dem ihr von der Beklagten zur Verfügung gestellten Aktivrollstuhl erfüllen. Dieses Grundbedürfnis sei nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden zu verstehen. Die Rechtsprechung stelle dabei auf die Entfernungen ab, die ein Gesunder zu Fuß zurücklege oder die erforderlich seien, um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Zum Grundbedürfnis gehbehinderter Menschen auf Erschließung bzw Sicherung eines gewissen körperlichen Freiraums zähle nicht das Zurücklegen längerer Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer (Hinweis auf BSG 16.9.1999 B 3 KR 8/98 R, SozR 3 2500 § 33 Nr 31). Deswegen komme es nicht darauf an, dass die Klägerin das Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät wie ein Fahrrad oder Mofa nutzen könnte. Rechtlich unerheblich sei auch, dass die Fortbewegung mit dem vorhandenen handbewegten Rollstuhl durch Besonderheiten der Wohnumgebung, zB hügelige Umgebung, erschwert sein könnte. Besonderheiten des Wohnorts könnten nämlich für die Hilfsmitteleigenschaft nicht maßgeblich sein (Hinweis auf BSG 16.9.1999, aaO). Zu Recht habe die Beklagte auch die Versorgung der Klägerin mit einem zweiten Aktivrollstuhl abgelehnt. Nach der Rechtsprechung könne eine Mehrfachausstattung mit einem Hilfsmittel nur in Ausnahmefällen gewährt werden, so zB aus hygienischen Gründen, wenn ein am Körper getragenes Hilfsmittel gewechselt werden müsse oder eine Ausstattung nicht ausreiche, um alle konkret zu berücksichtigenden Grundbedürfnisse abzudecken.

Gegen dieses ihr am 11.8.2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 22.8.2005 beim Landessozialgericht Rheinland-Pfalz eingelegte Berufung der Klägerin.

Die Klägerin trägt vor: Sie sei in der hügeligen Umgebung ihrer Wohnung kaum in der Lage, ihr Haus wenige Meter zu verlassen. Dadurch sei sie daran gehindert, kurze Besorgungen zu machen, zum Arzt zu gehen und sonst am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Zwischen dem durch einen Selbstfahrerrollstuhl regelmäßig eröffneten Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder auch bei beschränktem Gesundheitszustand vor allem im ländlichen Bereich zu Fuß zurücklege, bestehe eine Lücke, die noch den Grundbedürfnissen zuzurechnen sei (Hinweis auf BSG 8.6.1994 3/1 RK 13/93, SozR 3 2500 § 33 Nr 7). Der vorliegende Sachverhalt sei demjenigen dieses Urteils des BSG weitgehend vergleichbar. Dem stünden die Urteile des BSG vom 16.9.1999 (aaO) und 10.10.2000 (aaO) nicht entgegen. Das dort in Rede stehende Rollstuhlbike sei im Unterschied zu dem von ihr beantragten Hilfsmittel handbetrieben. Zudem entspreche sein Einsatzbereich eher als das Rollstuhlzuggerät demjenigen eines Fahrrads bzw Joggers. Der Radius eines Fahrradfahrers bzw Joggers werde jedoch von ihr nicht angestrebt. Die Funktionsweise des Speedy-Elektra Rollstuhlzuggeräts sei derjenigen eines sog Minitrac (batteriebetriebenes Rollstuhlzuggerät), das gemäß den Vereinbarungen der Spitzenverbände der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung als Hilfsmittel anerkannt sei, identisch. Zu beachten sei insbesondere auch, dass ihr das Fahren mit dem Rollstuhl ohne Zuggerät im Winter auf Schnee allgemein und nicht nur in ihrer konkreten Wohngegend unmöglich sei. Sie habe auch Anspruch auf einen zweiten Aktivrollstuhl. Dieser sei nicht als Ersatz für den bereits vorhandenen Rollstuhl gedacht, sondern allein als Ergänzung zu dem hauptsächlich beantragten Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät. Dieses lasse sich an ihren Rollstuhl nicht adaptieren.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Trier vom 12.7.2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9.6.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.8.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein Speedy-Elektra-Rollstuhlzuggerät sowie einen Leichtgewicht-Aktivrollstuhl zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zur Begründung verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs 2 SGG), wobei er Folgendes ergänzt:

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ausstattung mit einem Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät. Ein Hilfsmittel (§ 33 SGB V) ist nur dann erforderlich, um eine Behinderung auszugleichen, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Sinne allgemeiner Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) erfordert (BSG 16.9.1999, aaO; 10.10.2000, aaO). Hinsichtlich des Bewegungsbedürfnisses kommt es auf die Entfernungen an, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt (BSG aaO; BSG 16.9.2004 – B 3 KR 15/04 R). Bei dieser Sachlage ist die vorhandene Ausstattung der Klägerin mit einem Aktivrollstuhl ausreichend.

Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, sie benötige das Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät, um die notwendigen Wege außerhalb ihrer Wohnung in Anbetracht der dort hügeligen Landschaft zurücklegen zu können. Besonderheiten des Wohnorts können für die Hilfsmitteleigenschaft nicht maßgebend sein (BSG 16.9.1999, aaO; 21.11.2002 B 3 KR 8/02 R). Dieser vom BSG (16.9.1999 aaO; 21.11.2002 aaO) für den Fall, dass im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich der Wohnung liegen, aufgestellte Grundsatz muss entsprechend gelten, wenn die Fortbewegung in der unmittelbaren Umgebung der Wohnung der Klägerin durch besondere Umstände, zB hügeliges Gelände, erschwert wird (ebenso LSG für das Saarland, 12.12.2001 – L 2 KR 4/00).

Der Hinweis der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung, sie könne mit dem Aktivrollstuhl ohne Zuggerät auf Schnee nicht fahren, führt zu keinem anderen Ergebnis. Es ist davon auszugehen, dass die Anwohner im Winter ihrer Streupflicht genügen. Darauf kommt es jedoch nicht einmal entscheidend an. Unter Berücksichtigung der Grundsätze, die das BSG in seinen Urteilen vom 16.9.1999 (aaO) und 21.11.2002 (aaO) aufgestellt hat, kann die Notwendigkeit eines Hilfsmittels nicht mit Defiziten bei nur ausnahmsweise gegebenen Witterungsbedingungen begründet werden. Indem das BSG Besonderheiten des Wohnorts als unerheblich angesehen hat, hat es ersichtlich auf die normalen Bedürfnisse des Betroffenen abgestellt, weshalb ein nur an einigen wenigen Tagen bis allenfalls wenigen Wochen im Jahr bestehender Bedarf nicht ausreichend ist.

Ohne Erfolg verweist die Klägerin auf das Urteil des BSG vom 8.6.1994 (3/1 RK 13/93, SozR 3 2500 § 33 Nr 7). In seinem Urteil vom 16.9.1999 (aaO) hat das BSG ausdrücklich klargestellt, es halte die im Urteil vom 8.6.1994 angedeutete Auffassung, dass zwischen dem durch einen Selbstfahrerrollstuhl regelmäßig eröffneten Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder auch bei eingeschränktem Gesundheitszustand vor allem im ländlichen Bereich noch zu Fuß zurücklegt, eine Lücke bestehe, die ebenfalls noch den Grundbedürfnissen zuzurechnen sei, nicht aufrecht. Im Übrigen hat das BSG in seinem Urteil vom 8.6.1994 nur deshalb die Notwendigkeit der Ausrüstung mit dem begehrten Gerät (Rollstuhlboy) bejaht, weil der Betroffene erkrankungsbedingt nicht in der Lage war, einen handbetriebenen Rollstuhl selbstständig zu nutzen.

Entgegen der Auffassung der Klägerin weist der vorliegende Sachverhalt gegenüber demjenigen der Urteile des BSG vom 16.9.1999 (aaO) bzw 10.10.2000 (aaO) keine entscheidungserheblichen Unterschiede auf. Dass das in diesen Fällen beantragte Rollstuhlbike im Gegensatz zu dem Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät handbetrieben ist und eher als dieses einem Fahrrad entspricht, spielt keine entscheidende Rolle.

Ohne Erfolg trägt die Klägerin vor, die Funktionsweise des Speedy-Elektra Rollstuhlzuggeräts sei derjenigen eines sog Minitrac (batteriebetriebenes Rollstuhlzuggerät), das als Hilfsmittel gewährt werden könne, identisch. Ein Anspruch auf einen Minitrac setzt voraus, dass der behinderte Mensch behinderungsbedingt nicht in der Lage ist, den Rollstuhl ohne das Zuggerät fortzubewegen. Eine solche Sachlage liegt bei der Klägerin nicht vor.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Ausstattung mit einem zweiten Aktivrollstuhl. Wie sie im Berufungsverfahren klargestellt hat, benötigt sie diesen, da sich das Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät an den bisher vorhandenen Rollstuhl nicht adaptieren lasse. Da der Klägerin jedoch wie dargelegt kein Speedy-Elektra Rollstuhlzuggerät zu gewähren ist, ist auch der begehrte zusätzliche Aktivrollstuhl nicht notwendig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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