S 35 AS 68/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
35
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 68/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 05.02.2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 23.01.2006 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I.

Mit Bescheid vom 15.12.2005 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 30.06.2006 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 685,36 Euro. Unter dem gleichen Datum forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zur Vorlage von Kontoauszügen für die letzten 6 Monate auf.

Mit Bescheid vom 23.01.2006 hob die Antragsgegnerin die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 01.03.2006 auf. Zur Begründung gab sie an, bei der Antragstellerin lägen unklare wirtschaftliche Verhältnisse vor.

Unter dem gleichen Datum forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, weitere Unterlagen vom Arbeitgeber der Antragstellerin und von der Vermieterin der Antragstellerin vorzulegen.

Gegen den Aufhebungsbescheid legte die Antragstellerin unter dem 5. Februar 2006 Widerspruch ein. Mit dem Widerspruch reichte sie umfangreiche Unterlagen zur Akte, u.a. Kontoauszüge aus dem Jahr 2005.

Unter dem 03.03.2006 begehrt die Antragstellerin beim Sozialgericht Düsseldorf vorläufigen Rechtsschutz. Sie beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 05.02.2006 gegen den Bescheid vom 23.01.2006 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, bei der Antragstellerin lägen unklare Vermögensverhältnisse vor. Die Antragstellerin könne nicht beweisen, dass sie hilfebedürftig sei. Außerdem fordert die Antragsgegnerin noch die Vorlage von weiteren Unterlagen der Antragstellerin. Die Antragsgegnerin trägt hierzu vor, erst nach Vorlage dieser Unterlagen könne eine Prüfung erfolgen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB-II-Leistungen vorlägen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

II.

Das Begehren der Antragstellerin ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegen. Gem. § 39 Nr. 1 SGB II haben Widersprüche gegen Bescheide, die über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheiden, keine aufschiebende Wirkung. Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung anordnen. Das Gericht entscheidet aufgrund einer Abwägung der beiderseitigen Interessen unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Danach gilt, dass die einstweilige Anordnung im Zweifel anzuordnen ist, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt - bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung - als offensichtlich rechtswidrig erweist. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt dagegen als offensichtlich rechtmäßig, so besteht kein Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist vorliegend die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, weil

a) erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen

und

b) der zu Grunde liegende Sachverhalt von der Antragsgegnerin nicht ausreichend aufgeklärt ist.

zu a) Die Antragsgegnerin hat in ihrem Bescheid vom 23.01.2006 zunächst die Auffassung vertreten, sie dürfe den ursprünglichen Bewilligungsbescheid aufheben, weil in den Verhältnissen seit Erteilung des Bewilligungsbescheides eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten sei. Folgt man jedoch der Begründung der Antragsgegnerin für die Aufhebung des Bescheides, so ist eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Vielmehr haben dann die Voraussetzungen für die Erteilung des Bewilligungsbescheides schon zum Zeitpunkt der Bewilligung nicht vorgelegen. Mit dem Schreiben vom 09.03.2006 gesteht die Antragsgegnerin dies auch ein und vertritt die Auffassung, der von ihr erteilte Einstellungsbescheid könne in einen Bescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden. Das Gericht hat schon erhebliche Zweifel, ob eine solche Umdeutung hier möglich ist, denn eine Entscheidung nach § 48 SGB X ist grundsätzlich eine gebundene Entscheidung. Folgerichtig hat die Antragsgegnerin in ihrem Einstellungsbescheid auch Ermessen nicht ausgeübt. Dagegen ist nach der Vorschrift des § 45 SGB X in eine Ermessensausübung aber erforderlich (vgl. von Wulffen SGB X 5. Auflage § 45 Anmerkung 2 ff. mit weiteren Nachweisen). Lediglich dann, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegen, kann über die Vorschrift des § 330 SGB III ein Leistungsentzug ohne Ermessensausübung erfolgen. Ob die Antragstellerin hier die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X erfüllt, ist derzeit unklar. Das Gericht vermag aber aus dem Vortrag der Antragstellerin und den vorgelegten Kontoauszügen nicht ohne weiteres zu entnehmen, dass hier falsche Angaben der Antragstellerin vorliegen. Dazu ist der Sachverhalt zu komplex und kann im Rahmen des hier anhängigen Eilverfahrens nicht ausreichend aufgeklärt werden. Der Zeitablauf spricht allerdings vorliegend dafür, dass die Antragsgegnerin den Bewilligungsbescheid schon mit der Vermutung erlassen hat, dass die von ihr behaupteten "unklaren Vermögensverhältnisse" bei der Antragstellerin vorliegen. Die Antragsgegnerin hat nämlich unter dem gleichen Datum, unter dem sie Leistungen bewilligt hat, die Antragsgegnerin zur Vorlage verschiedener Unterlagen aufgefordert. Wenn die Behörde aber einen Bescheid erlässt, von dem sie bereits weiß, dass er wahrscheinlich unrichtig ist, so ist ihr Interesse an einer Aufhebung nicht im üblichen Maße schützenswert.

Unabhängig davon dürfte aber der Bescheid vom 23.01.2006 auch aus anderen Gründen rechtswidrig sein. Dem Bescheid fehlte schon eine ordnungsgemäße Begründung. Nach den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften des SGB II stehen der Antragstellerin Leistungen zu, wenn sie einen entsprechenden wirtschaftlichen Bedarf hat. Ob die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung vorliegen oder nicht, hat die Antragsgegnerin zu ermitteln (vgl. § 20 SGB X). Die Antragsgegnerin hat vorliegend jedoch vor Erteilung des Einstellungsbescheides keinerlei Ermittlungen angestellt. Folgerichtig stellt sie die Leistungen auch ein, weil ihr unklar sei, ob Leistungen zustehen oder nicht. Eine solche Leistungseinstellung wegen "unklaren Sachverhalts" sieht das Sozialrecht jedoch nur unter den Voraussetzungen der §§ 60 ff. SGB I vor. Das dortige Verfahren hat die Antragsgegnerin jedoch nicht angewandt und auch nicht eingehalten. Tatsächlich gibt die Antragsgegnerin auch im Verfahren unumwunden zu, dass sie gegen die Vorschrift zur Sachverhaltsermittlung nach § 20 SGB X verstößt. So trägt die Antragsgegnerin vor:

"Erst nach Vorlage dieser Unterlagen kann eine Prüfung erfolgen, ob die Voraussetzungen der Gewährung von SGB-II-Leistungen ab 01.03.2006 vorliegen".

Zu b) Aber selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der angefochtene Bescheid nicht offensichtlich rechtswidrig ist, so führt dies gleichwohl zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Für diesen Fall muss nämlich das Gericht davon ausgehen, dass unklar ist, ob die Antragstellerin mit ihrem Widerspruch durchdringen wird oder nicht. Für diesen Fall muss das Gericht eine Abwägung der gegenseitigen Interessen vornehmen. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az.: L 8 AS 4496/05 ER-B - Beschluss vom 02.12.2005 - www.sozialgerichtsbarkeit.de) führt hierzu aus:

"Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236, 1237; BVerfG NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinen Begehren verfolgt (BVerfG NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928). Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236, 1237). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern".

Dem schließt sich das Sozialgericht an. Da der Sachverhalt vorliegend nicht aufgeklärt ist und im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht aufgeklärt werden kann, ist eine Entscheidung im Sinne der Antragstellerin zu treffen.

Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht auch vorgegeben hat, dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nur auf die gegenwärtige Lage abgestellt werden darf. Umstände der Vergangenheit dürfen nur insoweit herangezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage des Antragstellers ermöglichen (Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 12. Mai 2005 - Az.: 1 BvR 569/05 - www.juris.de). Letzteres ist vorliegend aber nicht der Fall. Vielmehr begründet die Antragsgegnerin ihre Leistungseinstellung nur mit einer unklaren Einkommenssituation in der Vergangenheit.

Nach alledem dürfte es daher - nach der vorgenannten Rechtsprechung - nicht möglich sein, eine Leistung wegen "unklarer Vermögensverhältnisse" abzulehnen sondern allenfalls wegen fehlender Mitwirkung (§§ 60 ff SGB I).

Nur der Vollständigkeit halber weist das Gericht darauf hin, dass die Antragsgegnerin mit ihren Ausführungen zur Beweislast völlig falsch liegt, wenn sie meint, die Antragstellerin habe den Beweis ihrer Bedürftigkeit nicht erbracht, was zu Lasten der Antragstellerin gehe. Aus den von der Antragsgegnerin zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des OVG NRW geht aber das genaue Gegenteil hervor. Die vorgenannten Gerichte legen in den zitierten Entscheidungen dar, dass derjenige, der einen Anspruch geltend macht, hierfür beweispflichtig ist. Wer also einen Antrag auf Leistungen stellt soll dafür beweispflichtig sein, dass er den Anspruch auf die Leistung hat. Vorliegend macht aber die Antragsgegnerin einen Anspruch geltend, nämlich den Anspruch, den erteilten Bewilligungsbescheid zurücknehmen zu dürfen. Nach den zitierten Entscheidungen ist deshalb die Antragsgegnerin hier beweispflichtig. Diesen Beweis erbringt sie gerade nicht, wenn sie selbst vorträgt, der Sachverhalt sei unklar.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG analog.
Rechtskraft
Aus
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