L 18 V 28/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 V 29/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 V 28/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Bauchaortenaneurysma nach kriegsbedingter Oberschenkelamputation
kann im Wege der Kannversorgung iSd Entstehung zu entschädigen sein.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.01.1998 dahingehend abgeändert, dass die weitere Schädigungsfolge "Beschwerden nach Bauchaortenaneurysma" im Wege der Kannversorgung iS der Entstehung statt als Pflichtleistung iS der Entstehung anzuerkennen ist.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des zweiten Rechtszuges zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand:

Streitig ist, ob das Sozialgericht (SG) Nürnberg den Beklagten zu Recht verurteilt hat, beim Kläger als weitere Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) "Beschwerden nach Bauchaortenaneurysma" iS der Entstehung anzuerkennen und eine Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III zu gewähren.

Bei dem am ...1922 geborenen Kläger waren zuletzt mit (Ausführungs)-Bescheid vom 06.02.1995 als Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH ab 01.09.1987 anerkannt: 1. Teilverlust des linken Beines im mittleren Oberschenkeldrittel nach Splitterverwundung 2. Knöcherne Versteifung des rechten Kniegelenkes in Streckstellung nach Resektion wegen Splitterverletzung bei ausgedehnter Narbenbildung am Knie, Ober- und Unterschenkel mit Schädigung des Wadenbeinnerven und geringe sekundäre Coxarthrose rechts mit Bewegungseinschränkung 3. Degenerative Veränderungen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule bei ausgeprägter Becken-Bein-Fehlstatik Zu Nrn 1 und 2 iS der Entstehung, zu Nr 3 iS der Verschlimmerung. Die Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe II wurde gewährt.

Die am 03.01.1990 vom Kläger beantragte Anerkennung eines "Aortenaneurysmas" als weitere Schädigungsfolge nach Resektion eines infrarenalen Aortenaneurysmas im Jahr 1989 lehnte der Beklagte nach Einholung von versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Internistin Dr.M.L ... vom 12.05./15.09.1995 mit Bescheid vom 31.10.1995 sowohl iS der Entstehung als auch als Kannversorgung ab. Zur Begründung gab der Beklagte an, die Ausbildung des Aortenaneurysmas sei auf die schädigungsunabhängige erhebliche Arteriosklerose-Risikofaktoren "familiäre Disposition, ausgeprägte Stoffwechselstörung und Bluthochdruck" ursächlich zurückzuführen. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 05.03.1996).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG Nürnberg hat der Kläger die Anerkennung von Beschwerden nach Bauchaortenaneurysma - hilfsweise im Wege der Kannversorgung - begehrt. Das SG hat von dem Gefäßchirurgen Prof.Dr.D.R ... (Nürnberg) ein Gutachten vom 19.02.1997/14.10.1997 eingeholt. Dieser hat unter Berufung auf die international anerkannte Studie des Prof.Dr.J.F.V ... zur Frage der Ursächlichkeit eines infrarenalen Bauchaortenaneurysmas mit einer Beinamputation die durch das Aneurysma bedingte MdE mit 30 vH eingeschätzt. Der Beklagte hat die Anerkennung des Aneurysmas als Schädigungsfolge weiterhin abgelehnt (Stellungnahme des Chirurgen Dr.K.P ... vom 25.03.1997 und 04.11.1997). Das SG ist dem Sachverständigen Prof.Dr.D.R ... gefolgt und hat den Beklagten mit Urteil vom 29.01.1998 verpflichtet, als weitere Schädigungsfolge iS der Entstehung "Beschwerden nach Bauchaortenaneurysma" anzuerkennen und Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III zu gewähren. Es hat das Aneurysma mit Wahrscheinlichkeit auf die Oberschenkelamputation des Klägers zurückgeführt und eine Kannversorgung nicht weiter geprüft.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und im Hinblick auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Internistin Dr.M.L ... vom 03.06. und 18.06.1998 die Aufhebung des Urteils des SG und die Abweisung der Klage begehrt. Dr.M.L ... hat die Beinamputation neben den Risikofaktoren Bluthochdruck und Hyperlipidämie nicht als annähernd gleichwertige Ursache für die Entstehung des Aortenaneurysmas angesehen. Auch die Voraussetzungen einer Kannversorgung hat sie verneint. Der Senat hat von den Gefäßchirurgen Prof.Dr.S.F ... (Würzburg) und Prof.Dr.W.S ... (Düsseldorf) Gutachten eingeholt. Während Prof.Dr.S.F ... in seinem Gutachten vom 04.05.1999 das Aneurysma der Hauptschlagader für eine wahrscheinliche Folge der linksseitigen Oberschenkelamputation angesehen hat, hat Prof.Dr.W.S ... in seinem Gutachten vom 12.10.2000 einen Ursachenzusammenhang nicht für wahrscheinlich gehalten. Der Beklagte hat sich mit den Stellungnahmen des Facharztes für Chi- rurgie, Gefäßchirurgie und Phlebologie Dr.H.T ... vom 21.06.1999, 29.07.1999 und 28.03.2000, der die Ätiologie des Leidens als nicht mehr unklar bezeichnete, gegen das Gutachten des Prof.Dr.S.F ... gewandt, das Gutachten des Prof.Dr.W.S ... hat er für zutreffend gehalten (versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr.M.L ... vom 17.11.2000).

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Nürnberg vom 29.01.1998 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 31.10.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.03.1996 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 29.01.1998 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakten des Beklagten, die Archivakten des SG Nürnberg S 8 V 133/82, S 11 V 64/91 und des Bayer.Landessozialgerichts L 15 V 290/84 sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) Berufung ist zulässig, aber im Wesentlichen nicht begründet.

Das SG hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, beim Kläger als weitere Schädigungsfolge "Beschwerden nach Bauchaortenaneurysma" anzuerkennen. Die Anerkennung hat jedoch nicht im Wege der sog "Pflichtleistung" gem § 1 Abs 3 Satz 1 BVG, sondern im Wege der Kannversorgung (iS der Entstehung) gem § 1 Abs 3 Satz 2 BVG zu erfolgen.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung kann sich durch die Verschlimmerung einer bereits anerkannten oder durch das Hinzutreten einer neuen, bisher nicht als Schädigungsfolge anerkannten Gesundheitsstörung ergeben. Stets ist jedoch dann erforderlich, dass die Verschlimmerung oder die weitere Gesundheitsstörung mit Wahrscheinlichkeit auf ein schädigendes Ereignis iS des BVG oder die bereits anerkannte Schädigungsfolge ursächlich zurückzuführen ist (§ 1 Abs 3 Satz 1 BVG). Wahrscheinlich iS dieser Vorschrift bedeutet, dass mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl BSGE 60,58 ff = SozR 3850 § 51 Nr 9; Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz - AHP - 1996 RdNr 38 Abs 1).

Ausgehend von diesen Voraussetzungen kann der Senat nicht bejahen, dass das Bauchaortenaneurysma des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf die Oberschenkelamputation zurückzuführen ist. Die Voraussetzungen für eine Kannversorgung liegen aber vor. Entgegen der Auffassung des SG besteht nämlich über die Ursache des Bauchaortenaneurysmas in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit. Davon ist auszugehen, wenn über die Entstehungsursache eines Leidens keine einheitliche, sondern verschiedene, oft diametral entgegengesetzte ärztliche Lehrmeinungen bestehen (Wilke/Fehl, Soziales Entschädigungsrecht, Komm, 7.Aufl § 1 BVG RdNr 101).

So ist es hier. Während die Professoren Dr.D.R ... und Dr.S.F ... unter Berufung auf Prof.Dr.J.F.V ... die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs bejahen, wird dieser von den Versorgungsärzten und Prof.Dr.W.S ... verneint. Prof.Dr.J.F.V ... hat in den Jahren 1988/89 in Zusammenarbeit mit einem regionalen Versorgungsamt an 329 Oberschenkelamputierten des Zweiten Weltkriegs und 702 gleichaltrigen Männern ohne Amputation klinische Studien durchgeführt und eine eindeutige Bestätigung für eine pathogenetische Korrelation zwischen Beinamputation und Entwicklung eines infrarenalen Aortenaneurysmas nach einem durchschnittlichen Zeitintervall von 43,8 Jahren gefunden. Die beiden Patientengruppen zeigten dabei weitgehend Übereinstimmung hinsichtlich ihrer arteriosklerotischen Risikofaktoren, einschl. Adipositas und Hypertonie (Deutsche medizinische Wochenschrift [DMW] 1988, 1795-1800). Prof.Dr.J.F.V ... hat auch unter Berücksichtigung einer entgegenstehenden Studie der Versorgungsärztin Dr.M.L ... und andere von 1990/91 an seiner Auffassung festgehalten (Leserzuschrift des Prof.Dr.J.F.V ... in DMW 1995, S 155/156).

Wenn die ursächliche Bedeutung von Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann, stellt sich die Frage der Kannversorgung (vgl AHP 1996, S 182). Nach § 1 Abs 3 Satz 2 BVG kann mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden, wenn die erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden. Eine allgemeine Zustimmung für die Anerkennung eines infrarenalen Bauchaortenaneurysmas liegt nicht vor (vgl die Auflistung der Leiden in den AHP 1996 S 185), jedoch kann im Einzelfall vom BMA die Zustimmung für eine Kannversorgung erteilt werden (aaO S 185/186). Damit trägt das BMA der Tatsache Rechnung, dass es wissenschaftlich umstritten ist, ob der Verlust einer unteren Extremität wesentliche Bedingung für die Entwicklung eines infrarenalen Bauchaortenaneurysmas ist (aaO RdNr 94, S 267).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist die Vorschrift des § 1 Abs 3 Satz 2 BVG zur Kannversorgung eng auszulegen (BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 9). Es muss wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs vertritt. Wird eine solche Meinung überhaupt nicht vertreten, fehlt es nicht an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit infolge einer Ungewissheit, weil alle Meinungen dann darin übereinstimmen (BSG aaO). Über die Gewährung einer Kannversorgung müssen nach wenigstens einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Lehrmeinung Erkenntnisse vorliegen, die für einen generellen, in der Regel durch statistische Erhebungen untermauerten Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der festgestellten Erkrankung sprechen. Es darf nicht nur eine theoretische, sondern es muss eine "gute" Möglichkeit des Zusammenhangs bestehen, die sich in der wissenschaftlichen Medizin nur noch nicht so zur allgemeinen Lehrmeinung verdichtet hat, dass von gesicherten Erkenntnissen gesprochen werden kann (BSG aaO Nr 13). Dabei setzt die Kannversorgung eine abstrakte theoretische Unsicherheit voraus, nicht eine bloß konkrete im Einzelfall (aaO).

Diese Voraussetzungen für eine Kannversorgung liegen hier vor. Es gibt im Hinblick auf die Studie des Prof.Dr.J.F.V ... wenigstens eine nachvollziehbare wissenschaftliche Lehrmeinung, die für einen generellen, durch statistische Erhebungen untermauerten Zusammenhang zwischen der Oberschenkelamputation und dem infrarenalen Bauchaortenaneurysma spricht. Es handelt sich dabei nicht nur um eine theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs, sondern vielmehr um eine - wie Prof.Dr.D.R ... in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.10.1997 formuliert - "näherliegende Möglichkeit" des Ursachenzusammenhangs. Das vom BSG aufgestellte Kriterium der "guten Möglichkeit" des Ursachenzusammenhangs ist somit erfüllt. Nicht gefolgt werden kann der Auffassung des Versorgungsarztes Dr.H.T ..., dass die Ätiologie und Pathogenese der Aneurysmaerkrankung nach der neueren Literatur nicht mehr unklar sei und deshalb eine Kannversorgung nicht mehr in Betracht komme. Hierzu hat Prof.Dr.S.F ... in überzeugender Weise bemerkt, dass in der Literatur zwar neuerdings die Frage diskutiert werde, ob Gendefekte die Ursache für das Auftreten eines Aneurysmas sein könnten. Damit ist aber nicht die Frage beantwortet, ob ein Kausalzusammenhang zwischen einer Oberschenkelamputaion und einem nach Jahrzehnten aufgetretenen Bauchaortenaneurysma besteht.

Auch die beim Kläger bestandenen Arteriosklerose-Risikofaktoren schließen die Annahme einer Kannversorgung nicht aus. Prof.Dr.S.F ... hat darauf hingewiesen, dass vorliegend allein der Bluthochdruck nicht ausschlaggebend für die Entstehung des Aneurysmas ist, sondern die strömungspatho-physiologischen Gegebenheiten mit zu berücksichtigen sind. Die Amputation in Höhe des Oberschenkels stellt aber nach den Darlegungen des

Prof.Dr.S.F ... eine Veränderung der Strömungsphysiologie mit retrograd wirkenden Impulskräften dar. Es besteht daher die "gute" Möglichkeit der häufigeren Aneurysmen der Bauchschlagader nach einem Zeitintervall von über 40 Jahren.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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