L 18 SB 42/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 SB 575/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 42/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Vermutung der Besserung des Leidenszustandes setzt voraus, dass die Behörde beim Erlass des Vergleichsbescheides die Anhaltspunkte beachtet und die durch die Behinderungen bedingten Funktionsbeeinträchtigungen ausreichend gewürdigt hat. 2. Werden in einem Überprüfungsverfahren die nachteiligen Auswirkungen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes wesentlich geringer bewertet als in einem einige Zeit vorher erlassenen Verwaltungsakt, besteht die Vermutung, dass sie geringer geworden sind und nicht ursprünglich unrichtig bewertet worden sind (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 25 und BSG Sozr 3-3870 § 4 Nr-19).
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 06.12.1999 und der Änderungsbescheid vom 25.06.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 06.08.1997 aufgehoben.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Behinderungen des Klägers weiterhin mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 zu bewerten sind.

Bei dem am 1980 geborenen Kläger waren erstmals mit Bescheid vom 13.10.1995 als Behinderungen mit einem GdB von 40 festgestellt: 1. Schwerhörigkeit beidseits (Einzel-GdB 30) 2. Nierenschaden, Harnwegsentzündung (Einzel-GdB 20). Die Schwerhörigkeit des Klägers ist auf eine 1983 im Kleinkindalter erlittene Scharlachnephritis zurückzuführen.

Am 12.06.1996 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB und die Eintragung der Merkzeichen B und RF. Der Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei und holte eine Stellungnahme seines HNO-Arztes Dr.N. vom 16.12.1996 ein. Dieser hielt den GdB für die Schwerhörigkeit beidseits mit 30 nach den vorliegenden Befunden noch für angemessen bewertet, nahm jedoch zusammen mit Gleichgewichtsstörungen für die Behinderung Nr 1 einen Teil-GdB von 40 an. Daraufhin stellte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 27.01.1997 für die schon bisher genannten Behinderungen einen Gesamt-GdB von 50 fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen verneinte er.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und begehrte die Zuerkennung der Merkzeichen B und G. Der Beklagte ließ den Kläger nunmehr allgemeinärztlich (Gutachten Dr.A. vom 30.05.1997) und HNO-ärztlich (Gutachten Dr.N. vom 07.05.1997) untersuchen. Dr.N. stellte fest, dass gegenüber dem Tonaudiogramm vom 19.01.1995 und gegenüber dem Ton- und Sprachaudiogramm vom 14.11.1996 eine Befundbesserung eingetreten sei, so dass jetzt der GdB für die Schwerhörigkeit beidseits nicht mehr mit 30, sondern nur noch mit 20 zu veranschlagen sei. Die Voraussetzungen für Merkzeichen ergäben sich nicht. Dr.A. bewertete Schwindelerscheinungen und eine kontrollpflichtige Hämaturie und Proteinurie mit Einzel-GdB-Werten von jeweils 10. Den Gesamt-GdB schätzte sie mit 20 ein. Zur Begründung merkte sie an, gegenüber den Vorbefunden sei bzgl der Schwerhörigkeit eine deutliche Besserung eingetreten. Die Voraussetzungen zur Anerkennung von Merkzeichen lägen nicht vor. Die kontrollpflichtige Hämaturie und Proteinurie sei nach den Anhaltspunkten mit einem GdB von 10 regelrecht eingestuft. Für Harnwegsentzündungen ergebe sich anhand der urologischen Befundberichte der Jahre 1996 und 1997 kein Anhalt.

Nach Anhörung des Klägers erließ der Beklagte einen Teilabhilfe- und Änderungsbescheid vom 25.06.1997. Er stellte einen GdB von 20 fest und führte als Behinderungen an: 1. Schwerhörigkeit beidseits (Einzel-GdB 20) 2. Schwindelerscheinungen (Einzel-GdB 10) 3. kontrollpflichtige Hämaturie und Proteinurie nach Scharlach (Einzel-GdB 10). Zur Begründung führte er aus, dem Widerspruch werde insoweit stattgegeben, als eine weitere Behinderung iS des Schwerbehindertengesetzes festgestellt werde. Der Bescheid vom 27.01.1997 sei daher iW der Teilabhilfe abzuändern. Die Verhältnisse, die den Bescheid vom 27.01.1997 zugrunde gelegen hätten, hätten sich durch Besserung der Behinderung "Schwerhörigkeit beidseits" wesentlich geändert. Außerdem sei die Harnwegsentzündung ausgeheilt.

Den Widerspruch wies der Beklagte im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 06.08.1997 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger beantragt, den Bescheid vom 27.01.1997 sowie den Teilabhilfebescheid vom 25.06.1997, sämtliche idG des Widerspruchsbescheides vom 06.08.1997, abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, für die vorliegenden Behinderungen auch weiterhin einen GdB von wenigstens 50 anzuerkennen. Das SG hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte beigezogen und die Internistin Dr.B. mit Gutachten vom 26.07.1999 gehört. Diese hat die Auffassung vertreten, dass die Behinderungen des Klägers im Teilabhilfebescheid vom 25.06.1997 richtig erfasst und korrekt bewertet worden seien. Der Bescheid vom 27.01.1997 gehe von einer ernsten Nierenerkrankung aus, die beim Kläger jedoch nicht bestehe. Trotz der Blutbeimengung und Eiweißausscheidung im Urin sei die Nierenfunktion völlig ungestört. Der des Weiteren gehörte Internist Dr.S. (Gutachten vom 06.12.1999) hat angegeben, dass seit der Begutachtung durch Dr.B. keine Änderung der Gesundheitsstörungen des Klägers eingetreten sei. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 06.12.1999 abgewiesen. Es hat sich auf die Gutachten der Dr.B. und des Dr.S. gestützt und gemeint, das Befinden des Klägers habe sich seit der Erstfeststellung der Behinderungen wesentlich gebessert.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Der Beklagte ist weiterhin seitens des HNO-Gebietes von einer wesentlichen Besserung der für den Bescheid vom 25.06.1997 maßgebenden Befunde gegenüber den Befunden des Bescheides vom 27.01.1997 ausgegangen und hat sich auf die Stellungnahmen des Dr.N. vom 10.08.2000, 28.09.2000 und 14.12.2000 gestützt. Die Versorgungsärztin Dr.N. ist davon ausgegangen, dass sich die Nierenerkrankung und die Schwindelerscheinungen des Klägers wesentlich gebessert hätten (Stellungnahmen vom 01.08.2000, 11.10.2000 und 03.01.2001).

Der Kläger hat mit Schreiben vom 06.09.2000 vorgetragen, dass sofern - wie von Dr.N. vermutet - eine organisch bedingte Schallleitungskomponente bei ihm tatsächlich nicht vorgelegen habe, schon mit Bescheid vom 13.10.1995 und mit Bescheid vom 27.01.1997 die beidseitige Schwerhörigkeit nur mit einem Teil-GdB von 20 hätte bewertet werden müssen. Eine Besserung der beidseitigen Schwerhörigkeit sei daher nicht schlüssig zu begründen. Über eine Harnwegsentzündung sei zudem schon 1996 nicht mehr berichtet worden.

Der Senat hat von Prof. Dr.H. ein HNO-ärztliches Gutachten vom 26.10.2001/14.03.2002 eingeholt. Dieser hat die Hörstörung seit 1989 für unverändert gehalten und allein hierfür einen GdB von 50 angesetzt. Gleichgewichtsfunktionsstörungen hätten seit langem nicht bestanden. Den Gesamt-GdB hat er ebenfalls mit 50 bewertet.

Mit Vergleichsangebot vom 08.01.2002 hat sich der Beklagte unter Berufung auf versorgungsärztliche Stellungnahmen des Dr.N. vom 10.01.2002 und 16.04.2002 bereit erklärt, ab 22.08.2001 (Untersuchung durch den gerichtsärztlichen Sachverständigen) einen GdB von 30 festzustellen. Dr.N. ist in seiner Stellungnahme vom 10.01.2002 von dem von Prof.Dr.H. erstellten Sprachaudiogramm ausgegangen, das mit einem GdB von 30 "zu veranschlagen wäre". Nach Auffassung des Beklagten sollte dieser GdB die Auswirkungen folgender Gesundheitsstörungen berücksichtigen: 1. Schwerhörigkeit beidseits 2. Hämaturie und Proteinurie nach Scharlach.

Der Kläger hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 06.12.1999 und den Änderungsbescheid vom 25.06.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 06.08.1997 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 06.12.1999 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Kläger ist weiterhin schwerbehindert. Der Herabbemessungsbescheid vom 25.06.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 06.08.1997 war aufzuheben.

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG haben die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) für eine Neufeststellung mit Bescheid vom 25.06.1997 nicht vorgelegen. Soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mW für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X). Die Verhältnisse, die dem Vergleichsbescheid vom 27.01.1997 zugrunde gelegen haben, haben sich nicht wesentlich iS einer Besserung geändert. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Hörstörung als auch der Nierenschädigung und der Gleichgewichtsstörungen des Klägers. Für die Annahme einer wesentlichen Besserung spricht auch nicht eine tatsächliche Vermutung.

Der Änderungsbescheid vom 27.01.1997 ist hinsichtlich des festgestellten GdB von 50 in (relativer) Bindungswirkung erwachsen. Die Verwaltung ist im Allgemeinen an die Tatsache gebunden, dass sie selbst erklärt hat, sie habe etwas zu gewähren (von Wulffen/Roos SGB X vor § 39 RdNr 3 mwN). Zwar hat der Beklagte mit § 48 SGB X eine jederzeitige Prüfungskompetenz. Diese führt jedoch vorliegend nicht zu einer Herabbemessung des GdB von 50, da eine wesentliche Änderung der medizinischen Verhältnisse im Vergleich zum Änderungsbescheid vom 27.01.1997 nicht nachgewiesen ist.

Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem von ihm eingeholten Gutachten des Prof. Dr.H. , der eine Änderung des Umfangs der Hörstörung seit 1989 ausschließt. Die Einwände des Dr.N. , es sei - entsprechend den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit ... nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) Nr 26 Abs 5 S 71 - zur Beurteilung des Hörvermögens lediglich das Sprachaudiogramm heranzuziehen, überzeugen den Senat im vorliegenden Fall nicht. Er hält es vielmehr für sachlich geboten, dass sich Prof. Dr.H. auch audiologisch mit dem Hörvermögen des Klägers auseinandergesetzt hat, da die Hörstörung im Kleinkindesalter vor Erwerb der Sprache nach einer Scharlachinfektion aufgetreten ist.

Es ist für den Senat darüber hinaus nicht nachvollziehbar, worin eine wesentliche Änderung bestehen soll, wenn der Beklagte in seinem Vergleichsangebot aufgrund unterschiedlicher Bewertungsmethoden - anders als Prof.Dr.H. - nur einen Teil-GdB von 30 statt 50 annimmt. Denn zum einen beruhte der Vergleichsbescheid vom 27.01.1997 auf der Annahme einer Hörschädigung mit einem GdB von 30 und es wurde lediglich ein Teil-GdB von 40 für die Behinderung Nr 1 wegen der zusätzlichen Gleichgewichtsstörungen angenommen. Zum anderen beruhte der Gesamt-GdB von 50 auf der Annahme des Fortbestehens eines Nierenschadens. Zumindest der Nierenschaden hatte nachweislich schon zum Zeitpunkt des Erlasses des Vergleichsbescheides nicht (mehr) vorgelegen. Denn im versorgungsärztlichen Gutachten der Dr.A. vom 30.05.1997 wurde ausgeführt, dass sich für eine Harnwegsentzündung anhand der Befundberichte der letzten Jahre kein Anhalt ergibt. Die Schwindelerscheinungen wurden vom Beklagten im Bescheid vom 25.06.1997 lediglich mit einem Teil-GdB von 10 bewertet. Vorausgesetzt diese Schwindelerscheinungen hätten tatsächlich auch vor der Untersuchung vom 06.05.1997 über Jahre hinweg mit diesem Schweregrad bestanden, ergäbe sich bei Beachtung der AHP RdNr 19 Abs 4 entgegen der Annahme des Dr.N. kein Einzel-GdB von 40 für die Hörstörung, da dies einer unzulässigen Addition der Einzel-GdB-Werte gleichkäme. Eine Vermutung einer Besserung des Leidenszustandes (vgl BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 25) - worauf sich der Beklagte beruft - kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach dieser Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, dass die (Versorgungs-)Gutachter so vorgegangen sind, wie es das Gesetz verlangt und sie nur die Funktionsbeeinträchtigungen geprüft und beurteilt haben. Bis zum Beweis des Gegenteils sei daher davon auszugehen, dass diese Beurteilung zutreffend sei (aaO). Eine Fehlerhaftigkeit der Bewertung sei kaum nachweisbar, wenn das Gesetz beachtet und die danach maßgebenden Tatsachen, insbesondere die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen gewürdigt worden seien (aaO).

An diesen Voraussetzungen fehlt es vorliegend. Zum einen hat der HNO-Arzt Dr.N. - wie ausgeführt - die AHP bei der Bewertung nicht beachtet, zum anderen hat der Beklagte die maßgebenden Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers nicht - wie das BSG für die Annahme einer Vermutung aber voraussetzt - ausreichend gewürdigt. Die Festsetzung des GdB im Vergleichsbescheid vom 27.01.1997 erfolgte - wie schon im Erstbescheid vom 13.10.1995 - lediglich nach Aktenlage aufgrund medizinischer Feststellungen des Dr.N. , die mangels jeglicher Begründung vom Senat auf ihre Schlüssigkeit nicht nachgeprüft werden können.

Der Beklagte hat aufgrund der Begutachtungen im Widerspruchsverfahren die Unrichtigkeit des Vergleichsbescheides vom 27.01.1997 offensichtlich erkannt und versucht nunmehr in rechtlich unzulässiger Weise diesen u r s p r ü n g l i c h unrichtigen Vergleichsbescheid im Wege des § 48 SGB X zu korrigieren. Der Kläger hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass die Fristen für eine rechtlich zulässige Korrektur des Vergleichsbescheids gemäß § 45 SGB X (jetzt) abgelaufen sind.

Nach alledem war der Änderungsbescheid vom 25.06.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 06.08.1997 aufzuheben mit der Folge, dass der Kläger weiterhin schwerbehindert ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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