L 6 RJ 18/00

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 23 RJ 477/98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 6 RJ 18/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Januar 2000 und der Bescheid vom 31. Mai 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1998 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Oktober 1999 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit.

Die Klägerin, geboren 1949, stellte bei der Beklagten im Oktober 1995 einen Rentenantrag unter Hinweis auf verschiedene orthopädische Beschwerden. Zu ihrem beruflichen Werdegang gab sie an, sie habe keinen Beruf erlernt, habe von 1970 bis 1980 selbständig eine chemische Reinigung betrieben und sei von April 1980 bis November 1995 als Büglerin tätig gewesen. Die Beklagte holte von dem Chirurgen G. ein Gutachten ein. Er diagnostizierte ein Lendenwirbelsäulen-Syndrom mit Wirbelgleiten, ein Halswirbelsäulen- und ein Schulterarmsyndrom, Arthrosen im linken Mittelfuß sowie einen Zustand nach Fraktur des ersten Fingers links. Die Klägerin sei fähig, vollschichtig leichte körperliche Arbeiten zu verrichten im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen bzw. Gehen. Durch Bescheid vom 31. Mai 1996 wurde der Rentenantrag auf der Grundlage dieses Gutachtens abgelehnt. Der Widerspruch der Klägerin führte dazu, dass die Beklagte sie durch den Neurologen und Psychiater Dr. T. begutachten ließ, der auf seinem Fachgebiet keine Krankheit feststellen konnte. Danach wurde die Klägerin durch den Orthopäden Z. untersucht, der ein Lendenwirbelsäulen-Syndrom diagnostizierte und zu dem Ergebnis gelangte, die Klägerin sei vollschichtig für körperlich leichte Arbeiten einsetzbar. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 10. Februar 1998 zurück und führte aus, es sei nicht entscheidungserheblich, ob die Klägerin noch als Büglerin arbeiten könne, denn sie sei auf alle ungelernten Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren. Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte und medizinische Unterlagen des Versorgungsamts sowie des Arbeitsamts beigezogen. Zu dem Ergebnis der Begutachtung durch den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. R. (Vertragsarzt des Arbeitsamts) am 14. Februar 1995, die Klägerin könne nur noch leichte körperliche Arbeiten vier bis fünf Stunden täglich verrichten, hat die Beklagte die Stellungnahme ihrer Ärztlichen Abteilung vom 27. August 1998 überreicht: Das Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. R. sei in seiner Beurteilung des quantitativen Leistungsvermögens nicht eindeutig nachvollziehbar. Das Sozialgericht hat den Orthopäden Dr. Ro. beauftragt, der in seinem Gutachten vom 4. Januar 1999 auf seinem Fachgebiet im Wesentlichen die schon bekannten Leiden festgestellt und ausgeführt hat: Die Klägerin habe zwar "schwere Einschränkungen seitens der Wirbelsäule zu dulden”, jedoch sei eine vollschichtige Tätigkeit möglich "mit entsprechenden Pausen und Arbeitsplatzmaßnahmen”. Die üblichen Pausen reichten nicht aus, wegen der "Nervenausstrahlungsschmerzen in den Beinen” solle nach jeder Stunde eine Pause von 10 Minuten gewährt werden. Hierzu hat die Ärztliche Abteilung der Beklagten (Ärztin Dr. H.) am 19. Januar 1999 die Stellungnahme abgegeben, wenn die Möglichkeit zu gelegentlichem Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen bestehe, erschienen zusätzliche Pausen nicht erforderlich, ein Wechsel der Haltungsarten sei ausreichend, um Verspannungen der Muskulatur zu lockern. Das Sozialgericht hat von Dr. Ro. eine ergänzende Stellungnahme eingeholt, zu der sich Dr. H. geäußert hat. Daraufhin hat das Sozialgericht nochmals Dr. Ro. gehört, der bei seiner Auffassung verblieben ist. Das Sozialgericht hat danach Dr. E. beauftragt, ein orthopädisches Gutachten zu erstatten. Dieser Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 8. Oktober 1999 auf orthopädischem Gebiet die Diagnosen gestellt: rezidivierendes Halswirbelsäulen-Syndrom im Sinne von erheblichen Hinterkopf-Nacken-Schulter-Schmerzen, Arthralgien beider Schultergelenke, Rezidiv einer Sehnenansatzentzündung am linken Ellenbogen, Funktionseinschränkung des linken Daumens, Brustwirbelsäulensyndrom im Sinne von rezidivierenden belastungsabhängigen Dorsalgien auf dem Boden deutlicher muskulärer Verspannungen, Lendenwirbelsäulen-Syndrom im Sinne von rezidivierenden Lumboischialgien auf dem Boden deutlicher degenerativer Veränderungen bei Wirbelgleiten, rezidivierende Muskel- und Sehnenansatzentzündung an beiden Hüften sowie geringe Arthralgien beider Kniescheibengleitlager. Er hat ausgeführt, die Klägerin könne vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten verrichten, und zwar "nur in häufig wechselnder Körperhaltung”. Die betriebsüblichen Pausen seien ausreichend, sofern ein häufiger Haltungswechsel gewährleistet sei.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 26. Januar 2000 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen heißt es, ein Anspruch auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit bestehe nicht. Die Klägerin verfüge noch über ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten. Dies sei in erster Linie dem Gutachten von Dr. E. zu entnehmen. Ihren bisherigen Beruf als Büglerin könne die Klägerin nicht mehr ausüben, denn dabei handele es sich nicht um eine leichte körperliche Arbeit im Wechsel aller drei Haltungsarten, wie sie die Klägerin nur noch zu verrichten vermöge. Die Klägerin sei jedoch auf "alle anderen” ungelernten Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und die Meinung vertreten, ein vollschichtiges Leistungsvermögen sei bei ihr nicht mehr vorhanden. Sie überreicht unter anderem ein Attest der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 27. März 2000.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Januar 2000 und den Bescheid vom 31. Mai 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1998 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, seit Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise weitere medizinische Beweiserhebung durch Rückfrage beim medizinischen Sachverständigen Dr. E. hinsichtlich der näheren Umstände des erforderlichen Haltungswechsels sowie der Dauer der dadurch eintretenden Arbeitsunterbrechungen, hilfsweise die Erhebung weiterer medizinischer Beweise in Form der Einholung eines Sachverständigengutachtens auf neurologisch/psychiatrischer Grundlage.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist insbesondere auf das Urteil des Bundessozialgerichts in der Sache B 13 RJ 61/99 R hin.

Der Senat hat von Dr. E. eine gutachtliche Stellungnahme zu der Frage eingeholt, ob die von Dr. Ro. geforderten Pausen erforderlich seien und was in seinem - Dr. E. s - Gutachten unter einem "häufigen” Haltungswechsel zu verstehen sei. Dazu hat er mit Schreiben vom 8. April 2000 geantwortet, die zusätzlichen Pausen seien nicht vonnöten (da die Nervenwurzelreizerscheinungen weggefallen seien), es müsse aber ungefähr alle 15 Minuten ein Haltungswechsel möglich sein, wie dies z.B. die Tätigkeit eines Pförtners zulasse. Die Beklagte hält diesen Haltungswechsel nicht für "zwingend gefordert” (Stellungnahme der Ärztlichen Abteilung, Dr. W.) und meint, angesichts des vollschichtigen Leistungsvermögens sei die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht erforderlich. Zum Berufsbild des Pförtners hat der Senat die Aussage des Sachverständigen J. in den Rechtsstreit eingeführt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, und auf die Rentenakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zutreffend.

Der Klägerin steht seit dem 1. Oktober 1999 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 SGB VI zu (in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992). Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift erhält eine solche Rente die Versicherte, die erwerbsunfähig ist und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt die Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge entrichtet hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Ferner ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI eine Versicherte erwerbsunfähig, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Auch dieser Tatbestand ist im Falle der Klägerin erfüllt.

Auszugehen ist von dem Hauptberuf der Klägerin als Büglerin, wie er in der Arbeitgeberauskunft vom August 1995 beschrieben worden ist. Im Einzelnen folgt der Senat insoweit dem Urteil des Sozialgerichts. Das körperliche Leistungsvermögen der Klägerin ist durch orthopädische Beschwerden - insbesondere an der Wirbelsäule - stark beeinträchtigt, wie vor allem den Gutachten der beiden gerichtlichen Sachverständigen zu entnehmen ist. Als Büglerin kann die Klägerin nicht mehr arbeiten, denn diese Tätigkeit erfordert (vgl. Arbeitgeberauskunft) ständiges Stehen und häufiges Bücken. Die Klägerin kann dagegen vollschichtig nur noch körperlich leichte Arbeiten verrichten. Insoweit stimmt der Senat mit dem Urteil des Sozialgerichts und der Ansicht der Beklagten überein.

Damit ist die Klägerin als ungelernte Arbeiterin im Grundsatz auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Dies scheitert aber hier daran, dass die Klägerin nur unter arbeitsmarktunüblichen Bedingungen tätig sein kann, weil sie ungefähr alle 15 Minuten die Körperhaltung zwischen Gehen, Stehen und Sitzen wechseln muss. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat anhand des orthopädischen Gutachtens von Dr. E ... Es handelt sich hier nicht um einen Fall, in welchem der Sachverständige einen Haltungswechsel "jederzeit nach freiem Entschluss” fordert, wie wohl die Beklagte meint. Für die Notwendigkeit des Haltungswechsels darf - wie es das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 23. März 2000 B 13 RJ 61/99 R (mit weiteren Nachweisen) formuliert hat - nicht der freie Willensentschluss des Versicherten maßgeblich sein (sozusagen "seine Laune”), sondern allein entscheidend ist das Ausmaß, in welchem er gesundheitlichen Zwängen unterworfen ist. Diese gesundheitlichen Zwänge hat der Sachverständige in überzeugender Weise erläutert: Die bandscheibenbedingten Rückenschmerzen träten haltungs- und belastungsbedingt auf, sie verstärkten sich bei längerem Sitzen und Stehen oder Gehen, bei regelmäßigem Wechsel zwischen diesen Haltungsarten träten die wenigsten Beschwerden auf. Der Gutachter hat ursprünglich von "häufigem” Haltungswechsel gesprochen und hat sich dann - nachdem ihn der Senat dazu befragt hat - auf "ca. alle 15 Minuten” festgelegt. Soweit es das Bundessozialgericht in dem zitierten Urteil für notwendig erachtet, den Gutachter nach der Dauer der durch den Haltungswechsel eintretenden Arbeitsunterbrechung zu befragen, geht aus den Ausführungen des Dr. E. klar hervor, dass eine Arbeitsunterbrechung durch den Haltungswechsel bei der Klägerin nicht eintritt. Der Gutachter hat, da er vom Senat zur Beschreibung eines real vorstellbaren Arbeitsplatzes (mit 15-Minuten-Wechsel) aufgefordert worden ist, die Tätigkeit eines Pförtners als Beispiel geschildert, der nach freier Entscheidung die schmerzärmste Haltung wählen könne; zusätzliche Pausen seien nicht erforderlich, da sich der Haltungswechsel "zwanglos in den üblichen Arbeitsverlauf integrieren” lasse. Dass diese Möglichkeiten bei einem durchschnittlichen Pförtner tatsächlich nicht gegeben sind (vgl. Aussage des berufskundlichen Sachverständigen J.), brauchte der medizinische Sachverständige nicht zu wissen, denn das Berufsbeispiel ist für den Senat nur deshalb wertvoll, weil Dr. E. daran seine praktischen Vorstellungen von Haltungswechseln ausreichend illustrieren kann. Im Übrigen hat der Senat in seinem Schreiben vom 13. April 2000 die Beklagte darauf aufmerksam gemacht, dass ein Pförtner Kontrollgänge von wesentlich mehr als 15 Minuten durchführen muss; aus der Aussage des berufskundlichen Sachverständigen ist ersichtlich, dass dem 15-Minuten-Wechsel außerdem entgegensteht, dass bei Einlass- und Ausgehkontrollen der Pförtner überwiegend stehen muss, wobei zu beachten ist, dass "jeder Bewerber das gesamte Anforderungsprofil erfüllen muss, weil grundsätzlich die Pförtner austauschbar sind”.

Die von der Beklagten überreichte ärztliche Stellungnahme vom 19. Juni 2000 gibt dem Senat keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen. Zum einen äußert sich hier Dr. W. als Ärztin für "Innere Medizin und Sozialmedizin” zu einem orthopädischen Gutachten, ohne zu erläutern, welche Kompetenz sie für ein fremdes medizinisches Fachgebiet hat. Zum anderen bleibt im Unklaren, was ihre Bemerkung, "ein Haltungswechsel nach 15 Minuten wird nicht zwingend gefordert”, bedeuten soll. Wenn Dr. E. ausführt, ein Haltungswechsel "sollte” etwa alle 15 Minuten möglich sein, versteht der Senat dies im Gesamtzusammenhang der gutachtlichen Äußerung jedenfalls so, dass dieser Wechsel erfolgen muss. Der Senat vermag nicht der Meinung von Dr. W. zu folgen, die Beschreibung des Leistungsvermögens durch Dr. E. sei nicht nachvollziehbar. Insbesondere ist nicht einleuchtend, wenn sie die fehlende "Nachvollziehbarkeit” daran festmachen will, dass der Sachverständige sich "allein auf die subjektiven Schmerzangaben” der Klägerin bezieht. Die Stellungnahme des Dr. E. vom 8. April 2000 ist in Verbindung mit seinem Gutachten vom 8. Oktober 1999 zu würdigen, wo er zu den Schmerzen der Klägerin im Einzelnen u.a. Folgendes verzeichnet hat: Die Dornfortsätze an der Halswirbelsäule seien klopfempfindlich und an der Lendenwirbelsäule druckschmerzhaft; Klopfschmerz bestehe über den Kreuzdarmbeinfugen sowie Druckschmerz an den Nervenaustrittspunkten am Hinterhaupt und an den Scalenuslücken (S. 7). Die Rumpfbeugung und das Aufrichten seien stark schmerzhaft (S. 8). Bei maximaler Beugung der Hüftgelenke würden beidseitig starke Schmerzen im Kreuz angegeben, ebenso im Bereich der hinteren Darmbeinstachel und der Rollhügel beidseitig Druckschmerz (S. 11). Zum Halswirbelsäulen-Syndrom hat der Gutachter auf S. 16 zusammenfassend ausgeführt, dass die von ihm aufgeführten Veränderungen schmerzbedingt eine deutliche Einschränkung der qualitativen Leistungsfähigkeit bedingten. Zur Sehnenansatzentzündung am linken Ellenbogen heißt es auf S. 17 u.a., es bestehe ein typischer Druckschmerz, es bestünden die sich belastungsabhängig verstärkenden Schmerzen - trotz der zwei Operationen - weiter. Zum Lendenwirbelsäulen-Syndrom äußert Dr. E. auf S. 20 u.a., die angegebenen Rückenschmerzen seien zum Teil in der Rückenstreckmuskulatur lokalisiert, die wegen der Wirbelsäulenveränderungen ungünstige mechanische Bedingungen vorfänden, so dass diese Muskelgruppe überfordert werde. Die Verschleißerscheinungen der kleinen Wirbelgelenke führten ebenfalls zu Verspannungen der Muskulatur und könnten damit zu vermehrten Schmerzen führen. Der Gutachter nimmt die Schmerzangaben der Klägerin nicht kritiklos hin, sondern Dr. E. spricht auch von einer "Verdeutlichungstendenz der Klägerin bis hin zur Aggravation”, gleichwohl - und das macht sein Gutachten insgesamt überzeugend - stellt er fest (S. 21), die anamnestisch angegebenen erheblichen Schmerzen, das Einschlafgefühl und die zeitweilige Kraftlosigkeit im rechten Bein seien zumindest zum Teil durch die erhobenen Befunde "erklärt und objektiviert”. Der orthopädische Gutachter kann aufgrund seiner fachärztlichen Erfahrungen und des aus der Untersuchung sowie Befragung der Klägerin gewonnenen Bildes entscheiden, ob er die Schmerzangaben der Klägerin für glaubhaft hält. Der Senat hält das orthopädische Gutachten des Dr. E. insoweit und insgesamt für überzeugend und vermag die Ansicht der Internistin Dr. W., die sich keinen persönlichen Eindruck von der Klägerin verschafft hat, nicht zu teilen. Die von der Beklagten "hilfsweise” beantragte Rückfrage bei Dr. E. zu den "näheren Umständen des erforderlichen Haltungswechsels” sowie zur "Dauer der dadurch eintretenden Arbeitsunterbrechungen” ist überflüssig, da diese Punkte - wie bereits ausgeführt worden ist - geklärt sind. Ebenso ist es überflüssig, gemäß dem zweiten "Hilfsantrag” der Beklagten ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen, denn der Rechtsstreit ist entscheidungsreif, zumal die Beklagte im Schriftsatz vom 19. Juli 2000 vorgetragen hat, es sei von einer Verschlechterung des Zustandes auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet auszugehen.

Die Klägerin ist mit der genannten Einschränkung des 15-Minuten-Wechsels nicht breit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, so dass - um zu verhindern, dass soziale Wirklichkeit und soziales Leistungsrecht auseinanderfallen - hier ernste Zweifel aufkommen, ob die Klägerin mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch in einem Betrieb einsetzbar ist. In dieser Situation ist auch bei einer vollschichtig einsetzbaren Versicherten für den allgemeinen Arbeitsmarkt eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen. Dieser Benennungspflicht ist die Beklagte nicht nachgekommen, sie trägt insoweit die Darlegungs- und Beweislast (vgl. Bundessozialgericht in Sozialrecht 3-2600 § 43 Nr. 13 und 14). Die Beklagte ist nicht einmal ihrer Darlegungspflicht nachgekommen, indem sie keine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld bezeichnet hat, in welcher der 15-Minuten-Haltungswechsel realisierbar ist. Der Senat - als zur Neutralität verpflichtete Tatsacheninstanz (Bundessozialgericht a.a.O.) - braucht nicht von Amts wegen einen Verweisungsberuf zu ermitteln, wenn - wie hier - sich weder aus dem Vorbringen der Beteiligten noch aus den vorliegenden Akten oder der Gerichts- oder Allgemeinkunde konkrete Anhaltspunkte dafür aufdrängen, eine bestimmte Verweisungstätigkeit könnte sozial, fachlich und gesundheitlich der Versicherten zumutbar sein.

Ist also der allgemeine Arbeitsmarkt der Klägerin verschlossen, führt diese Tatsache dazu, dass die Klägerin nicht nur berufsunfähig, sondern auch erwerbsunfähig ist, vgl. Deutsche Rentenversicherung 1990, S. 257, 258 mit weiteren Nachweisen. Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit ist auf den 22. September 1999 festzusetzen. An diesem Tag ist die Klägerin durch Dr. E. untersucht worden, und er hat den Gesundheitszustand festgestellt, der für die Entscheidung des Senats maßgebend ist. Zwar hat der Sachverständige zu Frage 5 angegeben, die gesundheitlichen Einschränkungen bestünden "laut Aktenlage seit der Erstbegutachtung 4/97 wenig verändert”. Da diese Ausdrucksweise eine - wenn auch geringe - Veränderung einschließt, ist der Senat der Überzeugung, dass damit zweifelsfrei erst am 22. September 1999 der Zustand erreicht ist, der den 15-Minuten-Wechsel erforderlich macht. Folglich ist die Erwerbsunfähigkeitsrente gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI ab 1. Oktober 1999 zu gewähren.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG nach billigem Ermessen.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, denn ein Grund hierfür ist gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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