S 12 RJ 123/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 RJ 123/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 und der Bescheid vom 27.10.2005 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Klägerin in der Zeit vom 01.11.1999 bis zum 08.09.2004 gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI in der Rentenversicherung versicherungspflichtig war. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegen die Beklagte Anspruch auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen als nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson hat.

Die Klägerin pflegt ihren 1952 geborenen Sohn P, für den seit der Geburt die Pflegestufe I anerkannt ist. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer Begutachtung ihres Sohnes durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) im Hinblick auf die Höhe der Pflegestufe stellte die Klägerin am 12.01.2000 bei der Beigeladenen den Antrag auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen. Der Gutachter des MDK war in diesem Gutachten vom 08.12.1999 zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Sohn der Klägerin insgesamt ein Hilfebedarf in Höhe von 92 Minuten am Tag bestehe und dass der Hilfeaufwand mehr als 14 Stunden in der Woche betrage. Mit formlosem Schreiben vom 19.01.2000 teilte die Beigeladene der Klägerin mit, dass sie für die Zeit, in der sie die Pflege leiste, gesetzlich rentenversichert sei und die Beigeladene sie deshalb zum 01.11.1999 bei ihrem Rentenversicherungsträger angemeldet habe.

Am 02.03.2004 wandte sich die Beigeladene erneut schriftlich an die Klägerin und teilte ihr mit, dass sich bei einer hausinternen Überprüfung Differenzen zwischen der von ihr in ihrem Antrag vom 12.01.2000 auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen gemachten Angaben und den Feststellungen des MDK in seinem Gutachten vom 19.11.2001 ergeben habe. Bei dieser Begutachtung habe der Gutachter eine Pflegeleistung von weniger als 14 Stunden wöchentlich festgestellt. Daher müsse die Beitragszahlung für die Klägerin eingestellt werden.

In ihrer schriftlichen Äußerung vom 22.03.2004 trug die Klägerin vor, dass ihre Pflegeleistungen mehr als 14 Stunden pro Woche betrage.

Die Beigeladene gab das Verwaltungsverfahren an die Beklagte zur Entscheidung über die Rentenversicherungspflicht der Klägerin ab. Mit Bescheid vom 22.06.2004 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr Antrag bei der AOK auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen als Pflegeperson für die Zeit ab 01.11.1999 abgelehnt werde, da die Pflegetätigkeit unter 14 Stunden pro Woche liege.

Mit ihrem Widerspruch vom 06.07.2004 machte die Klägerin im wesentlichen geltend, dass sie Pflegeleistungen in Höhe von sieben Stunden täglich erbringe. Zur weiteren Aufklärung zur Frage des zeitlichen Umfangs der von der Klägerin erbrachten Pflegelei-stungen holte die Beigeladene auf Bitten der Beklagten ein weiteres Gutachten des MDK ein. Der Gutachter C untersuchte den Sohn der Klägerin in seiner häuslichen Umgebung und gelangte in seinem Gutachten vom 13.09.2004 zu der Feststellung, dass im Bereich von Grundpflege und Hauswirtschaft insgesamt ein Hilfebedarf von 134 Minuten im Tagesdurchschnitt vorliege und dass die Pflegeleistungen weniger als 14 Stunden pro Woche betragen würden. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.2004 mit der Begründung zurück, dass der Pflegeaufwand weniger als 14 Stunden in der Woche betrage.

Mit ihrer am 24.12.2004 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung trägt sie vor, dass der wöchentliche Pflegeaufwand aufgrund des Gutachtens des MDK vom 13.09.2004 wegen des täglichen Hilfebedarfs von 134 Minuten rechnerisch über 14 Stunden pro Woche liege. Zudem seien die in dem Gutachten angegebenen Pflegezeiten und Pflegetätigkeiten nicht korrekt.

Unter dem 27.10.2005 erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin einen weiteren Bescheid, in dem sie feststellte, dass von der Beigeladenen in der irrtümlichen Annahme der Versicherungspflicht von Entgelten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt wurden. Diese zu Unrecht entrichteten Beiträge seien nach § 26 Abs. 2 SGB IV zu erstatten. Dieser Bescheid würde gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens.

Nachdem sich die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung bereit erklärt hat festzustellen, dass die Klägerin ab dem 09.09.2004 gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist und die Klägerin dieses Teilanerkenntnis angenommen hat, beantragt die Klägerin nunmehr nur noch,

den Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 und den Bescheid vom 27.10.2005 aufzuheben und festzustellen, dass sie ab dem 01.11.1999 bis zum 08.09.2004 gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1a SGB VI in der Rentenversicherung rentenversicherungspflichtig war.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist bei ihrer im Verwaltungsverfahren vertretenen Auffassung verblieben und verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 24.11.2004.

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen der Versicherungspflicht nicht erfüllt sind, da der Umfang der Pflegetätigkeit nicht regelmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich ausmache.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 und der Bescheid vom 27.10.2005 sind rechtswidrig und die Klägerin wird durch sie beschwert, da die Klägerin in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (Gesetzliche Rentenversicherung) – SGB VI – versicherungspflichtig ist.

1. Die Klägerin wendet sich zum einen gegen den Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 in dem festgestellt wird, dass ihre Versicherungspflicht gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI in der Rentenversicherung ab 1999 nicht bestand. Für die Frage der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides kommt es entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten und der Beigeladenen nicht auf die Frage an, ob die Klägerin ihren Sohn mehr als 14 Stunden in der Woche pflegte und deswegen gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI Anspruch auf Anerkennung ihrer Versicherungspflicht hat. Der angegriffene Bescheid ist vielmehr schon deswegen rechtswidrig, weil die Versicherungspflicht der Klägerin bereits bestandskräftig festgestellt ist. Vorliegend ergibt sich die Versicherungspflicht der Klägerin aus dem Schreiben der Beigeladenen vom 19.01.2000, in dem diese ihr mitgeteilt hat, dass sie für die Zeit, in der sie Pflege leistet, gesetzlich rentenversichert ist. Dieses Schreiben hat eine entsprechende rechtliche Position der Klägerin begründet. Denn ein subjektives öffentliches Recht (wie hier die Anerkennung als versicherungspflichtige Pflegeperson) kann auch durch einen Verwaltungsakt begründet werden. Dies ergibt sich aus § 45 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz) – SGB X –. Das Schreiben der Beigeladenen vom 19.01.2000 stellt einen solchen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X dar. Es handelt sich dabei um eine einseitige hoheitliche Regelung durch einen Hoheitsträger zur Regelung eines Einzelfalles. Eine Regelung in diesem Sinne ist jede Begründung, Aufhebung, Änderung oder bindende Feststellung eines bindenden Rechts oder einer Pflicht des Betroffenen (Schroeder-Printzen in Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, Sozialgesetzbuch, Verwaltungsver-fahren – SGB X, Kommentar, 3. Auflage 1996, § 31, Rdn. 20). Eine Regelung liegt dabei nur vor, wenn die Behörde auch den Willen hat, verbindlich festzulegen, was für den Einzelnen Rechtens sein soll (Schroeder-Printzen, a.a.O.). Ist zweifelhaft, ob ein solcher Regelungswille der Verwaltung vorliegt, ist das fragliche Schriftstück unter entsprechender Anwendung der Grundsätze über die Auslegung von Willenserklärungen auszulegen, wobei maßgeblich auf den Empfängerhorizont abzustellen ist (BSG, SozR 4100, § 117 Nr. 21; Krasney in Kasseler Kommentar, § 31, Rdn.11; Schroeder-Printzen, a.a.O.). Maßgeblich ist, ob nach dem Erklärungswert der Maßnahme eine hoheitliche Regelung gewollt ist. Die Qualifikation einer Erklärung einer Behörde als Verwaltungsakt ist danach zu bestimmen, wie der Empfänger der Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles zu deuten hatte (BSG, SozR 5755, Art. 2, § 1, Nr. 3), wobei die äußere Form der Maßnahme mitentscheidend ist, z. B. die Bezeichnung eines Schreibens als "Bescheid" oder die Mitteilung einer Rechtsbehelfsbelehrung (Schroeder-Printzen, a.a.O., Rdn. 22, BSGE 10, 263; 19, 124). Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Beigeladene mit Schreiben vom 19.01.2000 den Willen zum Ausdruck gebracht hat, die Versicherungspflicht der Klägerin verbindlich festzustellen. Denn bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22.03.2001, Az.: B 12 P 3/00 R sind die Rentenversicherungsträger, die Träger der Pflegeversicherung und nicht zuletzt die in diesen Rechtsfragen erkennenden Sozial- und Landessozialgerichte davon ausgegangen, dass die Beigeladene zur Entscheidung über die Versicherungspflicht befugt ist. Jedenfalls musste die Klägerin das Schreiben der Beigeladenen so verstehen, dass diese verbindlich ihre Versicherungspflicht feststellen wollte. Denn sie hatte eine Woche zuvor, nämlich am 12.01.2000, mit ihrem Antrag auf Zahlung der Beiträge gerade diese Rechtsfolge herbeiführen wollen. Unschädlich ist, dass die Mitteilung der Beigeladenen formlos und ohne Rechtsbehelfsbelehrung erfolgte. Aus diesem Umstand musste die Klägerin nicht schließen, dass sich die Beigeladene rechtlich nicht binden wollte. Denn ihrem Antrag war in vollem Umfang stattgegeben worden, so dass eine Rechtsbehelfsbelehrung sinnentleert gewesen wäre. Vielmehr wies das Schreiben der Beigeladenen vom 19.01.2000 den gleichen Aufbau und die gleichen Formulierungen auf wie das Schreiben vom 28.12.1999, mit dem dem Sohn der Klägerin das Pflegegeld bewilligt wurde: Zunächst stellte die Beigeladene fest, dass die Voraussetzungen für die Pflegestufe I vorliegen bzw. dass die Klägerin gesetzlich rentenversichert ist. Dann wird mitgeteilt, dass das Pflegegeld bzw. die Beiträge gezahlt werden.

Dieser die Versicherungspflicht der Klägerin begründete Verwaltungsakt ist auch wirksam. Gemäß § 39 Abs. 2 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Es ist somit unschädlich, dass für die Entscheidung über die Versicherungspflicht nicht die Beigeladene, sondern die Beklagte zuständig ist, denn auch ein formell rechtswidriger Bescheid kann in Bestandskraft erwachsen. Der Verwaltungsakt der Beigeladenen ist auch nicht deswegen gemäß § 39 Abs. 3 SGB X unwirksam, weil er nach der Vorschrift des § 40 SGB X nichtig ist. Zwar hat nicht die für die Feststellung der Versicherungspflicht eigentlich zuständige Beklagte, sondern die Beigeladene den die Versicherungspflicht begründenden Verwaltungsakt erlassen. Dieser Fehler ist jedoch nicht im Sinne des § 40 Abs. 1 SGB X bei verständiger Würdigung offenkundig. Denn bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22.03.2001, Az.: B 12 P 3/00 R sind die Rentenversicherungsträger, die Träger der Pflegeversicherung und nicht zuletzt die in diesen Rechtsfragen erkennenden Sozial- und Landessozialgerichte davon ausgegangen, dass die Beigeladene zur Entscheidung über die Versicherungspflicht befugt ist.

a) Der Verwaltungsakt der Beigeladenen vom 19.01.2000 wurde nicht durch den Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 aufgehoben. Laut Verfügungssatz wurde in diesen Bescheiden durch die Beklagte lediglich festgestellt, dass der Antrag vom 01.11.1999 abgelehnt wird, weil die Versicherungspflicht nicht bestehe. Diese Verwaltungsakte treffen jedoch keine Aussage darüber, dass die bereits bestehende Versicherungspflicht entfallen soll. b) Die Feststellung der Versicherungspflicht der Klägerin verliert ihre Wirksamkeit auch nicht durch den Bescheid der Beklagten vom 27.10.2005. Denn auch dieser Bescheid enthält keinen Verfügungssatz, dass die bereits bestehende Versicherungspflicht aufgehoben wird.

2. Auch der gemäß § 96 SGG Teil des Verfahrens gewordene Bescheid der Beklagten vom 27.10.2005 ist rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (Gemeinsame Vorschriften über die Sozialversicherung) – SGB IV – nicht vorliegen. Wie bereits ausgeführt lag die Versicherungspflicht der Klägerin aufgrund des Verwaltungsaktes der Beigeladenen vom 19.01.2000 vor, so dass die Beiträge jedenfalls nicht zu Unrecht geleistet wurden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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