L 4 B 268/02 KR ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 19 KR 435/02 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 B 268/02 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 12. Juli 2002 aufgehoben und die Aussetzung der sofortigen Vollziehung der Bescheides der Antragsgegnerin vom 8. Mai 2002 angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Antragstellerin ist eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse mit Sitz in München. Sie wies in ihrer Mitgliederzeitschrift "Gesundheit" (Nr.4, S.12) im Jahr 2001 auf die Möglichkeit des Bezugs von Arzneimitteln über die niederländische Internet-Apotheke "D." hin und stellte bei erstattungsfähigen Medikamenten die Übernahme der Kosten - wie bei jeder anderen Apotheke - in Aussicht. Die Antragsgegnerin nahm einen ihr bekannt gewordenen Einzelfall der Kostenerstattung für Medikamente, die aus dem Internet über Versandhandel bezogen worden sind, zum Anlass, die Antragstellerin mit Schreiben vom 31.08.2001 darauf hinzuweisen, dass der Versandhandel mit Arzneimitteln nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) rechtswidrig sei. Der Anspruch des Versicherten auf Erstattung der verauslagten Kosten sei aufgrund des nicht zulässigen Beschaffungsweges ausgeschlossen. Kostenerstattungen für Medikamente, die aus dem Internet über Versandhandel bezogen würden, seien daher zu unterlassen.

Am 21.09.2001 teilte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission der Europäischen Union (EU) mit, dass unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ein Anspruch der Versicherten auf Kostenerstattung für in Apotheken der Mitgliedstaaten aufgrund deutscher Rezepte erworbenen Arzneimitteln bestehe und dieser Anspruch nicht mehr unter Hinweis auf das geltende Sachleistungsprinzip abgelehnt werden dürfe. Der Bezug der von einem deutschen Arzt verordneten Arzneimittel im EU-Ausland gefährde die finanzielle Stabilität des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht. Gravierende Auswirkungen habe der Bezug der Arzneimittel im Ausland aufgrund in Deutschland ausgestellter Verordnungen für das System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung oder für die Gesundheit der Versicherten nicht. Weder dürfte in diesem Fall die Qualität der Krankenversicherung noch die Wirtschaftlichkeit ihrer Erbringung, noch die Übereinstimmung ihrer Erbringung mit dem geltenden Leistungsrecht in Frage gestellt sein. Aus diesem Grund müsse der Binnenmarktfreiheit nach dem EG-Vertrag der Vorrang vor ebenfalls nach dem EG-Vertrag den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Verantwortung und Gestaltungskompetenz zur Organisation ihres jeweiligen nationalen Gesundheitswesens eingeräumt werden.

Die Antragsgegnerin wies mit Schreiben vom 11.10.2001 die Antragstellerin unter Bezugnahme auf einen Beitrag aus der Mitgliederzeitschrift der Antragstellerin darauf hin, dass die Kostenerstattung für über den Versandhandel bezogene Arzneimittel ausnahmslos unzulässig sei und forderte sie auf, bis 10.11.2001 eine entsprechende Unterlassungserklärung abzugeben, anderenfalls würde das förmliche Aufsichtsverfahren durchgeführt werden. In dem weiteren Schreiben vom 19.02.2002 wies die Antragsgegnerin auf die Unzulässigkeit der Kostenbeteiligung für Medikamente hin, die über das Internet und/über den Versandhandel bezogen würden. Die Antragstellerin habe innerhalb von drei Wochen nach Erhalt dieses Schreibens zu bestätigen, dass sie den gegen das AMG verstoßenden Versandhandel von Medikamenten künftig nicht mehr fördere und insbesondere keine Kosten für über den Versandhandel bezogene apothekenpflichtige Medikamente erstatte. Sollte bis zu diesem Zeitpunkt die Erklärung nicht oder nicht vollständig vorliegen, würde ein Verpflichtungsbescheid erlassen, der inhaltlich dem Beratungsschreiben entspreche. Die Antragstellerin müsse auch damit rechnen, dass die sofortige Vollziehung des Verpflichtungsbescheides angeordnet würde.

Die Antragstellerin entgegnete mit dem Schreiben vom 07.03. 2002, dass die Antragsgegnerin sich im Widerspruch zu der ständigen Rechtsprechung des EuGH und der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland im Schreiben vom 21.09.2001 an die Europäische Kommission befinde.

Die Antragsgegnerin erließ am 08.05.2002 einen Bescheid, in dem sie die Antragstellerin verpflichtete, "I. Es zu unterlassen, ihre Versicherten auf die Möglichkeit des Bezuges von apothekenpflichtigen Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung hinzuweisen, die im Wege des Versandhandels durch fernmündliche, schriftliche oder Bestellung im Internet erworben werden, II. Für ihre Versicherten Kosten für apothekenpflichtige Arzneimittel, die über den Versandhandel erworben wurden, weder ganz noch teilweise zu tragen." Es wurde zugleich die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet. In der Begründung gab die Antragsgegnerin an, der Bezug der Arzneimittel über die niederländische Internetapotheke verstoße gegen das Versandhandelsverbot des AMG. Die Antragstellerin sei verpflichtet, den Versandhandel von Medikamenten künftig nicht mehr zu fördern und insbesondere keine Kosten mehr für über den Versandhandel im Inland bezogene apothekenpflichtige Medikamente zu tragen. Der starke Wettbewerb zwischen den Kassen und die mit dem Versandhandel aus dem Ausland einhergehenden finanziellen Vorteile für Versicherte und Kassen geböten es, wegen der damit verbundenen weiten Auswirkungen im gesamten Kassenbereich gegen Rechtsverstöße einzuschreiten. Die sofortige Vollziehung des Bescheides werde angeordnet, da ein öffentliches Interesse an der sofortigen Beendigung der rechtswidrigen Leistungspraxis bestehe. Das AMG verbiete nämlich das berufs- und gewerbsmäßige In-den-Verkehr-bringen von Arzneimitteln für den Endverbraucher. Wegen Haftungsfragen und der fehlenden Unterscheidung zwischen seriösen und nicht seriösen Anbietern liege eine Gefährdung durch die Anbieter insgesamt vor. Darüber hinaus bestehe auch ein öffentlichen Interesse an einem fairen Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen.

Die Antragstellerin hat hiergegen beim Sozialgericht München (SG) am 06.06.2001 Klage erhoben und zugleich den Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Verpflichtungsbescheides vom 08.05.2002 gestellt. Sie hat geltend gemacht, es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verpflichtungsbescheides und es lägen keine überwiegenden öffentlichen Interessen am Sofortvollzug aufgrund der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vor. Ihre Versicherten würden bei dem Bezug von Arzneimitteln in der niederländischen Internetapotheke ausreichend beraten. Nahezu alle gesetzlichen Krankenkassen würden die Kosten der von dieser Apotheke bezogenen Arzneimittel erstatten. Gegenüber den landesunmittelbaren Krankenkassen sei bisher ein Verpflichtungsbescheid nicht ergangen. Wenn die Erstattungspraxis der anderen Krankenkassen möglich sei, müsse die Antragstellerin befürchten, dass sich viele bei ihr Versicherte anderen Krankenkassen zuwenden würden. Ferner müsse sie damit rechnen, dass sie von ihren Versicherten mit Klagen überzogen würde, falls sie eine Kostenübernahme für den Bezug von Arzneimitteln über die niederländische Internetapotheke ablehne. Das Versandhandelsverbot als Grundlage für die Untersagung der Kostenübernahme für aus dem EG-Ausland bezogene Arzneimittel verstoße gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht. Solange das Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH aufgrund der Vorlage des Landgerichts Frankfurt/Main vom 10.08.2001 nicht entschieden sei, müsse das Ergebnis eines solchen Vorabentscheidungsersuchens auch auf Rechtsverhältnisse angewendet werden, die bereits vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden seien. Um die praktische Wirksamkeit des vom LG Frankfurt/Main vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens nicht im Vorhinein zu untergraben, dürfe der grenzüberschreitende Arzneimittelversand durch Apotheken anderen Mitgliedstaaten bis zur Entscheidung des EuGH nicht durch die grenzüberschreitende Warentransaktion vereitelnde Blockaden auf der Kostenübernahmeebene unmöglich gemacht werden. Auch die Behauptung der Antragsgegnerin, im Internet sei keine Unterscheidung zwischen seriösen und nicht seriösen Apotheken möglich, sei unzutreffend, da die sichere Identifizierung von Bestell-Websites seriöser, zugelassener Apotheken im Internet insbesondere durch die Regelungen der inhaltlichen Anforderungen an die Websites in der Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr (E-Commerce-Richtlinie) gewährleistet sei.

In der Klageschrift hat die Antragstellerin außerdem einen Verstoß gegen das AMG verneint und die Auffassung vertreten, das Versandhandelsverbot verstoße gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs, ohne dass dies durch Ausnahmen für bestimmte Einfuhrbeschränkungen gerechtfertigt sei. Der Bescheid vom 08.05.2002 sei auch ermessensfehlerhaft zustande gekommen, da er die für den Bezug über die Internetapotheke sprechenden Gründe nicht berücksichtige. Fast alle gesetzlichen Krankenkassen übernähmen die Kosten für den Arzneimittelbezug über die niederländische Internetapotheke. Da die Aufsichtsbehörden der Länder dagegen nicht einschreiten würden, erleide sie einen Wettbewerbsnachteil.

Die Antragsgegnerin hat sich hierzu mit Schriftsatz vom 26.06. 2002 geäußert und ein weiteres Mal auf das Verbot des Versandhandels nach dem AMG sowie das überwiegende öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Bescheides wegen der Gesundheitsgefährdung für den Verbraucher und die Verletzung der Arzneimittelsicherheit hingewiesen.

Das SG hat mit Beschluss vom 12.07.2002 den Antrag auf eine einstweilige Anordnung abgelehnt. Es hat zur Begründung ausgeführt, der Bescheid vom 08.05.2002 sei formell und materiell rechtmäßig. Er verstoße nicht gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs, da das Versandhandelsverbot von Arzneimitteln aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sei. Aus Gründen des Gesundheits- und Verbraucherschutzes sei die Anordnung des Sofortvollzugs rechtmäßig. Das SG hat im Übrigen auf den Bescheid vom 08.05.2002 Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 25.07.2002, mit der sie wieder einen Verstoß gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs nach dem EG-Vertrag sowie eine Missachtung der Entscheidungen des EuGH rügt. Das Versandhandelsverbot wirke wie eine Marktzugangssperre, da ausländischen Apotheken nicht gestattet sei, neue Apotheken in Deutschland zu gründen. Diese Einschränkung sei nicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt, zumal bei Bestellungen eine qualifizierte Beratung und Kontrolle durch die niederländische Apotheke stattfinde. Im Jahre 2001 seien von ihr 1.765,00 DM durch die Belieferung ihrer Versicherten durch "D." eingespart worden.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Die Antragstellerin macht am 06.08.2002 schließlich geltend, das AMG gestatte die Einfuhr von Arzneimitteln aus dem EU-Ausland für den mengenmäßig üblichen persönlichen Bedarf, die ohne gewerbsmäßige oder berufsmäßige Vermittlung an den Versicherten gelangen. Die Antragsgegnerin verwehre mit dem Hinweis auf das Versandhandelsverbot der niederländischen Apotheke den Marktzugang im Inland. Da durch diese Apotheke eine qualifizierte Beratung und Kontrolle sichergestellt sei, stünden dem Arzneimittelversand keine tragfähigen Gründe des Gesundheitsschutzes entgegen.

Sie beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts München vom 12.07.2002 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 08.05.2002 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie beruft sich mit Schriftsatz vom 12.08.2002 im Wesentlichen auf das Versandhandelsverbot des AMG, das mit Europäischem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren sei.

Beigezogen wurden die Akten des SG, auf deren Inhalt im Übrigen Bezug genommen wird.

II.

Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat, ist zulässig (§§ 172, 173, 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Beschwerde der Antragstellerin ist begründet.

Der Senat setzt gemäß § 86b Abs.1 Nr.2 SGG i.d.F. des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17.08.2001 (BGBl.I S.2144) die sofortige Vollziehung des Bescheides des Antragsgegnerin vom 08.05.2002 aus, da der Bescheid aus formellen Gründen rechtswidrig ist. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wird damit hergestellt (§ 86a Abs.2 Satz 2 SGG).

Nach diesen gesetzlichen Vorschriften kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch oder die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Rechtsgrundlage des Bescheides ist § 89 Abs.1 Sozialgesetzbuch IV. Wird danach durch das Handeln oder Unterlassen eines Versicherungsträgers das Recht verletzt, soll die Aufsichtsbehörde zunächst beratend darauf hinwirken, dass der Versicherungsträger die Rechtsverletzung behebt. Kommt der Versicherungsträger dem innerhalb angemessener Frist nicht nach, kann die Aufsichtsbehörde den Versicherungsträger verpflichten, die Rechtsverletzung zu beheben.

Nach § 86a Abs.1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt unter anderem nach § 86a Abs.2 Nr.5 SGG in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet. Danach steht nicht nur der Erlass des Verpflichtungsbescheides, sondern auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Ermessen der Behörde. Auch das Ermessen hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehung muss pflichtgemäß ausgeübt werden. Da § 86a Abs.1, 2 SGG dem § 80 Abs.1, 2, 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nachgebildet ist, sind die dort geltenden Rechtsgrundsätze zu übernehmen. Ebenso wie bei § 80 Abs.2 Nr.4 VwGO (Anordnung der sofortigen Vollziehung) muss angenommen werden, dass wegen des Gebotes eines effizienten Rechtsschutzes (Art.19 Abs.4 Grundgesetz - GG -) die aufschiebende Wirkung die Regel, die sofortige Vollziehung die Ausnahme bleibt.

Die Verpflichtung zur Ermessensausübung bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung gebietet, dass das besondere öffentliche Interesse mit dem Interesse des Betroffenen abgewogen und begründet wird (§ 35 Abs.1 Satz 3 Sozialgesetzbuch X - SGB X). Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die sofortige Vollziehung angeordnet und dann ein Rechtsbehelf Erfolg haben würde gegenüber den Nachteilen, die entstehen, wenn die sofortige Vollziehung nicht angeordnet und ein Rechtsbehelf keinen Erfolg haben würde. Ein Sofortvollzug kann nur angeordnet werden, wenn sonst der Allgemeinheit erhebliche Gefahren oder Nachteile drohen würden. In die Abwägung ist auch einzubeziehen, ob und inwieweit durch die Vollziehung irreparable Folgen entstehen.

Die besondere Begründungspflicht für die Anordnung der sofortigen Vollziehung hat eine doppelte Zielrichtung. Sie erfüllt zum einen ein formelles Begründungsgebot, zum anderen sucht sie die materielle Rechtmäßigkeit der getroffenen Maßnahme zu sichern. Die Begründungspflicht ist somit eine formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes. Ob die Erwägungen der Behörde auch inhaltlich zutreffen, ist in diesem Zusammenhang unbeachtlich. Die Begründungspflicht für die Anordnung der sofortigen Vollziehung hat nach allgemeiner Meinung drei Funktionen: Die Behörde selbst wird angehalten, sich dem Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung klar zu machen. Diese - dem Zitiergebot des Art.19 Abs.1 Satz 2 GG vergleichbare - Warnfunktion soll zu einer sorgfältigen Prüfung des Interesses an der sofortigen Vollziehung veranlassen. Der Betroffene wird über die Gründe, die für die behördliche Entscheidung maßgebend gewesen sind, unterrichtet. Er kann danach die Erfolgsaussichten eines Aussetzungsantrages abschätzen. Dem Gericht erlaubt die Kenntnis der verwaltungsbehördlichen Erwägungen für die sofortige Vollziehung eine ordnungsgemäße Rechtskontrolle.

Die Begründung der sofortigen Vollziehung verlangt eine auf die Umstände des konkreten Falles bezogene Darlegung des besonderen Interesses gerade an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes. Auch wenn diese Begründung knapp gehalten sein kann, muss jedoch hervorgehen, dass und weshalb die Verwaltung im konkreten Fall dem sofortigen Vollziehbarkeitsinteresse den Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen einräumt. Es wird daher die Darlegung der bei der Ermessensausübung geforderten Abwägung der für die sofortige Vollziehung und für das Aufschubinteresse sprechenden Gründe verlangt (Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80, Rn.174 f., Meyer-Ladewig, SGG, § 86a, Rn.18 f.; Kopp, VwGO, § 80 Rn.63 mit weiteren Nachweisen).

Im vorliegenden Fall hat es die Antragsgegnerin unterlassen, in der Begründung des Bescheides ausreichend darzulegen, weshalb ein besonderes öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug ausnahmsweise vorliegt. Sie hat auch nicht die Interessen der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung mit ihrer Rechtsansicht genügend abgewogen.

Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung ist nicht identisch mit dem Interesse am Erlass des Verwaltungsakts selbst, da die sofortige Vollziehung eine besondere Dringlich- keit voraussetzt. Es werden also besondere Gründe für die alsbaldige, vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgende Verwirklichung des Verwaltungsakts gefordert. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat daher in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen können, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dies muss jedoch die Ausnahme bleiben. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes ist daher nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (BVerfG vom 25.01.1996, 2 BvR 2718/95 mit weiteren Nachweisen).

Das Sozialgericht hat dies mit einem offensichtlichen Widerspruch zum AMG und Gesundheitsschutz angenommen. Diesem Gesichtspunkt misst der Senat im vorliegenden Fall keine besondere Bedeutung bei, weil es sich nicht um Angebote zweifelhafter Präparate handelt, sondern um vertragsärztlich verordnete Medikamente. Eine Verletzung geltenden Rechts, die sofortiges Unterbinden erfordert, ist angesichts der noch nicht geklärten Rechtslage des Verhältnisses der Regelung des § 43 Abs.1 Satz 1 AMG (Versandverbot) zu § 73 Abs.2 Nr.6a AMG (Erlaubnis des Arztneimittelbezuges zum persönlichen Gebrauch) nicht offenkundig.

Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin für die Anordnung der sofortigen Vollziehung jedoch nur die Gründe angegeben, auf die sich die angenommene Rechtsverletzung im Verpflichtungsbescheid stützt, nämlich das Versandhandelsverbot für Arzneimittel, Haftungsfragen, die Unfähigkeit der Versicherten, zwischen seriösen und nicht seriösen Internetapotheken zu unterscheiden und der faire Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen. Besondere Gründe, die den Sofortvollzug oder Aufsichtsmaßnahme rechtfertigen, hat sie nicht dargetan. Die Antragsgegnerin hat außerdem die im vorausgegangenen Schriftwechsel vorgetragenen Interessen der Antragstellerin (z.B. deren Schreiben vom 07.03. 2002) überhaupt nicht berücksichtigt. Die Antragstellerin hat hier ihre Verpflichtung zur Aufklärung der Versicherten (§ 13 Sozialgesetzbuch I), die Möglichkeit der Einsparung von Arzneimittelkosten durch den Bezug der Medikamente über die niederländische Internetapotheke (Wirtschaftlichkeitsgebot, § 12 Abs.1 Sozialgesetzbuch V) angegeben. Ferner hat sie unter Bezugnahme auf das Schreiben der Bundesregierung vom 21.09.2001 an die EU-Kommission und die Rechtsprechung des EuGH den Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts, insbesondere den Grundsatz des freien Warenverkehrs, geltend gemacht.

Da die Antragsgegnerin hierauf nicht eingegangen ist, fehlt es auch an der gebotenen Abwägung der dem zusätzlichen öffentlichen Interesse an dem sofortigen Vollzug und dem Aufschubinteresse der Antragstellerin dienenden Gründe.

Der Begründungsmangel führt zur Rechtswidrigkeit der Vollziehbarkeitsanordnung. Der Begründungsmangel kann nicht mit heilender Wirkung nachgeholt werden, da dies dem Schutzzweck des § 86a Abs.2 Nr.5 SGG widersprechen würde und in der Praxis zu einer Aushöhlung führen könnte. Insbesondere lässt sich eine Heilung nicht auf § 41 Abs.1 Nr.2 Sozialgesetzbuch X stützen, da es sich bei der Vollziehungsanordnung nicht um einen Verwaltungsakt handelt (Schoch u.a., a.a.O., Rn.179). Diese Auffassung steht auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BverfG (a.a.O.), das insoweit von der Rechtswidrigkeit der Verwaltungsentscheidung ausgeht. Damit kann im vorliegenden Fall offen bleiben, ob die Antragsgegnerin mit dem Schreiben vom 26.06.2002 die erforderliche Begründung nachgeholt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs.1 VwGO. Die Antragsgegnerin hat somit die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu tragen. Der Streitwert beträgt 4.000,00 EUR (§ 197a Abs.1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 13 Abs.1, 20 Abs.3 Gerichtskostengesetz).

Die Entscheidung kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved