Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 SB 1014/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 110/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Anhaltspunkte des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (AHP) sind bei der Festsetzung des GdB zu beachten, obwohl - auch nach Inkrafttreten des SGB IX - weiterhin eine gesetzliche Grundlage für sie fehlt. Sie sind im Einzelfall einer richterlichen Kontrolle zu unterziehen. Ein Vestoß gegen das GG liegt dann nicht vor.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.05.2000 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Behinderungen des Klägers mit einem höheren Grad der Behinderung (GdB) als 40 zu bewerten sind.
Bei dem am 1942 geborenen Kläger waren zuletzt mit Änderungsbescheid vom 06.04.1995 als Behinderungen mit einem GdB von 40 festgestellt: 1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskel reizerscheinungen bei Verschleiß und Zustand nach Fraktur des Lendenwirbelkörpers 1. Beginnender Verschleiß des linken Kniegelenkes (Einzel-GdB 30). 2. Chronischer Harnwegsinfekt, chronische Entzündung der Vor steherdrüse, rezidivierender Herpes genitalis (Einzel-GdB 20).
Am 23.07.1997 begehrte der Kläger eine Neufeststellung seiner Behinderungen wegen einer Zunahme seiner Wirbelsäulenbeschwerden, einer Verschlechterung seines Gehörs, des Herpes genitalis sowie des chronischen Harnweginfekts. Der Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers und eine Stellungnahme der HNO-Ärztin Dr.S. vom 22.09.1997 ein und lehnte eine Neufeststellung mit Bescheid vom 23.09.1997 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10.12.1997).
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat der Kläger beantragt, den Bescheid vom 23.09.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 10.12.1997 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den GdB ab 23.07.1997 mit einem höheren GdB als 40, mindestens mit 50 zu bewerten. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen über den Kläger hat das SG von Dr.G. ein Gutachten vom 09.09.1998/14.03.2000 eingeholt, der die Behinderungen des Klägers wie der Beklagte mit einem Gesamt-GdB von 40 eingestuft hat. Demgegenüber hat der nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörte Orthopäde Dr.R.W. die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet wegen deformierender Umbauvorgänge in drei Wirbelsäulenabschnitten mit 40 und den Gesamt-GdB mit 50 bewertet. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.05.2000 abgewiesen und sich auf das Gutachten des Dr.G. gestützt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und die Bewertung seiner Behinderungen auf orthopädischem Gebiet für unzureichend gehalten. Der Senat hat von dem Orthopäden Dr.A.D. ein Gutachten vom 29.06.2001 eingeholt. Dieser hat - wie Dr.G. - die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet und den Gesamt-GdB mit 40 eingeschätzt. Der gemäß § 109 SGG gehörte Orthopäde Dr.Th.-A.S. hat mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten mit einem GdB von 30 bewertet und unter Berücksichtigung eines zusätzlichen außergewöhnlichen Schmerzsyndroms für die Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 40 angenommen. Den Gesamt-GdB hat er auf 50 geschätzt (Gutachten vom 27.11.2001/14.02.2002). Der Beklagte hat sich mit einer Stellungnahme des Chirurgen Dr.K.P. vom 10.01.2002 gegen das Gutachten des Dr.Th.-A.S. gewandt. Mit Schriftsatz vom 26.02.2002 hat der Kläger die Auffassung vertreten, die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 könnten nicht zur GdB-Festsetzung herangezogen werden, da sie keine Rechtsgrundlage für die Einstufung des GdB darstellten. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 06.03.1995 (Az: 1 BvR 60/95) festgestellt, die AHP könnten in Zukunft nur Beachtung finden, wenn sie in ein "Gesetz" überführt würden. Da der Gesetzgeber bis heute untätig geblieben sei, sei davon auszugehen, dass insbesondere unter Beachtung des neu geschaffenen Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) nunmehr von der Verfassungswidrigkeit der AHP ausgegangen werden müsse. Er regte eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) an.
Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 29.05.2000 und den Bescheid vom 23.09.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 10.12.1997 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 29.05.2000 zurückzuweisen.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 SGB IX Abs 1 Sätze 1, 3 und 5).
Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung des GdB vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den gesundheitlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung des GdB und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung.
In den Verhältnissen, die für die Feststellung der Behinderungen mit einem GdB von 40 im Bescheid vom 06.04.1995 maßgeblich waren, ist eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Gutachten des Dr.A.D. vom 29.06.2001. Danach bestehen beim Kläger ein chronisches Zerviko-Brachial-Syndrom bei Spondylochondrose der Halswirbelsäule, eine statisch funktionelle Beeinträchtigung der Wirbelsäule des Rumpfes durch eine posttraumatische Kyphoskoliose nach altem Wirbelbruch D 12 mit lokaler knöcherner Verblockung in Fehlstellung, eine Bandscheibendegeneration mit Vorwölbungen im Lendenbereich, dadurch bedingtes Lumbalsyndrom mit einer alten Wurzelschädigung L 5/S 1 sowie eine Iliosacralarthrose. Diese Behinderungen sind insgesamt mit einem GdB von 30 zu bewerten. Die festgestellte Arthrose an den Hüftgelenken, am linken Knie- und rechten Sprunggelenk sind einzeln und auch als Gesamtbefund mit einem GdB von weniger als 10 zu bemessen, da sie funktionell keine wesentliche Bewegungseinbuße bedingen. Nach dem von Dr.A.D. erhobenen Befund der Wirbelsäule des Rumpfes sind die dadurch bedingten mittelgradigen Funktionseinschränkungen mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten (AHP Nr 26, 18 S 140). Ein höherer GdB ist hierfür nicht anzunehmen, da dieser Wirbelsäulenabschnitt beim Kläger noch relativ gut beweglich ist, worauf auch die Sachverständigen der ersten Instanz Dr.G. und Dr.R.W. hingewiesen haben. Schwere funktionelle Auswirkungen, wie sie die Zuerkennung eines GdB von 30 nach den AHP aaO voraussetzen, liegen nicht vor. Die Funktionseinschränkung der HWS erreicht kein mittelgradiges Ausmaß. Vielmehr bestand bei der Begutachtung durch Dr.A.D. ein klinisch befriedigender Befund, dh es waren keine starke Bewegungseinschränkungen und vor allem klinisch kein Anzeichen für eine Wurzelirritation iS eines Zervikalsyndroms erkennbar. Die Muskulatur war nicht nur bei dieser Untersuchung ohne Verspannungen, sondern auch bei den genannten Voruntersuchungen. Es kann vorliegend daher nicht von mittelgradigen (bis schweren) Beschwerden mit funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ausgegangen werden, was nach dem AHP aaO die Zuerkennung eines (Einzel-)GdB von 40 zur Folge hätte.
Dem Gutachten des Dr.Th.-A.S. folgt der Senat nur insoweit als er die Wirbelsäulenschäden mit einem GdB von 30 bewertet. Der Senat vermag sich aber der Auffassung des Dr.Th.-A.S. , eine Höherbewertung der Wirbelsäulenbeschwerden sei wegen einer somatoformen Schmerzstörung des Klägers angezeigt, nicht anzuschließen. Nach den vom Senat zu beachtenden AHP aaO können nur bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen GdB-Werte über 30 in Betracht kommen. Ein Schmerzsyndrom dieses Ausmaßes ist beim Kläger aber nicht verifizierbar. Die in der GdB-Tabelle angegebenen Werte schließen die üblicherweise vorhandenen Schmerzen mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände. In den Fällen, in denen nach dem Sitz und dem Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende, eine spezielle ärztliche Behandlung erfordernde Schmerzhaftigkeit anzunehmen ist, können höhere Werte angesetzt werden (AHP RdNr 18 Abs 8 ). Der Kläger hat sich bislang einer besonderen Schmerzbehandlung wegen seines Wirbelsäulenleidens nicht unterzogen. Die gegenwärtige Therapie besteht lediglich in Krankengymnastik. Eine Erhöhung des Einzel-GdB von 30 für die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet kommt daher nicht in Betracht.
Die seit vielen Jahren bestehenden weiteren Behinderungen des Klägers außerhalb des orthopädischen Fachgebiets werden sowohl vom Beklagten als auch von allen anderen gehörten Sachverständigen der ersten und zweiten Instanz mit einem GdB von 20 bewertet. Aus den Einzel-GdB-Werten von 30 und 20 lässt sich ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht ableiten (zur Bildung des Gesamt-GdB vgl AHP RdNr 19).
Einer Richtervorlage des Rechtsstreits an das BVerfG gemäß Art 100 Grundgesetz (GG) bedarf es nicht. Die Festsetzung des GdB unter Berücksichtigung der AHP verstößt nach Auffassung des Sentas nicht gegen das GG. Das BVerfG hat zur Anwendung der AHP in seinem Nichtannahmebeschluss vom 06.03.1995 - 1 BvR 60/95 (SozR 3-3870 § 3 Nr 6) darauf hingewiesen, dass es bei der Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Festsetzung eines höheren GdB hat, um die Auslegung des § 48 SGB X iVm § 3 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) - jetzt § 69 Abs 1 SGB IX -, mithin um die Auslegung einfachen Rechts geht. Diese Vorschriften enthielten allein keine Kriterien, aufgrund derer sämtliche denkbaren Behinderungen mit einem GdB zwischen 20 und 100 geschätzt werden könnten. Gleichwohl verlange das Schwerbehindertenrecht von der Verwaltung und mittelbar auch von den Gerichten, dass sämtliche denkbaren und tatsächlich auftretenden Funktionsbeeinträchtigungen, die auf einen regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand zurückzuführen sind, in ihren Auswirkungen für den Einzelnen in Beruf und Gesellschaft bewertet werden müssten. Weder die Verwaltung noch die Gerichte könnten sich diesem Normbefehl entziehen, wenngleich diese Vorschriften selbst keine Kriterien dafür vorsehen, wie die einzelnen Behinderungen zu bewerten sind. Ein absoluter, sich gleichsam aus der Natur der Sache ergebender Maßstab für eine derartige Schätzung der richterlichen Kontrolle existiere nicht. In dieser Situation sei es den Gerichten nicht verwehrt, zur Konkretisierung eigene Beurteilungskriterien zu entwickeln oder auf Erfahrungswerte der Versorgungsverwaltung und den Stand der medizinischen Wissenschaft zurückzugreifen. Dabei könnten sich die Gerichte auch an den AHP des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung orientieren. Zwar stelle es einen Misstand dar, dass eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die AHP fehlte. Das BVerfG hält aber die Anwendung der AHP verfassungsrechtlich für unbedenklich, s o l a n g e sich das Bundessozialgericht (BSG) - wie bisher - nicht strikt an die AHP gebunden sieht, und es sie dort einer richterlichen Kontrolle unterzieht, wo dies im Hinblick auf Art 3 Abs 1 Grundgesetz einerseits und auf das Normprogramm des Schwerbehindertenrechts andererseits erforderlich ist (vgl aaO). Das BVerfG hat in seiner Entscheidung - entgegen der Behauptung des Klägers - nicht festgestellt, dass die AHP künftig nur noch Beachtung finden könnten, wenn sie in ein "Gesetz" überführt würden.
Auch der erkennende Senat sieht sich - wie bisher - nicht strikt an die AHP gebunden und unterzieht sie im Einzelfall einer richterlichen Kontrolle. Ungeachtet der Rechtsqualität der AHP - das BSG misst ihnen in ständiger Rechtssprechung normähnliche Qualität zu - sind die Gerichte allerdings prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle der AHP beschränkt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 6). So ist ua zu prüfen, ob die AHP dem Gesetz widersprechen, ob sie dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen und ob ein Sonderfall vorliegt, der aufgrund der individuellen Verhälntisse einer gesonderten Beurteilung bedarf (BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5; BVerfG aaO). Eine solchermaßen eingeschränkte Kontrolldichte ist in der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereichs und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet worden (BSG SozR 3-38700 § 4 Nr 6 mwN). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die AHP geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde. Es gelten die Prüfungsmaßstäbe wie bei der Prüfung untergesetzlicher Normen, weil die AHP wie Normen wirken. Ohne solche verbindlichen Maßstäbe ließe sich keine gesetzmäßige, dh auch gleichmäßige Behandlung der Betroffenen erreichen (aaO). Vorliegend sieht der Senat keine Gründe, die ein Abweichen vom Beurteilungsgefüge der AHP rechtfertigen, insbesondere weist das Krankheitsbild des Klägers nicht individuelle Verhältnisse auf, die in den AHP keine Berücksichtigungen gefunden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Behinderungen des Klägers mit einem höheren Grad der Behinderung (GdB) als 40 zu bewerten sind.
Bei dem am 1942 geborenen Kläger waren zuletzt mit Änderungsbescheid vom 06.04.1995 als Behinderungen mit einem GdB von 40 festgestellt: 1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskel reizerscheinungen bei Verschleiß und Zustand nach Fraktur des Lendenwirbelkörpers 1. Beginnender Verschleiß des linken Kniegelenkes (Einzel-GdB 30). 2. Chronischer Harnwegsinfekt, chronische Entzündung der Vor steherdrüse, rezidivierender Herpes genitalis (Einzel-GdB 20).
Am 23.07.1997 begehrte der Kläger eine Neufeststellung seiner Behinderungen wegen einer Zunahme seiner Wirbelsäulenbeschwerden, einer Verschlechterung seines Gehörs, des Herpes genitalis sowie des chronischen Harnweginfekts. Der Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers und eine Stellungnahme der HNO-Ärztin Dr.S. vom 22.09.1997 ein und lehnte eine Neufeststellung mit Bescheid vom 23.09.1997 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10.12.1997).
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat der Kläger beantragt, den Bescheid vom 23.09.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 10.12.1997 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den GdB ab 23.07.1997 mit einem höheren GdB als 40, mindestens mit 50 zu bewerten. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen über den Kläger hat das SG von Dr.G. ein Gutachten vom 09.09.1998/14.03.2000 eingeholt, der die Behinderungen des Klägers wie der Beklagte mit einem Gesamt-GdB von 40 eingestuft hat. Demgegenüber hat der nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörte Orthopäde Dr.R.W. die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet wegen deformierender Umbauvorgänge in drei Wirbelsäulenabschnitten mit 40 und den Gesamt-GdB mit 50 bewertet. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.05.2000 abgewiesen und sich auf das Gutachten des Dr.G. gestützt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und die Bewertung seiner Behinderungen auf orthopädischem Gebiet für unzureichend gehalten. Der Senat hat von dem Orthopäden Dr.A.D. ein Gutachten vom 29.06.2001 eingeholt. Dieser hat - wie Dr.G. - die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet und den Gesamt-GdB mit 40 eingeschätzt. Der gemäß § 109 SGG gehörte Orthopäde Dr.Th.-A.S. hat mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten mit einem GdB von 30 bewertet und unter Berücksichtigung eines zusätzlichen außergewöhnlichen Schmerzsyndroms für die Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 40 angenommen. Den Gesamt-GdB hat er auf 50 geschätzt (Gutachten vom 27.11.2001/14.02.2002). Der Beklagte hat sich mit einer Stellungnahme des Chirurgen Dr.K.P. vom 10.01.2002 gegen das Gutachten des Dr.Th.-A.S. gewandt. Mit Schriftsatz vom 26.02.2002 hat der Kläger die Auffassung vertreten, die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 könnten nicht zur GdB-Festsetzung herangezogen werden, da sie keine Rechtsgrundlage für die Einstufung des GdB darstellten. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 06.03.1995 (Az: 1 BvR 60/95) festgestellt, die AHP könnten in Zukunft nur Beachtung finden, wenn sie in ein "Gesetz" überführt würden. Da der Gesetzgeber bis heute untätig geblieben sei, sei davon auszugehen, dass insbesondere unter Beachtung des neu geschaffenen Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) nunmehr von der Verfassungswidrigkeit der AHP ausgegangen werden müsse. Er regte eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) an.
Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 29.05.2000 und den Bescheid vom 23.09.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 10.12.1997 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 29.05.2000 zurückzuweisen.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 SGB IX Abs 1 Sätze 1, 3 und 5).
Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung des GdB vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den gesundheitlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung des GdB und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung.
In den Verhältnissen, die für die Feststellung der Behinderungen mit einem GdB von 40 im Bescheid vom 06.04.1995 maßgeblich waren, ist eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Gutachten des Dr.A.D. vom 29.06.2001. Danach bestehen beim Kläger ein chronisches Zerviko-Brachial-Syndrom bei Spondylochondrose der Halswirbelsäule, eine statisch funktionelle Beeinträchtigung der Wirbelsäule des Rumpfes durch eine posttraumatische Kyphoskoliose nach altem Wirbelbruch D 12 mit lokaler knöcherner Verblockung in Fehlstellung, eine Bandscheibendegeneration mit Vorwölbungen im Lendenbereich, dadurch bedingtes Lumbalsyndrom mit einer alten Wurzelschädigung L 5/S 1 sowie eine Iliosacralarthrose. Diese Behinderungen sind insgesamt mit einem GdB von 30 zu bewerten. Die festgestellte Arthrose an den Hüftgelenken, am linken Knie- und rechten Sprunggelenk sind einzeln und auch als Gesamtbefund mit einem GdB von weniger als 10 zu bemessen, da sie funktionell keine wesentliche Bewegungseinbuße bedingen. Nach dem von Dr.A.D. erhobenen Befund der Wirbelsäule des Rumpfes sind die dadurch bedingten mittelgradigen Funktionseinschränkungen mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten (AHP Nr 26, 18 S 140). Ein höherer GdB ist hierfür nicht anzunehmen, da dieser Wirbelsäulenabschnitt beim Kläger noch relativ gut beweglich ist, worauf auch die Sachverständigen der ersten Instanz Dr.G. und Dr.R.W. hingewiesen haben. Schwere funktionelle Auswirkungen, wie sie die Zuerkennung eines GdB von 30 nach den AHP aaO voraussetzen, liegen nicht vor. Die Funktionseinschränkung der HWS erreicht kein mittelgradiges Ausmaß. Vielmehr bestand bei der Begutachtung durch Dr.A.D. ein klinisch befriedigender Befund, dh es waren keine starke Bewegungseinschränkungen und vor allem klinisch kein Anzeichen für eine Wurzelirritation iS eines Zervikalsyndroms erkennbar. Die Muskulatur war nicht nur bei dieser Untersuchung ohne Verspannungen, sondern auch bei den genannten Voruntersuchungen. Es kann vorliegend daher nicht von mittelgradigen (bis schweren) Beschwerden mit funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ausgegangen werden, was nach dem AHP aaO die Zuerkennung eines (Einzel-)GdB von 40 zur Folge hätte.
Dem Gutachten des Dr.Th.-A.S. folgt der Senat nur insoweit als er die Wirbelsäulenschäden mit einem GdB von 30 bewertet. Der Senat vermag sich aber der Auffassung des Dr.Th.-A.S. , eine Höherbewertung der Wirbelsäulenbeschwerden sei wegen einer somatoformen Schmerzstörung des Klägers angezeigt, nicht anzuschließen. Nach den vom Senat zu beachtenden AHP aaO können nur bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen GdB-Werte über 30 in Betracht kommen. Ein Schmerzsyndrom dieses Ausmaßes ist beim Kläger aber nicht verifizierbar. Die in der GdB-Tabelle angegebenen Werte schließen die üblicherweise vorhandenen Schmerzen mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände. In den Fällen, in denen nach dem Sitz und dem Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende, eine spezielle ärztliche Behandlung erfordernde Schmerzhaftigkeit anzunehmen ist, können höhere Werte angesetzt werden (AHP RdNr 18 Abs 8 ). Der Kläger hat sich bislang einer besonderen Schmerzbehandlung wegen seines Wirbelsäulenleidens nicht unterzogen. Die gegenwärtige Therapie besteht lediglich in Krankengymnastik. Eine Erhöhung des Einzel-GdB von 30 für die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet kommt daher nicht in Betracht.
Die seit vielen Jahren bestehenden weiteren Behinderungen des Klägers außerhalb des orthopädischen Fachgebiets werden sowohl vom Beklagten als auch von allen anderen gehörten Sachverständigen der ersten und zweiten Instanz mit einem GdB von 20 bewertet. Aus den Einzel-GdB-Werten von 30 und 20 lässt sich ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht ableiten (zur Bildung des Gesamt-GdB vgl AHP RdNr 19).
Einer Richtervorlage des Rechtsstreits an das BVerfG gemäß Art 100 Grundgesetz (GG) bedarf es nicht. Die Festsetzung des GdB unter Berücksichtigung der AHP verstößt nach Auffassung des Sentas nicht gegen das GG. Das BVerfG hat zur Anwendung der AHP in seinem Nichtannahmebeschluss vom 06.03.1995 - 1 BvR 60/95 (SozR 3-3870 § 3 Nr 6) darauf hingewiesen, dass es bei der Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Festsetzung eines höheren GdB hat, um die Auslegung des § 48 SGB X iVm § 3 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) - jetzt § 69 Abs 1 SGB IX -, mithin um die Auslegung einfachen Rechts geht. Diese Vorschriften enthielten allein keine Kriterien, aufgrund derer sämtliche denkbaren Behinderungen mit einem GdB zwischen 20 und 100 geschätzt werden könnten. Gleichwohl verlange das Schwerbehindertenrecht von der Verwaltung und mittelbar auch von den Gerichten, dass sämtliche denkbaren und tatsächlich auftretenden Funktionsbeeinträchtigungen, die auf einen regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand zurückzuführen sind, in ihren Auswirkungen für den Einzelnen in Beruf und Gesellschaft bewertet werden müssten. Weder die Verwaltung noch die Gerichte könnten sich diesem Normbefehl entziehen, wenngleich diese Vorschriften selbst keine Kriterien dafür vorsehen, wie die einzelnen Behinderungen zu bewerten sind. Ein absoluter, sich gleichsam aus der Natur der Sache ergebender Maßstab für eine derartige Schätzung der richterlichen Kontrolle existiere nicht. In dieser Situation sei es den Gerichten nicht verwehrt, zur Konkretisierung eigene Beurteilungskriterien zu entwickeln oder auf Erfahrungswerte der Versorgungsverwaltung und den Stand der medizinischen Wissenschaft zurückzugreifen. Dabei könnten sich die Gerichte auch an den AHP des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung orientieren. Zwar stelle es einen Misstand dar, dass eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die AHP fehlte. Das BVerfG hält aber die Anwendung der AHP verfassungsrechtlich für unbedenklich, s o l a n g e sich das Bundessozialgericht (BSG) - wie bisher - nicht strikt an die AHP gebunden sieht, und es sie dort einer richterlichen Kontrolle unterzieht, wo dies im Hinblick auf Art 3 Abs 1 Grundgesetz einerseits und auf das Normprogramm des Schwerbehindertenrechts andererseits erforderlich ist (vgl aaO). Das BVerfG hat in seiner Entscheidung - entgegen der Behauptung des Klägers - nicht festgestellt, dass die AHP künftig nur noch Beachtung finden könnten, wenn sie in ein "Gesetz" überführt würden.
Auch der erkennende Senat sieht sich - wie bisher - nicht strikt an die AHP gebunden und unterzieht sie im Einzelfall einer richterlichen Kontrolle. Ungeachtet der Rechtsqualität der AHP - das BSG misst ihnen in ständiger Rechtssprechung normähnliche Qualität zu - sind die Gerichte allerdings prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle der AHP beschränkt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 6). So ist ua zu prüfen, ob die AHP dem Gesetz widersprechen, ob sie dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen und ob ein Sonderfall vorliegt, der aufgrund der individuellen Verhälntisse einer gesonderten Beurteilung bedarf (BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5; BVerfG aaO). Eine solchermaßen eingeschränkte Kontrolldichte ist in der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereichs und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet worden (BSG SozR 3-38700 § 4 Nr 6 mwN). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die AHP geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde. Es gelten die Prüfungsmaßstäbe wie bei der Prüfung untergesetzlicher Normen, weil die AHP wie Normen wirken. Ohne solche verbindlichen Maßstäbe ließe sich keine gesetzmäßige, dh auch gleichmäßige Behandlung der Betroffenen erreichen (aaO). Vorliegend sieht der Senat keine Gründe, die ein Abweichen vom Beurteilungsgefüge der AHP rechtfertigen, insbesondere weist das Krankheitsbild des Klägers nicht individuelle Verhältnisse auf, die in den AHP keine Berücksichtigungen gefunden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
Saved