L 2 U 179/99

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 247/98
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 179/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 30.08.1999 mit dem Bescheid vom 06.01.1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.07.1998 geändert. Es wird festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 28.07.1997 um einen Arbeitsunfall handelt. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin 1/8 der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung eines Ereignisses vom 28.07.1997 als Arbeitsunfall.

Die im Jahre 1956 geborene Klägerin war bei der Deutschen Bahn AG auf dem Bahnhof R ... im Bahnservice beschäftigt. Nach eigenen Angaben transportierte sie am 28.07.1997 den schweren Koffer einer älteren Frau vom Bahnsteig am Gleis 1 durch die Unterführung zum Gleis 5. Laut Unfallvermerk vom gleichen Tage zog sie sich dabei eine Zerrung im Gesäß und im rechten Oberschenkelbereich zu. Am nächsten Morgen habe sie Schmerzen in der linken Schulter und ein Kribbeln und ein Taubheitsgefühl in der linken Hand verspürt. Sie habe dennoch weiter gearbeitet und erstmals am 05.08.1997 den Orthopäden Dr. D ... aufgesucht. Am 07.08.1997 stellte sich die Klägerin bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B ... vor, der zunächst ein akutes lumbales Schmerzsyndrom und später auch Beschwerden an der linken Schulter bei einem klinisch voll beweglichen linken Arm diagnostizierte und Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ab dem 08.08.1997 bescheinigte (Beklagten-Akte Bl. 17). Nachdem eine Elektrotherapie keine Besserung gebracht hatte, wurde die Klägerin am 11.08.1997 zum Neurologen Dr. W ... überwiesen, der eine Magnet-Resonanz-Tomographie-(MRT)-Untersuchung der Halswirbelsäule in der Röntgenpraxis Radebeul veranlasste. Der am 14.08.1997 erhobene Befund ergab einen Bandscheibenvorfall bei dem (Hals-)Wirbelsegment C6/C7 mit eingeengtem linken Neuroforamen (Öffnung für die Nervenbahn). Außerdem fand sich eine geringe Osteochondrose mit reaktiver Spondylose im Bereich der Halswirbel C4 bis C7. Der Bandscheibenvorfall wurde während einer stationären Behandlung im Zeitraum vom 15.08.1997 bis 15.09.1997 in der Klinik und Poliklinik für Orthopädie der Technischen Universität D ... operiert. Die histologische Untersuchung des entfernten Bandscheibengewebes am 05.09.1997 im Institut für Pathologie der Technischen Universität D ... ergab "Bandscheibengewebe mit hochgradigen degenerativen Veränderungen" (Beklagten-Akte Bl. 50). Obwohl bei späteren Nachuntersuchungen jeweils ein befriedigendes Operationsergebnis bestätigt wurde, war die Klägerin in der Folgezeit nicht beschwerdefrei.

Mit Bescheid vom 06.01.1998 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Nach ärztlicher Feststellung handle es sich bei dem diagnostizierten Bandscheibenvorfall um eine unfallunabhängige Erkrankung. Dem widersprach die Klägerin mit Schreiben vom 29.01.1998. Sie habe vor dem Ereignis vom 28.07.1997 noch nie Beschwerden mit den Bandscheiben gehabt. Aus diesem Grunde müsse der Vorgang als Arbeitsunfall anerkannt werden. Auf Nachfrage der Beklagten teilte der behandelnde Orthopäde Dr. C ... mit, die Klägerin sei bereits seit 1991 wegen gelegentlichen zervikobrachialen Beschwerden behandelt worden (Schr. vom 17.03.1998). Radiologische Veränderungen i. S. einer Steilstellung der Halswirbelsäule und einer ZWR-Verschmälerung C5/6 seien erstmals im November 1996 festgestellt worden. Die Befunde des MRT vom 15.08.1997 sprächen jedoch für ein akutes Bandscheibenvorfallgeschehen, da im Bereich der Wirbelkörper des dargestellten Bandscheibenvorfalls Randreaktionen in den angrenzenden Grund- und Deckplatten fehlten (Beklagten-Akte Bl. 55). Die beigezogenen Unterlagen des Gesundheitsamtes Meißen ergaben, dass die Klägerin seit Dezember 1980 mehrmals wegen Lumbago bzw. Lendenwirbelsäulenbeschwerden und akuter Lumboischialgie arbeitsunfähig gewesen und im Januar 1988 auch ein Zervikalsyndrom beschrieben worden war (Beklagten-Akte Bl. 78 Rs). Nach einer Röntgenaufnahme vom 18.01.1984 der HWS und der BWS fand sich außer einer Steilstellung der HWS kein weiterer Befund (Beklagten-Akte Bl. 85). Der beratende Arzt der Beklagten Dr. Scior schloss aus dem D-Arztbericht (Stellungnahme vom 20.04.1998), dass ein eigentliches Unfallereignis im versicherungsrechtlichen Sinn nicht vorgelegen habe.

Mit Bescheid vom 17.07.1998 wies daraufhin die Beklagte den Widerspruch zurück. Das willentliche Anheben eines schweren Gegenstandes sei kein Unfallereignis i. S. d. Unfallversicherung. Unabhängig davon sei davon auszugehen, dass die nachgewiesenen Vorschäden im Bereich der Wirbelsäule Ursache des Bandscheibenvorfalles seien.

Am 10.08.1998 hat die Klägerin das Sozialgericht Dresden (SG) angerufen: Auch wenn Vorschädigungen im Bereich der Halswirbelsäule bestanden haben sollten, sei das Ereignis vom 28.07.1997, bei dem es sich um einen Unfall i. S. d. gesetzlichen Unfallversicherung gehandelt habe, ursächlich für den später diagnostizierten Bandscheibenvorfall gewesen. Das SG hat Chefarzt Dr. P ... (Klinik für Unfallchirurgie D ...) zum Sachverständigen bestellt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 30.03.1999 erläutert, dass das Tragen selbst einer schweren Last nicht auch zu einer schweren Verletzung der HWS führte, und ist zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Bandscheibenvorfall handle es sich um einen akuten Folgezustand der als Vorschaden nachgewiesenen degenerativen Erkrankung der Bandscheibe. Es bestehe kein Ursachenzusammenhang zwischen dem Koffertragen und dem Bandscheibenvorfall, eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei nicht festzustellen.

Mit Gerichtsbescheid gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom 30.08.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, da es sich bei dem Ereignis vom 28.07.1997 nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt habe.

Nach § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) sei ein Arbeitsunfall ein Unfall, den eine Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2,3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleide. Unfälle seien zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führten. Hierbei sei es weder erforderlich, dass es sich um ein normwidriges d. h. dem ordnungsgemäßen Arbeitsablauf widersprechendes Ereignis noch um eine außerhalb des Betriebsüblichen liegende schädigende Tätigkeit handle (Hinweis auf Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Kommentar zur gesetzlichen Unfallversicherung, § 548 RVO Anmerkung 2, Punkt 1). Das Unfallereignis müsse mit der versicherten beruflichen Tätigkeit einen inneren ursächlichen Zusammenhang bilden, der sowohl zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis als auch zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsschädigung bestehe. Der Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Unfallereignis sowie zwischen Unfallereignis und Gesundheitsstörung brauche nur wahrscheinlich zu sein. Hierfür genüge es, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren überwögen. Hätten aber neben dem Unfallereignis noch andere mitwirkende Ursachen gleichwertig oder annähernd gleichwertig zum Erfolg beigetragen, so sei jede von ihnen Ursache im Rechtssinne. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung diene aber nicht dazu, Gesundheitsstörungen zu entschädigen, die bei betrieblicher Tätigkeit nur augenscheinlich würden; entschädigt werden solle vielmehr nur jene Gesundheitsstörung, die erst durch die betriebliche Tätigkeit herbeigeführt worden sei (Hinweis auf BSG SozR 2200 § 548 Nr. 51). Es würden somit keine Gesundheitsstörungen entschädigt, die beim Ausüben einer versicherten Tätigkeit nur - örtlich und zeitlich - zufällig aufgetreten seien (so genannte Gelegenheitsursache). Ein solches zufälliges Auftreten liege vor, wenn eine Krankheitsanlage so leicht ansprechbar sei, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht einer besonderen, in ihrer Eigenart unersetzlichen äußeren Einwirkung bedürfe, wenn also auch jedes andere alltägliche vorkommende ähnlich geartete Ereignis die Erscheinung ungefähr zur selben Zeit ausgelöst hätte (Hinweis, BSG SozR Nr. 47 zu § 142 RVO a. F.).

Ausgehend von diesen Kriterien sei das Ereignis vom 28.07.1997 nicht die rechtlich wesentliche Ursache oder Teilursache für den eingetreten Bandscheibenvorfall. Der medizinische Sachverständige Chefarzt Dr. P ... habe in seinem Gutachten vom 30.03.1999 dargelegt, es sei zwar denkbar, dass die Klägerin am 28.07.1997 eine Zerrung im Bereich des rechten Oberschenkels bzw. der Lendenmuskulatur erlitten habe, dass aber diesbezüglich ein objektiver Erstbefund fehle. Der bei der MRT-Untersuchung am 14.08.1997 festgestellte Bandscheibenprolaps bei C6/ C7, der vermutlich am Tag nach dem Ereignis vom 28.07.1997 aufgetreten sei, könne nicht durch das Ereignis vom 28.07.1997 verursacht worden sein. Traumatische Bandscheibenverletzungen der Halswirbelsäule seien nur denkbar bei der Einwirkung außerordentlicher Kräfte, die mit Sicherheit beim Tragen eines Koffers nicht aufgetreten seien. Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit habe die nachgewiesene Vorschädigung der Bandscheibe am Tag nach dem Ereignis vom 28.07.1997 zum Bandscheibenvorfall geführt. Dafür spreche zum einen die Anamnese, nach der bereits seit 1989 Blockierungen der Halswirbelsäule durch den Orthopäden Dr. C ... behandelt worden seien. Schon im November 1996 seien röntgenologische Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule gefunden worden, die auch im MRT vom 14.08.1997 beschrieben worden seien. Außerdem habe der histologische Befund vom 05.09.1997 hochgradige degenerative Veränderungen des Bandscheibengewebes ergeben. Abgesehen davon, dass das Ereignis als solches gegen eine traumatische Bandscheibenruptur spreche, sei 5 Wochen nach einem traumatischen Bandscheibenvorfall noch nicht mit hochgradigen degenerativen Veränderungen zu rechnen gewesen. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis vom 28.07.1997 und dem Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule sei somit als höchst unwahrscheinlich anzusehen. Dass es überhaupt in zeitlich engem Zusammenhang mit dem Ereignis zu den Symptomen des Bandscheibenvorfalles habe kommen können, sei nur so zu erklären, dass der Krankheitsverlauf schon so weit fortgeschritten gewesen sei, dass bereits eine möglicherweise krampfhafte Bewegung der Halswirbelsäule oder eine verstärkte Muskelanspannung der Nackenmuskulatur ausgereicht habe, als auslösende Ursache für den Bandscheibenvorfall zu wirken. Es sei sehr wahrscheinlich, dass bei einer ähnlichen alltäglichen Belastung in absehbarer Zeit der gleiche Gesundheitsschaden eingetreten wäre. Nur für den Fall, dass das Gericht dennoch einen ursächlichen Zusammenhang anerkennen sollte, habe der medizinische Sachverständige eine fachneurologische Untersuchung zur exakten Befunderhebung und zur Einschätzung der eventuell vorliegenden Minderung der Erwerbsfähigkeit empfohlen. Bereits im Durchgangsarztbericht, im Anschluss an die Untersuchung der Klägerin am 13.11.1995 erstattet, sei darauf hingewiesen worden, dass der Hergang des Ereignisses vom 28.07.1997 und der erhobene Befund gegen die Annahme eines Arbeitsunfalles sprächen, da es an der Einwirkung einer Gewalt von außen gefehlt habe. Dieser Auffassung habe sich auch der beratende Arzt der Beklagten Dr. S ... in seiner Stellungnahme vom 20.04.1998 angeschlossen, in welcher er darauf hingewiesen habe, dass am 28.07.1997 kein Unfallereignis im versicherungsrechtlichen Sinne stattgefunden habe.

Weder die Einwände der Klägerin im Schriftsatz vom 10.06.1999 noch die Befundberichte von Dr. W ... vom 15.08.1997 und Dr. C ... vom 17.03.1998 vermöchten die Ausführungen von Chefarzt Dr. P ... zu entkräften. Zwar sei sich die Klägerin jetzt im Unterschied zu den Angaben unmittelbar nach dem Ereignis vom 28.07.1997 ganz sicher, dass sie sofort nach dem Tragen des Koffers linksseitig Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule verspürt habe. Einer weiteren Aufklärung habe es jedoch nicht bedurft, da es für die zu treffende Entscheidung nicht darauf ankomme, ob bereits am 28.07.1997 oder erst am 29.07.1997 die für einen Bandscheibenvorfall typischen Symptome vorgelegen hätten. Entgegen der Auffassung der Klägerin habe der medizinische Sachverständige das Tragen des Koffers gerade nicht als auslösende Ursache für den Bandscheibenvorfall angesehen. Er habe lediglich ausgeführt, dass das Koffertragen möglicherweise als auslösende Gelegenheitsursache und somit als Ursache ohne rechtlich wesentliche Bedeutung angesehen werden könne. Wie groß und wie schwer der Koffer gewesen sei, spiele für die Entscheidung keine Rolle, da es für die Beurteilung des Ursachenzusammenhanges zwischen dem Ereignis vom 28.07.1997 und dem später festgestellten Bandscheibenvorfall im Bereich der Halswirbelsäule auf andere, vom Gutachter beachtete Kriterien, ankomme. Zutreffend habe der medizinische Sachverständige auch darauf hingewiesen, der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Ereignis und dem Auftreten von Symptomen, wie sie bei einem Bandscheibenvorfall üblich seien, spreche lediglich für einen bereits weit fortgeschrittenen Krankheitsverlauf im betroffenen Halswirbelsäulensegment. Soweit Dr. W ... und ihm folgend dann auch Dr. C ... die Auffassung vertreten hätten, die fehlenden Randreaktionen in den angrenzenden Grund- und Deckplatten im Bereich der Wirbelkörper des dargestellten Bandscheibenvorfalles sprächen für ein akutes Bandscheibenvorfallgeschehen, stehe dies nicht im Widerspruch zu den Ausführungen von Chefarzt Dr. Paul. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass durch diese Formulierung auf eine fehlende Vorschädigung, die doch röntgenologisch eindeutig erwiesen sei, habe hingewiesen werden sollen. Dorsale Knochenkantenreaktionen seien zu diesem Zeitpunkt ohnehin noch nicht zu erwarten gewesen, da der Bandscheibenvorfall noch nicht lange zurückgelegen habe.

Gegen das ihr am 29.10.1999 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24.11.1999 Berufung eingelegt. Sie sei sich sicher, unmittelbar nach dem Tragen des Koffers linksseitige Beschwerden im Bereich der HWS verspürt zu haben, die dann sehr heftig geworden seien. Ähnliche habe sie zuvor nie gehabt, auch sei sie in diesem Bereich zu keinem Zeitpunkt vorher jemals untersucht und behandelt worden. Der äußerst enge zeitliche Zusammenhang sei indiziell für einen ursächlichen. Der Sachverständige habe sich nicht mit den Umständen des Koffertragens im Einzelnen (z. B. Gewicht, Dauer des Tragens) beschäftigt, sondern sich nur auf Allgemeinwissen und Erfahrung gestützt. Dies sei zu pauschal. Das Verhältnis unterschiedlicher Ursachen zueinander werde nicht bestimmt. Das SG habe zu Unrecht die von Sachverständigen selbst vorgeschlagene neurologische Untersuchung nicht vornehmen lassen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 30.08.1999 mit dem Bescheid vom 06.01.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.07.1998 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung des Ereignisses vom 28.07.1997 als Arbeitsunfall Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und auf das Gutachten von Dr. P ...

Von Seiten des Universitätsklinikums C ... G ... C ..., D ..., ist mit Schreiben vom 25.01.2000 mitgeteilt worden, vor der Bandscheibenoperation am 02.09.1997 habe die Klägerin zur Anamnese angegeben: "Am 28.07.1997 trug die Patientin auf dem Bahnhof Riesa einen schweren Koffer und klagte danach über Schmerzen im lumbosakralen Übergang. Am nächsten Tag verspürte sie Schmerzen in der linken Schulter verbunden mit Kribbelparästhesien in der linken Hand sowie Schmerzausstrahlung in den gesamten Arm. Ab dem 29.07.97 wurde eine Kraftlosigkeit bemerkt, wobei genaue Angaben nicht möglich waren. Der Schmerz war insgesamt durch Hals- und Kopfbewegung zu beeinflussen und zu provozieren."

Dr. B ... hat über die Aufzeichnung des Notfallscheines berichtet (Schr. eing. am 28.01.2000): - 7.8.1997: akute Lumbago: re LWS; Beschwerden li Schulter, Blutdruck 120/80; li Arm frei beweglich; Pat. gibt Parästhe sien an. - 8.8.1997: keine nächtlichen Beschwerden, keine Sensibilitäts störungen.

Dem Senat liegen neben den Prozessakten beider Rechtszüge die Verwaltungsakten vor.

Entscheidungsgründe:

Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung der Klägerin ist im Wesentlichen nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage insoweit abgewiesen, als der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nicht zusteht. Jedoch hat der - als Unfall zu wertende Vorgang - zu einer - vorübergehenden - körperlichen Beeinträchtigung geführt, die als Unfallfolge festzustellen ist.

Die fristgemäß erhobene und auch sonst zulässige Berufung ist teilweise begründet. Entgegen der Ansicht der Beklagten und des SG handelte es sich bei dem Ereignis vom 28.07.1997 um einen Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Eine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus liegt jedoch nicht vor (§§ 56 Abs. 1 Satz 1, 72 Abs. 1 SGB VII).

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeiten. § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII definiert Unfälle als zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Körperschaden führen. Mit dem Erfordernis, dass das Ereignis "von außen" auf den Menschen einwirken muss, soll lediglich ausgedrückt werden, dass ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist (BSG SozR 2200 § 550 Nr. 35). So genügt es für eine Einwirkung von außen zum Beispiel, dass der Boden (als Teil der "Außenwelt") beim Aufprallen physikalische Kräfte gegen Körper wirksam werden lässt (vgl. BSG a. a. O.). Auch körpereigene Bewegungen können unter Umständen ausreichen (so z. B. Landessozialgericht - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen, Entscheidung vom 24.11.1999, Az.: L 17 U 261/97 und LSG für das Land Baden-Württemberg in HVBG-Info 1996, 905).

In diesem Sinne hat auch nach Ansicht des Senats die Klägerin einen Unfall erlitten, als sie sich beim Aufheben eines für ihre Kräfte "schweren" Koffers jedenfalls eine Muskelzerrung zuzog. Zu der Problematik hat sich der Senat grundlegend in den Urteilen v. 14.11.2000 (L 2 U 133/98) und v. 14.12.2000 (L 2 U 6/00) geäußert. Im Unterschied zu hier aber trat in jenen Fällen die unmittelbare Körperverletzung (Sehnenruptur, Bandscheibenvorfall im HWS-Bereich) in direktem Zusammenhang mit der als Unfall bezeichneten Handlung (Mit-dem-Körper-dagegen-Stemmen, Heben eines Gewichts von 70 kg) auf.

Aber auch im Falle der Klägerin ist der durch MRT-Befund diagnostizierte Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule bei den Wirbelkörpern C6/C7 nicht rechtlich wesentlich auf diesen Hebevorgang zurückzuführen.

Ein Unfall ist nämlich nur dann "infolge" einer versicherten Tätigkeit eingetreten und somit als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen, wenn die berufliche Tätigkeit in rechtlich wesentlicher Weise bei der Krankheitsentstehung mitgewirkt hat. Die Wertung als rechtlich wesentliche Ursache erfordert nicht, dass der berufliche Faktor die alleinige oder überwiegende Bedingung ist. Haben mehrere Ursachen (in medizinisch-naturwissenschaftlicher Hinsicht) gemeinsam zum Entstehen des Schadens beigetragen, sind sie nebeneinander (Mit-)Ursachen im Rechtssinne, wenn beide in ihrer Bedeutung und Tragweite beim Eintritt des Erfolges wesentlich mitgewirkt haben. Der Begriff "wesentlich" ist nicht identisch mit den Beschreibungen "überwiegend", "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine "nicht annähernd gleichwertige" sondern rechnerisch (prozentual), also verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung kann für den Erfolg wesentlich sein. Ein mitwirkender Faktor ist nur dann rechtlich unwesentlich, wenn er von einer anderen Ursache ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Daher ist es zulässig, eine - rein naturwissenschaftlich betrachtet - nicht gleichwertige (prozentual also verhältnismäßig niedriger zu bewertende) Ursache rechtlich als "wesentlich" anzusehen, weil gerade und nur durch ihr Hinzutreten zu der anderen wesentlichen Ursache "der Erfolg" eintreten konnte: Letzere Ursache hat dann im Verhältnis zur ersten keine überragende Bedeutung (Bereiter/Hahn/Mehrtens, § 8 SGB VII Rdnr. 8.2.3).

Darüber hinaus ist zu beachten, dass im Hinblick auf den Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung jeder Versicherte in dem Gesundheitszustand geschützt ist, in dem er sich bei Aufnahme seiner Tätigkeit befindet, auch wenn dieser Zustand eine größere Gefährdung begründet. Eingebunden sind alle im Unfallzeitpunkt bestehenden Krankheiten, Anlagen, konstitutionell oder degenerativ bedingten Schwächen und Krankheitsdispositionen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage S. 81).

Dementsprechend darf eine Schadensanlage als allein wesentliche Ursache nur dann gewertet werden, wenn sie so stark ausgeprägt und so leicht ansprechbar war, dass es zur Auslösung des akuten Krankheitsbildes keiner besonderen, in ihrer Art unersetzlichen äußeren Einwirkung aus der versicherten Tätigkeit bedurft hat, sondern der Gesundheitsschaden wahrscheinlich auch ohne diese Einwirkungen durch beliebig austauschbare Einwirkungen des unversicherten Alltagslebens zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd gleicher Schwere entstanden wäre (vgl. Erlenkämper, Arbeitsunfall, Schadensanlage und Gelegenheitsursache, in: SGb 1997, S. 355, 358, m.w.N.).

Vorliegend ist aufgrund des engen zeitlichen Zusammenhanges zwischen dem Unfallereignis und den aufgetretenen Sensibilitätsstörungen (insbesondere ein Kribbeln und ein Taubheitsgefühl im Bereich der linken Hand) davon auszugehen, dass der Hebevorgang am 30.09.1997 (auch) ursächlich war für das Eintreten des Bandscheibenvorfalles war. Der Sachverständigen Dr. Paul hat eine krampfhafte Bewegung der Halswirbelsäule bzw. eine verstärkte Anspannung der Nackenmuskulatur als dafür ausreichende Ursache angesehen, wesentlich-ursächlich für den Bandscheibenvorfall aber waren die zum Unfallzeitpunkt bei der Klägerin vorliegenden ausgeprägten ("hochgradigen") degenerativen Veränderungen des Bandscheibengewebes des betreffenden Halswirbelsäulenabschnitts. Dies ist erwiesen durch den histologischen Befund, der "relativ derb-elastische, kleine faserige schmutzig-hellgraue Gewebestücke zeigte (Bericht des Instituts für Pathologie, TU Dresden, v. 5.9.1997, Beklagten-Akte Bl. 50). Auch das Gutachten von Dr. P ... schätzt dies als "letztlich" beweisend ein, weil in der kurzen Zeit zwischen Unfall und Gewebeentnahme sich derart schwere Veränderungen nicht bilden können (S. 10, SG-Akte Bl. 69). Diese degenerativen Veränderungen, die sich über einen langen Zeitraum entwickeln, müssen auch schon vor dem 28.07.1997 vorgelegen haben; sie sind im Sinne eines Vollbeweises nachgewiesen.

Dass - ganz erhebliche - degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule der Klägerin bereits am Unfalltag bestanden haben müssen, ergibt sich auch daraus, dass eine gesunde, nicht vorgeschädigte Bandscheibe bei dem beschriebenen Hebevorgang keine Schädigung erlitten hätte. Beim Anheben einer schweren Last wirken auf die Bandscheiben im Halswirbelsäulenbereich erheblich geringere Kräfte ein als z. B. auf die Bandscheiben im Lendenwirbelsäulenbereich. Selbst wenn man - entsprechend dem späteren Vortrag der Klägerin davon auszugehen hätte, dass bereits am selben Tag Beschwerden im HWS-Bereich aufgetreten seien, folgte hieraus keine solche Belastung für die Halswirbelsäule, dass eine gesunde Bandscheibe in diesem Bereich hätte geschädigt werden können. Der bei der Klägerin am 28.07.1997 bereits vorhandene Bandscheibenschaden stellt die rechtlich allein wesentliche Ursache für den Bandscheibenvorfall dar. Zur Überzeugung des Senates steht fest, dass der Bandscheibenvorfall auch ohne den Arbeitsunfall vom 28.07.1997 zur gleichen Zeit und in der gleicher Art und Weise entstanden wäre.

Die von der Klägerin erhobenen Einwände greifen nicht durch. Sie hat zwar später und zuletzt behauptet, die Schmerzen seien bereits beim Tragen des Koffers im HWS-Bereich aufgetreten, doch das ist ihr nicht zu glauben. Die vor der Bandscheiben-Operation erhobene Anamnese besagt das Gegenteil: Beschwerden spürte sie nur in der Lumbalgegend (s. Auskunft des Universitätsklinikums v. 25.1.2001, LSG-Akten Bl. 36) und in der Unfallanzeige v. 15.12.1997 (BG-Akten Bl. 1) ist nur von einer "Zerrung der rechten Körperseite" die Rede. Daran aber laborierte sie schon seit langem. Auch wenn man einen biomechanischen Zusammenhang zwischen Anspannung von Arm- und Schultermuskulatur und der HWS-Orthostase anzunehmen hätte mit der Folge, daß Kräfte auf die Bandscheibe einwirken und es deshalb prinzipiell möglich wäre, daß dadurch ein Bandscheibenvorfall wesentlich (mit-) verursacht werden kann, sind doch im Falle der Klägerin diese Voraussetzungen hier nicht gegeben. Es trifft nicht zu, daß die Klägerin zuvor im HWS-Bereich beschwerdefrei gewesen wäre. Ohne Grund wurde die Röntgenaufnahme im Jahre 1984 nicht angefertigt; auch aus dem Jahre 1988 werden Cervikalbeschwerden berichtet. Dies mag auf der einen Seite lange her sein, gibt jedoch insbesondere der Steilstellung der HWS genügend Gelegenheit, sich degenerativ zu verändern. Entscheidend aber ist - wie dargelegt - der histologische Befund, der von "hochgradigen degenerativen Veränderungen" spricht. Dies allein schon ist beweisend genug.

Die einzige Unfallfolge - Zerrung der rechten Körperseite - war nur vorübergehend; auf sie ist die Klägerin später auch nicht mehr eingegangen. Eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit ergibt sich daraus nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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