B 4 RA 28/02 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 4 RA 51/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 28/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 7. August 2000 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Ver- handlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt höhere Altersrente.

Die im Januar 1927 geborene Klägerin bezog in der DDR seit Januar 1987 Altersrente. Sie erhält von der Beklagten seit Januar 1992 Regelaltersrente nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Sie meint, deren Wert sei nach § 307a SGB VI zu niedrig festgestellt worden, weil ein unzutreffendes Monats-Durchschnittseinkommen zu Grunde gelegt worden sei. Eine höhere Festsetzung des Rentenwertes lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 28. November 1991; Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 1993). Auf Grund eines Überprüfungsantrages der Klägerin nahm die Beklagte im Bescheid vom 22. November 1995 die bisherige Höchstwertfestsetzung zurück und stellte einen höheren Rentenwert sowie einen Nachzahlungsanspruch für Bezugszeiten ab Januar 1992 fest. Hiergegen legte die Klägerin aus dem genannten Grunde Widerspruch ein. Während des Widerspruchsverfahrens setzte die Beklagte im Bescheid vom 7. August 1996 einen höheren Rentenwert und einen weiteren Nachzahlungsanspruch fest. Die Klägerin blieb bei ihrer Ansicht, der Durchschnittsverdienst sei falsch berechnet worden. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1997 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Leipzig hat die Klage durch Urteil vom 15. Januar 1999 abgewiesen.

Während des Berufungsverfahrens beantragte die Klägerin am 10. November 1999, die bisherige Rentenhöchstwertfestsetzung zu überprüfen. Die Beklagte entschied mit Bescheid vom 12. April 2000, die Klägerin habe nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) keinen Anspruch auf Rücknahme der bisherigen Rentenhöchstwertfestsetzung.

Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Verfügung vom 5. Juli 2000 darauf hingewiesen, der Senat beabsichtige, den Rechtsstreit nach § 153 Abs 4 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu entscheiden. Nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG seien die Beteiligten vorher zu hören. Es werde hiermit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen gegeben. Mit einem Schreiben des Büros der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 13. Juli 2000 wurde gebeten, "- bedingt durch Krankheit und Kur - die Frist zur Stellungnahme (Schriftsatz vom 5.7.00) bis Mitte August zu erstrecken." Dieses Schreiben war mit einem nicht lesbaren Namenszug "iA" unterzeichnet.

Das Sächsische LSG hat am 7. August 2000 in der Besetzung mit drei Berufsrichtern durch Beschluss entschieden und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Leipzig vom 15. Januar 1999 zurückgewiesen. Ferner wurde die Klage gegen den Bescheid vom 12. April 2000 abgewiesen. Die Berufung sei unbegründet, weil das SG richtig entschieden habe. Ferner bestehe kein Anspruch auf Rücknahme aus § 44 Abs 1 SGB X, sodass die Klage gegen den Bescheid vom 12. April 2000, der nach § 153 Abs 1 SGG iVm § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sei, abzuweisen gewesen sei.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin die Revision wegen eines Verfahrensfehlers zugelassen.

Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, das LSG habe nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Im Übrigen habe es seine Amtsermittlungspflicht verletzt, weil es nicht alle für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblichen Tatsachen ermittelt habe. Außerdem habe es auch das materielle Recht verletzt. Wegen des weiteren Vorbringens der Klägerin wird auf ihren Schriftsatz vom 27. Juni 2002 verwiesen.

Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 7. August 2000 (L 4 RA 51/99) wegen Verfahrensmängeln aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Beratung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen sowie der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag. Sie trägt vor, hinsichtlich des Überprüfungsbescheides habe das LSG erstinstanzlich entschieden, sodass die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 153 Abs 4 SGG nicht vorgelegen hätten. Auch wenn im Übrigen unklar sei, wer das Schreiben aus der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, in dem um Fristverlängerung nachgesucht worden sei, unterzeichnet habe, hätte das LSG gleichwohl nicht ohne weiteres darüber hinweggehen dürfen, sondern Rückfrage bei den Prozessbevollmächtigten nehmen müssen.

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Sächsischen LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss in der Sache entscheiden dürfen.

Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, falls die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 SGG) ist. Nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind die Beteiligten vorher zu hören.

Soweit das LSG erstinstanzlich die Klage gegen den einen Rücknahmeanspruch aus § 44 Abs 1 SGB X ablehnenden Überprüfungsbescheid vom 12. April 2000 abgewiesen hat, liegen schon die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG nicht vor. Eine Anwendung dieser Ausnahmevorschrift auf Entscheidungen über Klagen gegen Verwaltungsakte, die während des anhängigen Berufungsverfahrens den darin mit der Anfechtungsklage angefochtenen Verwaltungsakt abändern oder ersetzen, würde das Recht der Kläger auf jedenfalls eine Tatsacheninstanz mit mündlicher Verhandlung verletzen (dazu stellv BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BVerwGE 57, 272, 275; aA Wickinghoff, SGb 1995, 59), sofern darin eine neue Rechtsfolge gesetzt oder ein neuer individueller Sachverhalt zu Grunde gelegt wurde. In diesem Zusammenhang ist nicht erheblich, ob das LSG zu Recht angenommen hat, der Überprüfungsbescheid sei gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens (nicht: des Berufungsverfahrens) geworden. Denn es hat in seinem Beschluss ausdrücklich "die Klage gegen den Bescheid vom 12. April 2000" abgewiesen, also erstinstanzlich über eine Klage entschieden, nicht aber als Rechtsmittelgericht zweitinstanzlich über eine Berufung. Schon deshalb kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, dass das LSG es in seiner Verfügung vom 5. Juli 2000 auch unterlassen hat, die Beteiligten dazu zu hören, dass es ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss über die Klage entscheiden wolle.

Aber auch die Entscheidung über die Berufung der Klägerin ist verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen. Auch insoweit hätte das LSG nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden dürfen, weil es die Klägerin nicht ordnungsgemäß angehört hat. Es kann offen bleiben, ob die Anhörungsverfügung vom 5. Juli 2000 den Grundanforderungen an eine ordnungsgemäße Anhörung iS von § 153 Abs 4 Satz 2 SGG genügt (dazu BSG Urteil vom 11. März 1998 - B 9 SB 5/97 R). Das Berufungsgericht hat jedoch am 7. August 2000 über die Berufung entschieden, ohne zuvor den bei ihm am 14. Juli 2000 eingegangenen Antrag auf Verlängerung der Anhörungsfrist "bis Mitte August" vom 13. Juli 2000 zu beantworten. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Antrag notwendig durch die Prozessbevollmächtigten selbst unterzeichnet sein muss oder ob es ausreicht, wenn ein Mitarbeiter in ihrem Auftrag unterzeichnet. Hätte das LSG Zweifel an der Wirksamkeit oder Begründetheit des Antrags gehabt, hätte es die Prozessbevollmächtigten unverzüglich darauf hinweisen müssen, zumal es durch das Schreiben darauf hingewiesen worden war, dass die beiden Prozessbevollmächtigten möglicherweise durch Krankheit oder Kuraufenthalt an einer persönlichen Unterzeichnung gehindert waren. Die prozessuale Fürsorgepflicht des LSG gebot eine rasche Klärung solcher möglicher Zweifel, weil - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - § 153 Abs 4 SGG eng und in einer die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden ist. In jedem Falle musste das LSG vor Erlass des Beschlusses rechtzeitig reagieren. Ohne Bescheidung des Antrags durfte es außerdem vor Ablauf des in diesem genannten Verlängerungszeitraums nicht in der Sache entscheiden (stellv BSG Urteil vom 5. Juni 1997 - 7 RAr 58/96). Durch sein Verhalten hat es der Klägerin zugleich ihren gesetzlichen Richter entzogen (BSG Urteil vom 8. November 2001 - B 11 AL 37/01 R). Es geht im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren nicht an, nicht offensichtlich rechtsmissbräuchliche Anträge von Beteiligten zum Verfahrensgang vor einer vom Gericht beabsichtigten Entscheidung unbeschieden zu lassen (vgl Art 17 GG; siehe auch BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33; Behn, SozVers 1998, 172, 174).

Schon nach der prozessrechtlichen Garantie des Art 6 Abs 1 Satz 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der auf Streitigkeiten aus der Sozialversicherung des SGB anwendbar ist, hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre (iS der Konvention) zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Dies wird durch die rechtsstaatlichen Grundsätze eines fairen und effektiven Rechtsschutzes auch vor öffentlich-rechtlichen Verwaltungsgerichten (§ 1 SGG) und durch Art 19 Abs 4 GG gewährleistet.

Dem Kostenantrag der Klägerin konnte jedoch nicht stattgegeben werden, weil das Berufungsgericht auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden hat.
Rechtskraft
Aus
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