L 7 B 662/05 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 AS 212/05 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 B 662/05 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 26. September 2005 wird dahingehend abgeändert, dass dem Beschwerdeführer für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T. V. , beigeordnet wird. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. I
II. Außergerichtlichen Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Arbeitslosengeldes II (Alg II) streitig.

Der 1965 geborene Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf.) beantragte am 13.10.2002 bei der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (Bg.) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Bei der Antragstellung gab der Bf. an, dass er sich mit seinem 1935 geborenen Vater eine Sozialwohnung teile. Nach dem vorgelegten Mietvertrag sind sowohl der Vater des Bf. als auch er selbst Mieter. Die Wohnung beträgt 80,32 qm. Die monatlich zu zahlende Miete beträgt 457,80 EUR (Grundmiete 298,80 EUR, Betriebskosten 87,00 EUR und Heizkosten 72,00 EUR). Des Weiteren gab der Bf. an, dass sein verwitweter Vater eine Rente von der LVA Schwaben gemäß Bescheid vom 08.03.2004 in Höhe von 1.278,27 EUR beziehe.

Mit Bescheid vom 10.11.2004 bewilligte die Bg. dem Bf. für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 monatliche Leistungen in Höhe von 393,48 EUR, wobei von dem auf den Bf. entfallenden Gesamtbedarf unter Nichtberücksichtigung einer Miethöhenüberschreitung in Höhe von 49,00 EUR ein unterstellter Unterhaltsbeitrag seines Vaters in Höhe von 179,93 EUR als Einkommen in Abzug kam.

Zur Begründung des Widerspruch trug der Bf. vor, ihm werde von seinem Vater kein Unterhalt in der errechneten Höhe gewährt. Sein Vater würde vielmehr eine hälftige Beteiligung an den Kosten der Unterkunft verlangen. Es läge lediglich eine Wohngemeinschaft vor. Im Übrigen wies er darauf hin, dass der Bg. erhebliche Mehrkosten entstehen würden, wenn sein Vater die Wohngemeinschaft auflösen würde. Der Vater des Bf. gab an, dass er und sein Sohn völlig getrennt wirtschaften würden. So sei die Nutzung der Räume in der gemeinsamen Wohnung getrennt, das Essen werde getrennt gekauf und zubereitet, die Wäsche werde getrennt gewaschen und es würden zudem getrennte Konten bestehen.

Mit Änderungsbescheid vom 01.06.2005 half die Bg. dem Widerspruch teilweise ab und bewilligte für die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2005 monatlich 451,74 EUR (Abzug des Warmwasseranteils der Unterkunftskosten für die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2005, Berichtigung der vermuteten Unterhaltsleistung gemäß § 9 Abs.5 SGB II und Absetzung der Pauschale für Versicherungen sowie Kfz-Haftpflichtversicherung gemäß § 11 Abs.2 SGB II). Mit weiterem Bescheid vom 01.06.2005 wurden für die Zeit vom 01.04. bis 30.09.2005 wiederum monatliche Leistungen von 451,74 EUR bewilligt.

Im Übrigen wies die Bg. den Widerspruch als unbegründet zurück. Das bloße Bestreiten einer Unterhaltsgewährung durch den Bf. und seinen Vater reiche zur Widerlegung der Vermutung des § 9 Abs.5 SGB II nicht aus. Zwischen dem Bf. und seinem Vater bestehe eine Haushaltsgemeinschaft. Diese setze gemeinsames Wohnen und Wirtschaften voraus, was hinsichtlich des Wohnens unproblematisch vorliege, da der Bf. ebenso wie sein Vater Mieter der Wohnung sei. Des Weiteren würden nach den eigenen Angaben des Bf. die Gemeinschaftsräume gleichermaßen genutzt. Auch liege gemeinsames Wirtschaften vor, wobei es unerheblich sei, ob der Bf. und sein Vater eine gegenseitige Kontovollmacht besitzen. Dass Zeit und Ort des morgendlichen Aufstehens sowie der Essenszubereitung beim Bf. und seinem Vater nicht gleich seien, sei ebenfalls bei erwachsenen Kindern nicht ungewöhnlich und für die Frage, ob gemeinsam gewohnt und gewirtschaftet werde, unerheblich. Die Anwendung der Unterhaltsvermutung erfolge in Anschluss an die früher zu § 16 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ergangene Rechtsprechung. Je näher die Verwandschaft, also insbesondere im Verhältnis von Eltern und Kindern, desto schwerer sei die Vermutung des § 9 Abs.5 SGB II zu widerlegen.

Am 29.06.2005 hat der Bf. beim Sozialgericht Augsburg (SG) Klage erhoben. Gleichzeitig hat er den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Über die anhängige Klage unter dem Az.: S 9 AS 214/05 ist noch nicht entschieden worden.

Mit Beschluss vom 26.09.2005 hat das SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, zudem die Bewilligung von PKH. Der Bf. habe den erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Nach Überzeugung des Gerichts lebe der Bf. mit seinem Vater in einer Hausgemeinschaft, so dass unwiderlegbar zu seinen Ungunsten zu vermuten sei, dass er von diesem in dem von der Bg. berechneten Umfang Leistungen erhalte. § 9 Abs.5 SGB II entspreche, von der Einschränkung des Anwendungsbereichs auf Hilfe zum Lebensunterhalt abgesehen, nahe wörtlich dem am 31.12.2004 außer Kraft getretenen § 16 Satz 1 BSHG. Diese Vorschrift sei jedoch - anders als § 9 Abs.5 SGB II - durch den nachfolgenden § 16 Satz 2 BSHG ergänzt, wonach dem Hilfesuchenden Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren gewesen sei, soweit er von den in Satz 1 genannten Personen Leistungen zum Lebensunterhalt nicht erhalten habe. Damit handle es sich bei § 16 BSHG um eine gesetzliche Vermutung, die durch den Hilfesuchenden mit dem von ihm zu beweisenden Vorbringen, dass er von den Haushaltsangehörigen Leistungen zum Lebensunterhalt nicht erhalte, habe widerlegt werden können. Da der Gesetzgeber bei dem aus dem Sozialhilferecht entwickelten Gesetzeswerk der Grundsicherung für Arbeitssuchende eine mit § 16 Satz 2 BSHG vergleichbare Regelung nicht übernommen habe, könne daraus zunächst nur geschlossen werden, dass er eine Widerlegung der Vermutung des § 9 Abs.5 SGB II gerade nicht ermöglichen, das Gesetz in diesem Punkte also habe verschärfen wollen, was auch verständlich wäre, nachdem die Vermutungsregelung des § 16 BSHG aufgrund der Rechtsprechung schon dann widerlegt gewesen sei und ins Leere gelaufen sei, wenn die Haushaltsangehörigen nur übereinstimmend versichert hätten, dem Hilfesuchenden werde keine Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. Zwar enthalte § 9 Abs.5 SGB II eine widerlegbare gesetzliche Vermutung, dass mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen verwandte oder verschwägerte Personen, die nicht zur Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs.3 SGB II gehören und in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Erwerbsfähigen leben, diesem Leistungen zum Lebensunterhalt erbringen. Allerdings bleibe der Gesetzgeber die Antwort auf die Frage schuldig, wie er die Widerlegbarkeit der gesetzlichen Vermutung des § 9 Abs.5 SGB II gesetzgeberisch umgesetzt haben wolle. Es verbleibe insgesamt die Frage, ob der Gesetzgeber die Übernahme von § 16 Satz 2 BSHG in § 9 Abs.5 SGB II etwa deshalb nicht für notwendig gehalten habe, weil er bereits in dem auf der Tatbestandsseite der Vorschrift verwendeten unbestimmten Rechtsbegriff der Haushaltsgemeinschaft einen ausreichenden Schutz derer sah, die entgegen der gesetzlichen Vermutungsregel tatsächlich keine Leistungen von den mit ihnen verwandten oder verschwägerten Personen erhalten und daher das Kriterium des "Aus-einem-Topf-Wirtschaftens" nicht erfüllen. Es sei kein anderer Gesetzeszweck denkbar als der, dem Leistungsträger die schwierige, ohne Eindringen in geschützte Bereiche eines Familienhaushalts nicht zu leistende Prüfung zu ersparen, ob "Aus einem-Topf gewirtschaftet" wird. Die weitere Vertiefung dieser Frage könne hier allerdings offen bleiben, weil sie bereits bei Zugrundelegung des eigenen Vorbringens des Bf. zu seinen Ungunsten zu beantworten sei, er vorgetragen habe, er beteilige sich auf Verlangen seines Vaters zur Hälfte an den Unterkunftskosten, benutze Waschmaschine, Bad, WC, Wohnzimmer, Küche, Heizung etc. in gleichem Maße wie sein Vater. Die Verpflichtung des Bf. zur hälftigen Beteiligung an der Miete sei offenbar die eines über eigenes Einkommen verfügenden Mitmieters und nicht die eines Untermieters einer vollmöblierten Wohnung, die einem höheren Anteil als nur der Hälfte des an den Vermieter zu zahlenden Betrages entspräche. Damit sei deutlich, dass beide Personen - der Vater mehr als der Bf. - Finanz- und Sachmittel zum gemeinsamen Haushalt beisteuern und sie auch gemeinsam benutzen bzw. verbrauchen. Da die Rechtsverfolgung sowohl im Antragsverfahren als auch im Hauptsacheverfahren keine Aussicht auf Erfolg i.S. des § 73a Abs.1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO habe, sei keine PKH zu bewilligen.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des Bf. der geltend macht, die Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutungsregel des § 9 Abs.5 SGB II seien nicht erfüllt. Für das Eingreifen der Vermutung reiche es nicht aus, wenn Verwandte oder Verschwägerte in einem Haushalt zusammen wohnen. Vielmehr müsse über die bloße Wohngemeinschaft hinaus der Haushalt im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam geführt werden. Dies könne jedoch nur angenommen werden, wenn die Verwandten mit dem im selben Haushalt lebenden Hilfebedürftigen "aus einem Topf" wirtschaften würden. Dies sei jedoch nicht der Fall. In diesem Zusammenhang werde auf den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 29.07.2003 - S 13 AS 32/05 ER - verwiesen. Die Leistungsvermutung treffe nur ein, wenn feststehe, dass die Verwandten oder Verschwägerten überhaupt leistungsfähig seien und dass nach dem Gesamtbild der konkreten Umstände tatsächlich Leistungen erbracht werden. Die objektive Beweislast für das Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft trage dabei grundsätzlich die Behörde. Aus dem Umstand einer bestehenden Wohngemeinschaft lasse sich zwar ein Indiz für das Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft ableiten, es folge daraus aber keine Umkehr der Beweislast in der Weise, dass es dem Partner einer Wohngemeinschaft obliege, nachzuweisen, dass lediglich eine Zweckgemeinschaft also keine Wirtschaftsgemeinschaft bestehe. Er teile lediglich aus ökonomischen Gründen die Wohnung mit seinem Vater. Dieser würde keine Leistungen zur Deckung seines Hilfebedarfs erbringen. Der Vater überweise die Miete aus organisatorischen Gründen von seinem Konto an den Vermieter. Er selbst übergebe die Hälfte der Miete an seinen Vater in bar.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die eingelegte Beschwerde ist zulässig, sachlich ist das Rechtsmittel teilweise begründet. Die vom Bf. begehrte einstweilige Anordnung kann nicht ergehen. Es liegen aber die Voraussetzungen der Bewilligung von PKH für das Klageverfahren vor.

Gemäß § 86b Abs.2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Dabei hat der Bf. sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (den Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.

Das SG hat zu Recht den Erlass einer einstweiligen Anordnung vom Ergebnis her abgelehnt, da der Bf. einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht hat. Es ist nicht erkennbar, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Der Bf. bezieht zur Zeit monatliche Leistungen in Höhe von 451,74 EUR, so dass dadurch der aktuelle Bedarf nicht gefährdet ist.

Die gemäß § 73a SGG i.V.m. § 17 Zivilprozessordnung (ZPO) erforderliche Aussicht auf einen Erfolg des Klageverfahrens kann bei summarischer Prüfung nicht von vornherein verneint werden. So hat das SG in seinem Beschluss selbst darauf hingewiesen, dass nach der Gesetzesbegründung § 9 Abs.5 SGB II eine widerlegbare gesetzliche Vermutung enthält. Im Klageverfahren wird diesbezüglich eine weitere Vertiefung der Fragestellung zu erfolgen haben.

Da die zu klärenden Sach- und Rechtsfragen nicht so einfach gelagert sind, dass sie von dem rechtlich unerfahrenen Bf. überblickt werden können, erscheint die Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 121 Abs.2 ZPO erforderlich, um eine weitgehende angleichende Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104, 117; 81, 347, 356) zu gewährleisten.

Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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