L 2 U 35/96

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 104/96
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 35/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 05.09.1996 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die bei dem im Jahre ... geborenen Kläger seit 1993 bestehenden degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule (HWS) als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) oder gem. § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) wie eine BK mit einer Verletztenrente zu entschädigen ist.

Den eigenen Angaben des Klägers zufolge war er vom 02.08.1976 bis 31.07.1994 als Schmied an einer Schmiedepresse beschäftigt. Dabei musste er während der gesamten Arbeitsschicht Gegenstände mit einem Gewicht zwischen 3 bis 25 kg seitwärts mit verdrehtem Oberkörper heben und tragen. Auch musste er teilweise gebeugt arbeiten. Lasten auf der Schulter musste er allerdings keine tragen. Am 17.11.1993 wurde der Kläger wegen Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich links mit Ausstrahlung in den linken Arm krankgeschrieben. Im März 1994 erfolgte eine ärztliche Anzeige über eine BK. Darin wird mitgeteilt, dass beim Kläger überlastungsbedingte degenerative Veränderungen der HWS bestünden. Schmerzen im Bereich der HWS und der Brustwirbelsäule (BWS) seien erstmals 1976 aufgetreten.

Nachdem die Beklagte Krankenunterlagen des Klägers beigezogen hatte, legte sie diese dem Sächs. Landesinstitut für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in C ... vor. In seiner Stellungnahme kam das Landesinstitut zu dem Ergebnis, der Kläger habe nach seinen eigenen Angaben keine schweren Lasten auf der Schulter tragen müssen; das bedeute, dass die haftungsbegründende Kausalität für eine BK nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKVO nicht gegeben sei. Es werde deshalb empfohlen, eine BK nach Nr. 2109 ohne gutachtliche Untersuchung abzulehnen.

Darauf gestützt, lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung ab, weil bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Anerkennung einer BK-Nr. 2109 nicht gegeben seien (Bescheid vom 19.10.1995). Da auch keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlägen, wonach die Tätigkeit des Klägers geeignet sei, eine HWS-Erkrankung zu verursachen, könne auch eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO nicht erfolgen.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch. Er sei sich sicher, dass seine HWS-Erkrankung auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen sei. Das langjährige Heben, Schieben und Werfen schwerer Schmiederohlinge habe sich immer schädlich auf seine Wirbelsäule ausgewirkt. Besonders belastend sei die dabei einzunehmende Körperhaltung bei verdrehtem Oberkörper gewesen. Er verlange deshalb eine umfassende Einzelfallprüfung nach § 551 Abs. 2 RVO.

Mit Bescheid vom 04.04.1996 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Da der Kläger seinen eigenen Angaben nach keine schwere Lasten (über 50 kg) häufig und regelmäßig auf der Schulter habe tragen müssen, seien bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach Nr. 2109 nicht gegeben. Auch die Voraussetzungen für eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO lägen nicht vor. Seit dem Erlass der 2. VO zur Änderung der BKVO vom 18.12.1992 seien auch keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen worden, wonach Tätigkeiten, wie die des Kläger zu HWS-Beschwerden führten.

Hiergegen hat sich der Kläger an das Sozialgericht Chemnitz (SG) gewandt und geltend gemacht, er habe sich bei seiner beruflichen Tätigkeit einen HWS-Schaden zugezogen.

Mit Urteil vom 05.09.1996 hat das SG die Klage abgewiesen, weil die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Anerkennung einer BK nach Nr. 2109 bzw. nach § 551 Abs. 2 RVO nicht gegeben seien.

Das Urteil wurde dem Kläger mittels eingeschriebenen Brief am 10.10.1996 übersandt. Am 08.11.1996 hat der Kläger beim SG Berufung eingelegt. Wirbelsäulenbeschwerden könnten auch entstehen, ohne dass schwere Lasten auf der Schulter getragen worden seien. Dies gelte insbesondere für seine Tätigkeit mit einseitiger Belastung der Wirbelsäule über einen langen Zeitraum. Hier sei eine Einzelfallprüfung nach § 551 Abs. 2 RVO erforderlich, die das SG nicht vorgenommen habe. Seine Tätigkeit im Press- und Schmiedewerk sei sehr spezifisch gewesen, er habe an einer Sondermaschine arbeiten müssen, bei der es sich eigentlich um eine Fehlkonstruktion gehandelt habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 05.09.1996 sowie den Bescheid vom 19.10.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Anerkennung seiner HWS-Erkrankung als Berufskrankheit dem Kläger Leistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chem nitz vom 05.09.1996 zurückzuweisen.

Sie hält nach wie vor ihre und die Entscheidung des SG für zutreffend.

Im Rahmen des Berufungsverfahrens hat der Senat nach Beiziehung weiterer Krankenunterlagen Dr. J ..., FA für Orthopädie in B ... D ...zum Sachverständigen bestellt. In seinem Gutachten vom 23.10.1999 kommt dieser zu dem Ergebnis, dass der Kläger an degenerativen Veränderungen der mittleren bis unteren HWS sowie der Außenrotatoren der linken Schulter leide. Außerdem bestehe ein Bandscheibenprolaps bei C6/7. Die Zeit der mechanischen Belastung und die Intensität der mechanischen Irritationen, denen der Kläger während seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt gewesen sei, könne derartige Schäden, wie sie beim Kläger nachweisbar seien, hervorrufen. Demzufolge seien die degenerativen Veränderungen der mittleren bis unteren HWS sowie der Außenrotatoren der linken Schulter und der Bandscheibenprolaps bei C6/7 als berufsbedingte Erkrankungen anzuerkennen. Die HWS sei beim Kläger nicht durch Belastungen der linken Schulter, sondern durch die mechanischen Irritationen der HWS und der oberen Extremitäten verursacht. Demzufolge spiele das Tragen von Lasten keine entscheidende Rolle. Der berufsbedingte Körperschaden betrage insgesamt 15 v. H.

Auf Anfrage des Senats hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Bonn mitgeteilt (Schreiben vom 21.07.2000), dass der Verordnungsgeber sich nach Erlass der VO vom Dezember 1992 nicht erneut mit der Frage befasst habe, ob bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS auch durch andere Trage- und Hebetätigkeiten als durch "Tragen auf der Schulter" i. S. d. Berufskrankheitenrechts verursacht werden könnten. Insoweit lägen derzeit keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Fragestellung vor. Auch der das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung beratende Sachverständigenbeirat habe sich mit der Problematik nicht mehr befasst. Dementsprechend seien auch diesem Gremium keine neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft hierzu bekannt.

Der Senat hat des Weiteren beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften in St. Augustin nachgefragt, ob HWS-Erkrankungen bei einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger als bei der übrigen Bevölkerung auftritt und ob zu dieser Personengruppe der Schmied an der Schmiedepresse gehört. Der HVBG teilte mit Schreiben vom 05.09.2000 im Wesentlichen mit, dass keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnis darüber vorlägen, dass bestimmte Personengruppen durch besondere Einwirkungen bei ihrer versicherten Tätigkeit (hier Heben und Tragen schweren Lasten) einem erheblich höheren Risiko als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sei, an degenerativen HWS-Veränderungen zu erkranken. Entsprechende Erkenntnisse gäbe es lediglich zum Heben und Tragen schwerer Lasten auf der Schulter.

Dem Senat lagen neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge die Verwaltungsakte der Beklagten vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung eines HWS-Leidens. Das beim Kläger bestehende HWS-Leiden ist keine BK und steht einer BK auch nicht gleich.

Die geltend gemachten Ansprüche richten sich noch nach den Vorschriften der RVO, da die Erkrankung bereits vor dem In-Kraft-Treten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 eingetreten ist (§§ 212, 215 Abs. 1 SGB VII).

Nach § 1150 Abs. 2 Nr. 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 aufgetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und BKen der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und BKen, sofern sie dem Beklagten bis zum 31.12.1992 bekannt wurden (vgl. § 1150 Abs. 2 Nr. 1 RVO).

Im vorliegenden Fall wurde der Anspruch des Klägers auf Anerkennung und Entschädigung einer BK erst nach dem 31.12.1992, nämlich am 07.03.1994 bekannt, obwohl der Kläger schon vor dem 01.01.1992 an HWS-Beschwerden litt. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch besteht daher nur, wenn die Voraussetzungen der RVO vorliegen; die Anwendung des DDR-Rechts ist damit ausgeschlossen.

Eine BK, die gem. § 551 Abs. 1 RVO als Arbeitsunfall gilt, ist eine Berufskrankheit, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Eine solche Bezeichnung nimmt die BKVO mit den so genannten Listenkrankheiten vor. Durch Art. 1 Nr. 4 der 2. ÄndVO wurde die Anlage 1 der BKVO vom 20.06.1968 (BGBl. I 721) u. a. dahingehend geändert, dass dazu nunmehr nach Nr. 2109 "bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können" gehören.

Da der Kläger bei seiner beruflichen Tätigkeit unbestritten keine Lasten auf der Schulter zu tragen hatte, ist seine Krankheit schon deshalb keine BK nach Nr. 2109 der Anlage 1 zu BKVO.

Nach § 551 Abs. 2 RVO soll eine Erkrankung wie eine BK entschädigt werden, wenn nach Erlass der letzten ÄnderungsVO zur BKVO neue medizinische Erkenntnisse gewonnen wurden bzw. sich zur BK-Reife verdichtet haben, die eine Anerkennung des Leidens als BK generell und gerade auch im betroffenen Einzelfall rechtfertigen.

Der Kläger leidet an einer durch seine versicherte Tätigkeit als Schmied an Schmiedepressen verursachten Krankheit. Diese Krankheit (HWS-Erkrankung) ist zwar in der Anlage 1 der BKVO unter Nr. 2109 bezeichnet, jedoch erfüllt der Kläger - wie bereits dargelegt - nicht die dort bestimmte Voraussetzung, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS durch langjähriges Tragen von Lasten "auf der Schulter" aufgetreten ist.

Die für eine Entschädigung (oder Anerkennung) seiner Krankheit nach § 551 Abs. 2 RVO erforderliche Voraussetzung, dass er zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, eine Krankheit solcher Art, wie sie bei ihm besteht, zu verursachen, liegt nicht vor. Die Voraussetzungen einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich auf das allgemeine Auftreten der Krankheit, nicht dagegen auf die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit (BSGE 59, 295, 298). Ob eine Krankheit in einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSGE a. a. O.).

Ein Nachweis darüber, dass die zur Diskussion stehende Krankheit durch besondere Einwirkungen verursacht wurden, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, kann nicht erbracht werden. Hierzu hat der HVBG dem Senat auf Anfrage mitgeteilt, es lägen derzeit keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vor, dass bestimmte Personengruppen durch besondere Einwirkungen bei ihrer versicherten Tätigkeit (hier: Heben und Tragen schwerer Lasten) einem erheblich höheren Risiko als die übrige Bevölkerung ausgesetzt seien, an degenerativen HWS-Veränderungen zu erkranken.

Darüber hinaus war der Kläger - wie er selbst mehrmals betonte - an einem Arbeitsplatz beschäftigt, den es so offensichtlich nicht noch einmal gab, da es sich bei dem Schmiedewerk, an dem er jahrelang tätig war, um eine einmalige Sonderkonstruktion handelte, die zu unphysiologischen Bewegungsabläufen zwang. Damit kann es keine bestimmte Personengruppe geben, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt war, die eine HWS-Erkrankung verursacht. Auch aus diesem Grunde - fehlen einer bestimmten Personengruppe - wenn die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO der Kläger nicht erfüllt.

Es fehlt daher bereits an einer generellen Geeignetheit das Heben und Tragen von schweren Lasten auf die Entstehung einer HWS-Erkrankung.

Darüber hinaus gibt es keine "neuen" medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zum generellen Ursachenzusammenhang zwischen Heben und Tragen von schweren Lasten und der Erkrankung der HWS. Neu sind solche Erkenntnisse nur, wenn sie erst nach Erlass der letzten Anlage 1 zur BKVO bekannt geworden oder erst danach gewonnen worden sind oder sich erst nach diesem Zeitpunkt zur BK-Reife verdichtet haben, so dass der Verordnungsgeber diese Erkenntnisse bei der Neufassung der 2. ÄndVO im Dezember 1992 noch nicht berücksichtigen konnte.

Wie das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auf Anfrage des Senats mitteilte, liegen solche "neuen" medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Fragestellung nicht vor.

Aus diesen Gründen ist eine Anerkennung der HWS-Erkrankung des Klägers "wie" eine BK nicht möglich, auch wenn Dr. J ... in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen ist, die bestehende HWS-Erkrankung sei auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen. Allein die medizinische Feststellung, dass diese Erkrankung auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist, reicht für eine Anerkennung - wie oben dargelegt - nicht aus.

Die Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuzweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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