L 2 U 358/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 U 18/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 358/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Modistin, die 16 Jahre in diesem Beruf tätig war und dabei mit kanzerogenen Aminen zu tun hatte und später an Blasenkrebs erkrankt, hat Anspruch auf Entschädigung wegen einer BK i.S.d. Nr.1302 der Anlage zur BKVO
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. Oktober 1996 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. September 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 1996 verurteilt, die bei der Klägerin bestehende Krebserkrankung der Blase durch aromatische Amine als Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage zur BKVO zu entschädigen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am ...1936 geborene Klägerin hat von 1950 bis 1953 den Beruf der Modistin erlernt und war anschließend bis 1956 als Modistin beschäftigt. Von 1956 bis 1962 arbeitete sie in einem Textilbetrieb als Näherin; von 1962 bis 1980 war sie nicht erwerbstätig. Von 1980 bis 1990 war die Klägerin wieder als Modistin beschäftigt. Vom September 1991 bis 31.07.1994 arbeitete sie als Maschinennäherin bei einer Büromöbelfirma.

Auf ihre Mitteilung vom 03.05.1994 sowie das Attest des Urologen Dr ... vom 22.07.1994, das bei der Klägerin vorliegende rezidivierende Urothel-CA der Harnblase sei auf den regelmäßigen beruflichen Kontakt mit kanzerogenen Stoffen zurückzuführen, befragte die Beklagte die Klägerin zu den verwendeten Arbeitsstoffen und zog Unterlagen über die Behandlung im Klinikum St. Marien, Amberg, durch Prof.Dr ... vom 03.02.1993 bis 17.02.1993, 14.09.1993 bis 22.09.1993 und 05.01.1994 bis 14.01. 1994 bei. Weiter zog sie Berichte der AOK Amberg, der LVA Niederbayern-Oberpfalz und des praktischen Arztes Dr ... bei. Berücksichtigt wurden ferner Ermittlungen, die die Leder-BG bezüglich der Tätigkeit als Näherin bei der Firma ... Büromöbel GmbH durchgeführt hatte: Die Klägerin habe als Näherin Umgang mit Textilien, Leder und Kunstleder gehabt. Kontakt mit Sprühklebern, Verdünnungen, Lösungsmitteln oder Fleckenwasser habe nicht stattgefunden, da diese Arbeitsvorgänge in getrennten Räumen vorgenommen worden seien. Weiter wurde die Zusammensetzung der verwendeten Sprühappreturen und der dazugehörigen Verdünnung festgestellt. Die Firma ... machte Angaben zu den verwendeten Stoffen Trichlorethylen, Toluol und dem verwendeten Knetholz.

Der Technische Aufsichtsdienst der Leder-BG wies mit Schreiben vom 24.02.1995 darauf hin, dass die Klägerin während der Tätigkeit bei der Firma ... keinerlei Aufgaben im Bereich der Klebstoffverarbeitung gehabt habe. Ihre Tätigkeit habe ausschließlich in den Räumen der Näherei stattgefunden, die 20 m entfernt gewesen sei.

Die Gewerbeärztin Dr ... vertrat im Gutachten vom 24.05.1995 die Auffassung, die medizinischen Voraussetzungen zur Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr.1301 seien nicht gegeben. Es ergäben sich keine Hinweise darauf, dass die Klägerin am Arbeitsplatz Substanzen ausgesetzt gewesen sei, die im Verdacht stünden, Tumore der Harnwege zu verursachen.

Mit Bescheid vom 19.09.1995 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, eine Berufskrankheit nach Nr.1301 bzw. einer anderen Ziffer der Anlage 1 zur BKVO liege bei der Klägerin nicht vor. Sie habe als Modistin keinerlei Umgang mit krebserzeugenden Stoffen gehabt. Lediglich das als Fleckenwasser verwendete Trichlorethylen sei als mindergiftig und krebsverdächtig eingestuft. Die Tätigkeit als Maschinennäherin in der Firma ... sei ebenfalls nicht geeignet gewesen, die Harnblasenerkrankung zu verursachen.

Mit Widerspruch vom 04.10.1995 wandte die Klägerin ein, insbesondere die früher verwendeten Sprühappreturen seien gefährdend gewesen und beim Dämpfen und Bügeln eingeatmet worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.01.1996 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Aus den Unterlagen über die Zusammensetzung der Flüssig- und Sprühappreturen, der Verdünnungen, Fleckenwasser, Formenspachtel, Kürschnermilch und Lederweiche gingen keine krebserzeugenden Inhaltsstoffe hervor. Lediglich Trichlorethylen sei als krebsverdächtig eingestuft. Ein ursächlicher Zusammenhang der Harnblasenerkrankung mit der früheren Tätigkeit als Modistin bzw. Maschinennäherin sei nicht hinreichend wahrscheinlich.

Mit der Klage vom 22.01.1996 hat die Klägerin eingewandt, viele der Mittel, mit denen sie als Modistin gearbeitet habe, seien eingezogen worden, weil sie gesundheitsschädlich gewesen seien.

Mit Urteil vom 16.10.1996 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei keiner relevanten Belastung durch Substanzen ausgesetzt gewesen, die im Verdacht stünden, Tumore der Harnwege zu verursachen. Die Arbeitsstoffe hätten keine Krebs erzeugende Wirkung bis auf Trichlorethylen, das krebsverdächtig, aber nicht Krebs verursachend sei. Während der Tätigkeit bei der Firma ... habe die Klägerin keinen direkten Kontakt zu Verdünnungen, Lösungsmitteln oder Fleckenwasser gehabt.

Hiergegen richtet sich die Berufung vom 12.11.1996, zu deren Begründung die Klägerin vorträgt, sie habe als Modistin und Maschinennäherin ständig Umgang mit gesundheitsschädigenden Stoffen gehabt und führe ihre Krebserkrankung auf diese Substanzen zurück.

Der vom Senat zum Sachverständigen ernannte Toxikologe Prof. Dr ... führt im Gutachten vom 14.07.1998 aus, in den Hutmachereien, in denen die Klägerin gearbeitet habe, seien gefärbte Rohlinge verwendet worden. In Deutschland werde seit einigen Jahren auf die Verwendung von Azofarbstoffen verzichtet, dagegen werde im Ausland noch damit gearbeitet. Somit könne davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ungeschützt Azofarbstoffen ausgesetzt gewesen sei. Die als kanzerogen geltenden Amine könnten in den sogenannten Azofarbstoffen enthalten sein, da sie für die technische Herstellung der Säureazofarbstoffe und Disazofarbstoffe verwendet würden. Im lebenden Organismus könnten Azofarbstoffe reduziert werden und dabei aromatische Amine freisetzen. Die Resorption erfolge rasch über Haut, Atemwege und Gastrointestinaltrakt. Ebenso erfolge die Resorption von Dampf über die Haut. Bei Aufnahme solcher Azofarbstoffe in den Organismus könne man von einer biologischen Wirkung der freigesetzten aromatischen Amine ausgehen, z.B. einer kanzerogenen Wirkung von metabolisch gebildetem Benzidin. Die aus Azofarbstoffen biologisch freigesetzten kanzerogenen aromatischen Amine könnten nach langer Latenz bis zu 40 Jahren eine Krebserkrankung der Harnblase und Harnwege hervorrufen. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin Kontakt mit Azofarbstoffen gehabt habe, daher sei es wahrscheinlich, dass das Harnblasenkarzinom durch die kanzerogenen Inhaltsstoffe von Azofarbstoffen ausgelöst worden sei.

Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten führt in der Stellungnahme vom 03.09.1998 hierzu aus, zwar habe die Klägerin Kontakt mit Azofarbstoffen gehabt, doch bestehe durch die Verwendung gefärbter Hutstumpen keine hinreichend belegte Exposition gegenüber dem bei der Färbung eingesetzten Farbstoff oder dem als Ausgangsstoff für die Farbstoffsynthese verwendeten Amin. Auch die beim Dämpfen auftretenden Wasserdämpfe seien nicht geeignet, Farbstoffe in die Atemluft zu transportieren. Die Farbstoffe selbst bzw. der färbende Abrieb vom Filz könnten nicht durch die Haut aufgenommen werden. Eine Exposition könne nur unterstellt werden, wenn hinreichende Staubmengen eingeatmet worden seien. Eine derartige Staubexposition bestehe aber im Arbeitsbereich einer Modistin nicht. Denn nur, wenn die Staubmengen oral aufgenommen und der anhaftende Farbstoff im Verdauungstrakt reduktiv gespalten worden sei, könne von einer ausreichenden Exposition im Sinne der BK-Nr.1301 ausgegangen werden. Die Resorption über Haut, Atemwege und Gastrointestinaltrakt bzw. von Dampf über die Haut gelte nur für die freien Amine, die aber im Arbeitsbereich der Klägerin nicht vorkämen. Somit habe ein direkter Umgang mit krebserzeugenden aromatischen Aminen bei der Berufstätigkeit der Klägerin nicht bestanden.

Der Technische Aufsichtsdienst der Lederindustrie-BG weist im Schreiben vom 15.09.1998 darauf hin, dass während der Tätigkeit als Maschinennäherin ein direkter Kontakt zu aromatischen Aminen nicht stattgefunden habe.

Anfragen bei den Grossisten für Hutstumpen, die die Arbeitgeber der Klägerin beliefert hatten, bezüglich der verwendeten Farbstoffe blieben ergebnislos.

Auf Anfrage des Senats ergänzte der Sachverständige Prof. Dr ... in der Stellungnahme vom 18.10.1999 sein Gutachten dahin, dass eine dermale Resorption von Azofarbstoffen möglich sei. Auch eine Resorption über die Atemwege und über den Gastrointestinaltrakt sei gegeben. Wenn Haut mehrere Stunden Dampf ausgesetzt sei, könne dies zu einer Beeinträchtigung der natürlichen Schutzfunktion und somit auch zur Resorption von Farbstoffen über die Haut führen. Nach Kontakt mit Azofarbstoffen komme es zu einem erhöhten Risiko, an Blasenkrebs zu erkranken. Azofarbstoffe könnten auch ohne Wasserdämpfe mit der Atemluft resorbiert werden. In handwerklichen Berufen Tätige, die mit Produkten, die mit Azofarbstoffen gefärbt seien, arbeiteten, zeigten ein erhöhtes Auftreten von Blasenkrebs. Es sei davon auszugehen, dass Hautkontakt mit den gefärbten Materialien bestanden habe.

Die Beklagte wendet dagegen mit Schreiben vom 23.11.1999 ein, die arbeitstechnischen Voraussetzungen hätten nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden können. Daher könne die Anerkennung einer Berufskrankheit weiterhin nicht erfolgen. Aus den Ausführungen von Prof.Dr ... sei der Nachweis einer Berufskrankheit nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu führen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16.10.1996 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.09.1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.1996 zu verurteilen, bei ihr den Blasentumor als Berufskrankheit nach Nr.1301 der Anlage zur BKVO anzuerkennen und entsprechend zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16.10.1996 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und sachlich begründet.

Die Entscheidung richtet sich nach den bis 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO, da der streitige Versicherungsfall vor dem 01.01.1997 eingetreten ist und über einen daraus resultierenden Leistungsanspruch vor dem 01.01.1997 zu entscheiden gewesen wäre (§§ 212, 214 Abs.3 SGB VII in Verbindung mit § 580 RVO).

Gemäß § 551 Abs.1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch eine Berufskrankheit. Maßgeblich ist seit 01.12.1997 die Berufskrankheitenverordnung (BKVO) vom 31.10.1997 (BGBl.I S.26, 23). Als Berufskrankheit kommen grundsätzlich nur solche Erkrnakungen in Betracht, die von der Bundesregierung als Berufskrankheiten bezeichnet und in die BKVO aufgenommen worden sind (Listenprinzip). Die Krankheit muss durch eine versicherte Tätigkeit verursacht oder wesentlich verschlimmert worden sein, d.h. die Gefährdung durch schädigende Einwirkungen muss ursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen sein und die Einwirkung muss die Krankheit verursacht haben (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 9 SGB VII Rdnr.3). Alle rechtserheblichen Tatsachen müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen (BSGE 45, 285).

Zu Unrecht hat es die Beklagte abgelehnt, eine Berufskrankheit anzuerkennen. Der ärztliche Sachverständige Prof.Dr ... hat nach ambulanter Untersuchung der Klägerin und unter Berücksichtigung der Aktenunterlagen im Gutachten vom 14.07.1998 und der ergänzenden Stellungnahme vom 18.10.1999 überzeugend ausgeführt, dass die Blasenkrebserkrankung der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit auf die Berufstätigkeit zurückzuführen ist.

Unstreitig liegt bei der Klägerin eine Blasenkrebserkrankung, die 1993 und 1994 operativ behandelt werden musste, vor. Nach der zweiten Rezidiventfernung 1994 und einer Chemotherapie haben sich keine weiteren Rezidive oder Metastasen gebildet.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist diese Erkrankung aufgrund der Belastung durch die Farbstoffe, mit denen die Klägerin im Arbeitsbereich zu tun hatte und die in diesen enthaltenen Krebserregenden Substanzen verursacht worden.

Dies steht zur Überzeugung des Senats fest aufgrund des Krankheitsbildes der Klägerin, des Kontaktes mit Azofarbstoffen und den in ihnen enthaltenen kanzerogenen aromatischen Aminen.

Die Vorgänge, die zur Auslösung und zur Entwicklung eines Tumors führen, können, ebenso wie der Zustand des wachsenden Tumors, bisher molekularbiologisch nur unzulänglich definiert werden. Tumorzellen können die Gefäße durch aktiven Einbruch eröffnen und nach Ablösung aus dem Verband sich mit dem Blut oder Lymphstrom fortschwemmen lassen. Die chemische Karzinogenese ist in weiten Bereichen ungeklärt. Häufig liegt einer Krebserkrankung ein multifaktorielles Geschehen zugrunde. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass das individuelle Krebserkrankungsrisiko abhängig ist von der krebserzeugenden Exposition und von Faktoren der Disposition. Genetische Störungen wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Tumoren des Menschen nachgewiesen. Jedoch reicht eine genetische Abnormalität nicht aus, um ein unkontrolliertes Wachstum zu verursachen. In diesen Fällen müssen zwei oder mehrere Onkogene kooperieren. Dies bedeutet, dass Krebs ein Mehrstufenvorgang ist. Unterschiedliche pathogenetische Schritte sind erforderlich, ehe das unkontrollierte maligne Wachstum einsetzt. Es werden drei Gruppen krebserzeugender Faktoren unterschieden, chemische, physikalische sowie Viren. Zu den Stoffen, die bei Menschen erfahrungsgemäß bösartige Geschwulste zu verursachen vermögen, gehören Benzidin und seine Salze. Bösartige Geschwulste, ausgelöst durch Benzidin und seine Salze, können nach einer Expositionszeit von 2 bis 37 Jahren auftreten, Latenzzeiten wurden von 4 bis 30 und von 7 bis 49 Jahren festgehalten. Blasenkrebs kann als Spontankrebs auftreten, vor allem bei Männern im Alter von 65 bis 75 Jahren. Ein Auftreten bei einer Frau und im Alter von 57 Jahren erweckt den Verdacht einer berufsbedingten Erkrankung (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl,.1998, S.1049 ff.).

Neben den bekannten Bereichen der chemischen Industrie, in denen aromatische Amine hergestellt oder zur Synthese von Farbstoffen oder anderen Produkten eingesetzt wurden, treten Blasentumore bei Umgang mit Azofarbstoffen, also bei der Entkuppelung von Farbstoffen auf der Basis von Benzidin auf (Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts Band 2, § 39 Rdnr.68). Der als Ursache der Krebserkrankung angeschuldigte Gefahrstoff, nämlich die in den Azofarbstoffen enthaltenen Amine, können bösartige Neubildungen bei Menschen verursachen. Der Nachweis der Kanzerogenität ist durch epidemiologische Erhebungen bei entsprechend belasteten Kollektiven gesichert. Dieser Stoff war am Arbeitsplatz der Klägerin über einen langen Zeitraum vorhanden und hat damit auf ihren Körper eingewirkt. Die Organlokalisation des Krebsleidens stimmt, so Prof.Dr ..., mit den arbeitsmedizinischen Erfahrungen überein. Außerberufliche Faktoren der Krebsentstehung sind im Fall der Klägerin nicht bekannt. Azofarbstoffe wurden, dies hat auch die Beklagte nicht bestritten, bis vor einigen Jahren in Deutschland zum Färben der Hutstumpen verwendet, im Ausland wird auch jetzt noch damit gearbeitet. Wie die Firma ..., die die Arbeitgeber der Klägerin belieferte, mitgeteilt hat, wurden Hutstumpen aus dem In- und Ausland bezogen. Demnach hatte die Klägerin Kontakt mit Azofarbstoffen, da sie während ihrer langjährigen Tätigkeit als Modistin von 1950 bis 1956 und von 1980 bis 1990 Hutstumpen bearbeitete. Sie hat dazu angegeben, dass sich während der Bearbeitung Farbe löste und sie verfärbte Hände bekam. Die Arbeiten wurden ohne Handschuhe und im geschlossenen Raum ohne Abzug durchgeführt.

Dabei ist, so Prof.Dr ..., davon auszugehen, dass Azofarbstoffe über Haut, Atemwege und Gastrointestinaltrakt aufgenommen wurden. Azofarbstoffe sind wasserlöslich und daher gut bioverfügbar. Sie enthalten als kanzerogen geltenden Stoffe, nämlich die Amine 2-Naphtylamin, Benzidin, 4. Aminodiphenyl und 4-Chlor-O-toluidin. Diese Stoffe sind als eindeutig krebserregend ausgewiesene Arbeitsstoffe in die MAK-Liste eingeordnet. Zwar sind die Azofarbstoffe als intakte Farbstoffmoleküle biologisch inaktiv. Prof.Dr ... hat aber betont, dass sie im lebenden Organismus reduziert werden und dabei aromatische Amine freisetzen, die als Kupplungskomponenten bei der Herstellung der Farbstoffe benutzt werden.

Bei der Aufnahme der Azofarbstoffe in den Organismus ist von einer biologischen Wirkung der freigesetzten aromatischen Amine auszugehen, z.B. der kanzerogenen Wirkung des metabolisch gebildeten Benzidins. Die aus den Azofarbstoffen biologisch freigesetzten kanzerogenen aromatischen Amine können nach langer Latenz bis zu 40 Jahren eine Krebserkrankung der Harnblase und Harnwege hervorrufen. Insofern ist davon auszugehen, dass insbesondere die Tätigkeit von 1950 bis 1956, als auch in Deutschland noch Azofarbstoffe verwendet wurden, krankheitsverursachend gewirkt hat. Aber auch in der Zeit von 1980 bis 1990 war die Klägerin, zumindest soweit ausländische Produkte verwendet wurden, den krebserregenden Substanzen ausgesetzt.

Dass eine Resorption über die Haut möglich ist, ergibt sich nach der überzeugenden Ansicht von Prof.Dr ... schon daraus, dass Berufsgruppen, die bei der Ausübung ihres Berufs häufig in Kontakt mit Materialien, die mit Azofarbstoffen gefärbt sind, kommen, vermehrt an Blasenkrebs erkranken und dies selbst Jahrzehnte nach der Exposition. Auch die Möglichkeit der Resorption über Atemwege und Gastrointestinaltrakt ist, so Prof.Dr ..., nachgewiesen. Die regelmäßige Aufnahme von Azofarbstoffen über die Haut durch die verschmutzten Hände, über Wasserdampf mit der Atemluft sowie über Staub bringt ein erheblich erhöhtes Risiko mit sich, das zu der Krebserkrankung geführt hat.

Prof.Dr ... Darlegungen zur karzinogenen Wirkung der aromatischen Amine, die in Azofarbstoffen enthalten sind, werden bestätigt durch die Ausführungen von Dr ... und Prof. Dr. Dr ... vom Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund, Abt. Toxikologie und Arbeitsmedizin (Berufliche Exposition gegenüber Azofarbstoffen und Harnblasen-Risiko, Zbl. Arbeitsmed.38 (1988) 310 - 321). Sie erläutern, dass der kanzerogene Effekt der Azofarbstoffe in vivo die Konsequenz der azoreduktiven Spaltung mit späterer metabolischer Aktivierung ist. Auch bestätigen die Verfasser, dass bis in die letzten Jahre zahlreiche Benzidin-Azofarbstoffe in Frankreich, Polen, Indien und Korea verwendet wurden. Somit konnten, worauf auch Prof.Dr ... hingewiesen hat, nach der Einstellung der Herstellung von Azofarbstoffen auf Benzidinbasis 1971 in Deutschland solche Farbstoffe vom Ausland eingeführt und weiter industriell verwendet werden. In Übereinstimmung mit Prof. Dr ... betonen die Verfasser, dass bei Berufsgruppen, die den Azofarbstoffen über Jahre ausgesetzt waren, ein deutlich höheres Risiko, an Blasenkrebs zu erkranken, besteht. Als Berufsgruppen mit erhöhtem Blasenkarzinom-Risiko werden u.a. Schuster und Schneider genannt. Die Verfasser weisen auch darauf hin, daß Azofarbstoffe in der Färbung von mannigfachen Materialien wie Baumwolle, Wolle, Seide, Nylon, Polyacryl sowie von Textilien, Leder und Pelzen verwendet werden.

Nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis kann der Blasenkrebs durch berufliche Einwirkung, nämlich durch den Kontakt mit aromatischen Aminen verursacht werden. Diese Voraussetzung ist im Fall der Klägerin erfüllt. Zwar ist ein exakter Beweis für die berufliche Verursachung nicht zu erbringen. Aber es sprechen mehr Gründe für einen Zusammenhang zwischen Gefahrstoff und der bösartigen Erkrankung als dagegen (vgl. hierzu Schoenberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O., S.1069 f). Bei der Klägerin ist eine Berufskrankheit nach Nr.1301 der Anlage zur BKVO gegeben.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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