L 16 B 797/06 R

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 25 R 1235/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 B 797/06 R
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 28. August 2006 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des beim Sozialgericht München anhängig gewesenen Klageverfahrens S 25 R 1235/06 sowie die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Der von dem 1946 geborenen Kläger und Beschwerdeführer, serbischer Staatsangehöriger, erhobene Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid der Beklagten und Beschwerdegegnerin vom 09.01.2003 wurde erst nach Erhebung einer erfolgreichen Untätigkeitsklage, bei der die Beschwerdegegnerin die außergerichtlichen Kosten übernahm, mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2004 verbeschieden. Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht München wurde am 11.05.2005 mit einem gerichtlichen Überprüfungsvergleich hinsichtlich der Versicherungszeiten beendet.

Mit Feststellungsbescheid vom 23.11.2005 berichtigte die Beschwerdegegnerin nach § 149 Abs. 5 Satz 2 des Sechsten Sozialgesetzbuches (SGB VI) das Entgelt für den Zeitraum von Januar bis Oktober 1993 (das Entgelt wurde von 28.547 DM auf 27.683 DM herabgesetzt).

Mit dem dagegen bei der Beschwerdegegnerin am 23.12.05 eingegangen Widerspruch machte der Beschwerdeführer geltend, dass eine Änderung der Vorschriften für die mit Bescheid vom 09.01.2003 festgestellten Zeiten ohne Auswirkung sei. In den Verfügungen vom 22. und 23. Dezember 2005 (von den Bediensteten Schmullius, Lintl und Henke) wurde die Rücknahmeentscheidung als rechtmäßig erachtet mit dem Vorschlag, dem Widerspruch nicht abzuhelfen. Die Beschwerdegegnerin teilte daraufhin dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 29.12.2005 mit, dass die Rücknahme des Feststellungsbescheides hinsichtlich des Entgelts nach § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X zulässig sei. Mit Schriftsatz vom 27.01.2006, eingegangen bei der Beschwerdegegnerin am 30.01.2006, wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass die für eine Rücknahme erforderliche 2-Jahresfrist nicht eingehalten und daher die Rücknahme rechtswidrig sei. Es wurde gebeten, nunmehr abschließend über den Widerspruch zu entscheiden.

Am 8. Februar 2006 ging die Akte bei der Rechtsmittelabteilung ein.

Am 19.12.2005 beantragte der Beschwerdeführer bei der Aus- kunfts- und Beratungsstelle der Beschwerdegegnerin die Gewährung von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres. Die von den Bearbeitern Schmullius und Rockinger von der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München GmbH und der Agentur für Arbeit München eingeholten Auskünfte gingen zuletzt bei der Beschwerdegegnerin am 01.02.2006 und in der Rechtsmittelabteilung am 09.02.2006 ein.

Am 19.04.2006 wurde der Entwurf des Abhilfebescheides für die Sitzung am 15.05.2006 gefertigt. Nach einem telefonischen Gespräch der Frau Rockinger mit der ARGE München am 24.04.2006 und einer Vertrauensschutzprüfung vom 26.04.2006 wurde die Rentenakte wegen der Anwendung des deutsch-serbischen Sozialversicherungsabkommens mit Schreiben vom 28.04.2006 an die zuständige Deutsche Rentenversicherung Niederbayern-Oberpfalz abgegeben. Dem Beschwerdeführer wurde von der Beschwerdegegnerin keine Abgabenachricht erteilt. Nach einem handschriftlichen Vermerk von H. K. verblieb die Restakte in der Rechtsmittelabteilung. Der Widerspruchsbescheid vom 15.05.2006, mit dem dem Widerspruch in vollem Umfang abgeholfen wurde, ist am 18.05.2006 zur Post gegeben worden.

Der Beschwerdeführer erhob beim Sozialgericht München mit Schriftsatz vom 28.04.2006, eingegangen am 02.05.2006, Untätigkeitsklage, weil die Beschwerdegegnerin aus nicht nachvollziehbaren Gründen über den Widerspruch noch nicht entschieden habe. Die Beschwerdegegnerin trug vor, dass der Beschwerdeführer die vorgetragene Ungewissheit über eine baldige Entscheidung des Widerspruchs durch einen Telefonanruf bei ihr beseitigen hätte können. Eine Kostenübernahme sei nicht veranlasst, weil der Rentenantrag des Klägers vom 19.12.2005 bearbeitet worden sei und die Verwaltungsakte aus diesem Grund nicht zur umgehenden Bearbeitung des Widerspruchs zur Verfügung gestanden habe. Schließlich habe der Rentenantrag an die Deutsche Rentenversicherung Niederbayern-Oberpfalz abgegeben werden müssen; dies sei dem Kläger mit Schreiben vom 28.04.2006 mitgeteilt worden.

Mit Schriftsatz vom 06.06.2006 erklärte der Beschwerdeführer die Untätigkeitsklage für erledigt und beantragte bei der Beschwerdegegnerin durch Vorlage einer Kostennote die Erstattung seiner außergerichtlichen Kosten.

Das Sozialgericht München lehnte die Erstattung der außergerichtlichen Kosten mit Beschluss vom 28. August 2006 ab, weil die Bearbeitung des vom Kläger selbst gestellten Rentenantrags vom 19.12.2005 ein hinreichender Grund im Sinn von § 88 Abs. 2 SGG sei. Die Verwaltungsakte habe nicht zur Bearbeitung des Widerspruchs im Rechtsmittelbereich zur Verfügung gestanden. Dies sei dem Kläger auch mit Schreiben vom 28.03.2006 mitgeteilt worden.

Zur Begründung der dagegen eingelegten Beschwerde hat der Beschwerdeführer vorgetragen, dass er mit Schreiben vom 27.01.2006 ausdrücklich um eine abschließende Entscheidung über seinen Widerspruch gebeten habe und von der Beschwerdegegnerin keinerlei Mitteilung - auch nicht das vom Sozialgericht in seinem Beschluss genannte Schreiben vom 28.03.2006 - erhalten habe. Eine Entscheidung über den Widerspruch wäre ohne weiteres bereits nach seinem ausdrücklichen Schreiben vom 27.01.2006 möglich gewesen.

Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akten dem Bayerischen Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172,173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie hat in der Sache auch Erfolg. Die Beschwerdegegnerin ist verpflichtet, der Beschwerdeführerin die im Verfahren vor dem Sozialgericht München entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluss, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird (§ 193 Abs. 1 SGG). Im sozialgerichtlichen Verfahren ist über die Frage der Kostenerstattung nach freiem richterlichen Ermessen unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalles sowie unter Beachtung des Gedankens der Billigkeit zu entscheiden (Rechtsgedanke des § 91a ZPO und des § 161 Abs. 2 VwGO). Dabei ist grundsätzlich auf den vermutlichen Verfahrensausgang, der nach dem zum Zeitpunkt der Erledigung vorliegenden Sach- und Streitstand zu beurteilen ist, abzustellen (vgl. BSG SozR Nr. 4 zu § 193 SGG). Auch sind die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung zu prüfen (s. etwa Meyer-Ladewig/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 193 Rdnr. 13 m.w.N.). Es ist angemessen, die Beklagte zu einer (ggf. auch teilweisen) Kostenerstattung zu verpflichten, wenn sie durch ihr Verhalten den Rechtsstreit veranlasst hat. Die teilweise oder vollständige Freistellung des Klägers von den ihm entstandenen außergerichtlichen Kosten entspricht in einem solchen Fall dem Gedanken der Billigkeit (vgl. BSGE 17,84). Ist eine Untätigkeitsklage nach Ablauf der Sperrfrist erhoben, muss die Beklagte in der Regel die außergerichtlichen Kosten des Klägers erstatten, weil dieser mit einem Bescheid vor Fristablauf rechnen durfte. Die Kosten sind jedoch dann nicht zu erstatten, wenn die Beklagte einen zureichenden Grund für die Untätigkeit hatte und diesen Grund dem Kläger mitgeteilt hat oder er ihm bekannt war. Berücksichtigt werden kann ferner, ob die Kosten durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind (so etwa Meyer-Ladewig/Leitherer, a.a.O., § 193 Rdnr. 13c).

In Anwendung dieser Grundsätze kann dem Sozialgericht hinsichtlich der Kostentragungspflicht nicht gefolgt werden. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer dessen außergerichtlichen Kosten für das Klageverfahren in vollem Umfang zu erstatten. Denn die Beschwerdegegnerin hat über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.11.2005 ohne zureichenden Grund nicht binnen angemessener Frist entschieden. Die Untätigkeitsklage wurde erst am 02.05.2006 nach Ablauf der Sperrfrist am 23.03.2006 erhoben.

Die form- und fristgerecht erhobene Untätigkeitsklage war zum Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses, d.h. des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 15.05.2006, sowohl zulässig (§ 88 Abs. 2 SGG) als auch in vollem Umfang begründet.

Ist über einen Widerspruch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist nicht entschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von drei Monaten seit Einlegung des Widerspruchs zulässig (§ 88 Abs. 1 und 2 SGG).

Die Beschwerdegegnerin hat den Widerspruch des Beschwerdeführers vom 23.12.2005 gegen den Bescheid vom 23.11.2005 ohne zureichenden Grund nicht innerhalb von drei Monaten verbeschieden. Spätestens ab dem Eingang des Widerspruchsvorgangs in der Rechtsmittelabteilung am 8. Februar 2006 wäre eine Meldung an den Widerspruchsausschuss zur Entscheidung über den Widerspruch und so eine Verbescheidung in angemessener Frist (bis 23. März 2006) möglich gewesen, weil in der zu entscheidenden Rechtsfrage keine weiteren Ermittlungen durchzuführen waren. Die für das Widerspruchsverfahren erforderlichen - wenigen - Unterlagen hätten in einer gesonderten Akte angelegt werden können, so dass die Leistungsakte zur Bearbeitung des Rentenantrags des Beschwerdeführers vom 19.12.2005 an die Leistungsabteilung hätte abgegeben werden können. Die zügige Durchführung des Widerspruchsverfahrens wäre hier geboten gewesen, weil der anhängige Feststellungsbescheid Grundlage für den folgenden Leistungsbescheid war. Auch hatte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 27.01.2006 um eine abschließende Verbescheidung des Widerspruchs gebeten.

Selbst unter Berücksichtigung der Abgabe der Akte durch die Rechtsmittelabteilung an die Leistungsabteilung zur vorrangigen Bearbeitung des Rentenantrags vom 19.12.2005, was aus den zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Untätigkeitsklage zum Teil vernichteten und so unvollständigen Akten der Beschwerdegegnerin aber nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar ist, kann ein zureichender Grund für die Nichtverbescheidung des Widerspruchs nur bis zum 01.02.2006, nicht aber bis zum 23. März 2006, zuerkannt werden. Denn die von den Bearbeitern Schmullius und Rockinger von der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München GmbH und der Agentur für Arbeit München eingeholten Auskünfte gingen am 01.02.2006 in der Leistungsabteilung ein. Anschließend wurde der Rentenantrag bis 23.04.2006, d.h. fast drei Monate, ohne erkennbaren Grund nicht weiter bearbeitet. Die Bearbeitung des Rentenantrags wurde erst am 24.04.2006 wieder aufgenommen; wegen der Anwendung des serbisch-deutschen Sozialversicherungsabkommens wurden die Akten schließlich am 28.04.2006 an die zuständige DRV Niederbayern-Oberpfalz abgegeben. Diese fast drei Monate dauernde Untätigkeit der Leistungsabteilung muss sich die Rechtsmittelabteilung als Teil einer organisatorischen Einheit zurechnen lassen. Die Rechtsmittelabteilung wäre gehalten gewesen, durch entsprechende Wiedervorlageverfügungen etc. einen rechtzeitigen Rücklauf der Akte zu gewährleisten.

Der Entwurf des Widerspruchsbescheides wurde erst am 19.04.2006 zur Sitzung am 15.05.2006 gefertigt. Nicht nachvollziehbar ist, warum dieser Entwurf so spät erstellt wurde und in der Akte der Leistungsabteilung hinsichtlich des Rentenantrags enthalten ist.

Schließlich war der Beschwerdeführer entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin auch nicht verpflichtet, sich vor Erhebung der Untätigkeitsklage bei dieser über den Sachstand des Widerspruchsverfahrens zu informieren. Denn nach dem Zweck der Regelung des § 88 Abs. 2 SGG soll der Betroffene die Möglichkeit erhalten, nach Ablauf der Sperrfrist von drei Monaten zu klagen, ohne im Einzelnen prüfen zu müssen, ob ohne zureichenden Grund in angemessener Frist nicht entschieden ist (s. BVerwGE 42, 108, 110).

Da also die Untätigkeitsklage zu Recht erhoben worden ist, hat die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer dessen außergerichtlichen Kosten des sozialgerichtlichen Verfahrens zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Erwägung, dass die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hatte (entsprechend § 193 SGG).

Diese Entscheidung, die ohne mündliche Verhandlung ergehen konnte (§ 176 i.V.m. § 124 Abs. 3 SGG), ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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