L 4 KR 318/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 7 KR 1723/15
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 318/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Es besteht kein Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest zur prophylaktischen Anwendung nach primärer CMV-Infektion einer Schwangeren zum Schutz des Ungeborenen. 2. Ein Off-label-Use scheidet aus; es fehlt an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. 3. Die drohende CMV-Infektion des Fötus stellt ein behandlungsbedürftiges Erkrankungsrisiko dar und ist damit als eine Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1a SGB V anzusehen. 4. Die CMV-Infektion der Mutter kann nicht als lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V angesehen werden. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass sich die mit der CMV-Infektion der Mutter verbundenen Gefahren für den Fötus verwirklichen, ist hierfür zu gering. 5. Zur Studienlage und statistischen Wahrscheinlichkeit im Jahre 2015. 6. Eine Ausweitung der Ansprüche von Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die arzneimittelrechtlichen Standards nicht genügen, muss auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (BSG-Rechtsprechung).

 

I.       Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. März 2018 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.Dezember 2015 abgewiesen.

II.     Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.    Die Revision wird zugelassen.

T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin die Kosten für das zulassungsüberschreitend verordnete Fertigarzneimittel Cytotect CP O in Höhe von 8.753,55 € zu erstatten sind.

Die 1990 geborene Klägerin und Berufungsbeklagte ist bei der Beklagten und Berufungsklägerin gesetzlich krankenversichert. Am 25.09.2015 wurde bei ihr eine Primärinfektion mit dem humanen Zytomegalievirus (CMV) festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Klägerin in der neunten Schwangerschaftswoche.

Am 05.10.2015 beantragte die Klägerin unter Beifügung eines Befundberichts des Labors E vom 25.09.2015 die Versorgung mit dem Arzneimittel Cytotect CP O (CMV-Hyperimmunglobulin). Die erste Behandlung sei für den 07.10.2015 vorgesehen.

Cytotect CP O ist ein verschreibungspflichtiges Fertigarzneimittel, das in Deutschland zur Prophylaxe klinischer Manifestationen einer Zytomegalievirusinfektion bei Patienten im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie, insbesondere nach Organtransplantationen, arzneimittelrechtlich zugelassen ist. Eine EMA-Zulassung liegt nicht vor.

In einer beigefügten Stellungnahme vom 01.10.2015 teilte Dr. D (Praxis für Pränatalmedizin) mit, dass aufgrund der bei der Klägerin festgestellten CMV-Primärinfektion für das erwartete Kind ein hohes Infektionsrisiko von 40 bis 50% bestehe. 10% der infizierten Feten zeigten pränatal/bei der Geburt Symptome, weitere 10% seien bei der Geburt asymptomatisch, könnten aber später zum Teil schwerwiegende Spätschäden entwickeln (Gehör, Auge, auffällige neurologische Entwicklung). Es lägen Studiendaten vor (Nigro et al. 2005, 2008 und 2013), die darauf hindeuteten, dass die Vermehrung des Virus in der Plazenta durch die Verabreichung von CMV-Hyperimmun-globulin unterdrückt werden könne. Die Therapie mit Cytotect sei praktisch nebenwirkungsfrei und stelle die einzige Möglichkeit dar, das Risiko einer fetalen Infektion und Schädigung zu verringern. Geplant sei eine erste Gabe von Cytotect möglichst zeitnah im Laufe der nächsten Woche. Mindestens eine weitere Infusion sei im Abstand von ca. drei Wochen nötig.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 05.10.2015 ab. Das streitgegenständliche Arzneimittel sei für diesen Anwendungsbereich nicht zugelassen. Die Voraussetzungen für den Einsatz des Arzneimittels außerhalb des zugelassenen Einsatzgebietes (Off-Label-Use) lägen nicht vor.

Am 07.10.2015 erhielt die Klägerin eine erste Infusion mit dem Präparat Cytotect CP O.

Mit Schreiben vom 10.10.2015 erhob sie Widerspruch und verwies auf die Leitlinie "Labor-diagnostik schwangerschaftsrelevanter Virusinfektionen" (S2k-Leitlinie) vom 07.05.2014, in der ausgeführt wird, dass es zwar keine Evidenz für eine Intervention zur maternalen/fetalen Prävention/Therapie gäbe, wenige Studien hätten aber einen Trend zur Reduktion der Transmissionsrate und Krankheitslast gezeigt (ebenda Seite 181).

Der von der Beklagten eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) führte mit Stellungnahme vom 14.10.2015 aus, dass die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use vorliegend nicht erfüllt seien. Eine Erkrankung der Mutter liege nicht vor und eine Infektion des Ungeborenen sei nicht belegt. Es handele sich um eine vorsorgliche Maßnahme.
Außerdem entspreche die im Antrag genannte Studie nicht der hier geforderten Aussagekraft (Phase 3). Seit 2014 liege im Übrigen eine weitere Studie vor, welche die Wirksamkeit des beantragten Medikaments in dieser speziellen Indikation nicht habe belegen können (Revello 2014). Ein Konsens in Fachkreisen auf Basis evidenzbasierter, qualitätsgesicherter nationaler und internationaler Leitlinien für den Einsatz von Hyperimmunglobulin sei weder zur Prophylaxe noch zur Therapie der kongenitalen CMV-Infektion erkennbar.
Schließlich heiße es in der Fachinformation des Herstellers unter Punkt 4.6: "Die Unbedenklichkeit dieses Arzneimittels bei der Anwendung während der Schwangerschaft wurde nicht in kontrollierten klinischen Studien untersucht, daher sollte es bei Schwangeren und stillenden Müttern nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung angewendet werden."

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 01.12.2015 zurück. Weder unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG zum ausnahmsweisen Off-Label-Use noch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu notstandsähnlichen Erkrankungen ergäbe sich derzeit eine Leistungspflicht der GKV für den Einsatz von Hyperimmunglobulin zur prophylaktischen Anwendung nach primärer CNN-Infektion einer Schwangeren. Der erforderliche indikationsbezogene Wirksamkeitsnachweis liege nicht vor.

Dagegen hat die Klägerin am 15.12.2015 Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben und Kostenerstattung in Höhe von 8.753,55 € für die Behandlung mit Cytotect CP O geltend gemacht. Sie habe auf eigene Kosten insgesamt drei Infusionen mit dem Präparat erhalten, nämlich am 07.10.2015, 22.10.2015 und 18.11.2015. Die entsprechenden Rechnungen wurden vorgelegt. Die Rezepte hierfür waren am 06.10.2015 und 19.10.2015 ausgestellt worden.

Ihr Bevollmächtigter hat vorgetragen, dass bei Therapieeinleitung die Gefahr einer lebensbedrohlichen Erkrankung für den Fötus vorgelegen habe. Es habe ein erhöhtes Mortalitätsrisiko und die Gefahr von schwersten, teils irreversiblen Schädigungen für das ungeborene Kind bestanden. Eine Therapiealternative habe es unstreitig nicht gegeben. Im Hinblick auf das zulassungsüberschreitend eingesetzte Arzneimittel habe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung bestanden. Die bisher veröffentlichten Studiendaten deuteten darauf hin, dass eine passive Immunisierung mit CMV-Hyperimmunglobulin nach CMV-Primärinfektion in der Schwangerschaft eine effiziente Strategie zur Prävention einer kongenitalen CNN-Infektion darstelle.

Vorgelegt wurde ein Schreiben des Paul-Ehrlich-Instituts vom 01.05.2016, in dem ausgeführt wird, dass aktuell in einer Phase-3-Studie die Sicherheit und Wirksamkeit eines spezifischen Immunglobulins zur Behandlung einer Primärinfektion mit Zytomegalieviren bei Schwangeren untersucht werde. Mehrere kleinere klinische Studien mit unterschiedlichen spezifischen Zytomegalie-Immunglobulinen wiesen in die Richtung, dass die Behandlung der Primärinfektion von Schwangeren mit spezifischen Zytomegalie-Immunglobulinen die klinische CMV-Infektion bei Neugeborenen vermindern könne.

Das SG hat H vom Institut für Medizinische Virologie des Universitätsklinikums T mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 19.12.2016 hat der Sachverständige vorab erklärt, dass er sich als stellvertretender Leiter des Konsiliarlabors für CMV des R-Instituts in B, Standort T, sowie in eigenen Forschungsprojekten mit der Prävention der maternofetalen CMV-Transmission beschäftige. Er sei federführend am Kapitel Zytomegalie-Virus der S2k-AWMF-Leitlinie zur Labordiagnostik schwangerschaftsrelevanter Virusinfektionen beteiligt gewesen. Zudem sei er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Internetplattform ICON (Initiative zur Prävention Konnataler Cytomegalieinfektionen), die von der Firma O unterstützt werde. Außerdem bearbeite er ein Forschungsprojekt, das ebenfalls von der O unterstützt werde.
Bei CMV-Primärinfektionen in der Schwangerschaft komme es in etwa 35 bis 45% der Fälle zu einer maternofetalen Transmission. Die Häufigkeit einer maternofetalen Transmission sei stark vom Gestationsalter abhängig. In einer Studie von Enders et al. habe die Transmissionsrate im ersten Trimenon bei 30% gelegen, im zweiten und dritten Trimenon habe sie sich auf 38% und 72% erhöht.

Demgegenüber nehme die Häufigkeit symptomatischer Infektionen im Verlauf der Schwangerschaft ab. Lipitz et al. hätten bei einer Infektion im ersten Trimenon bei 20% der Schwangerschaften einen symptomatischen nachgeburtlichen Verlauf beobachtet, während es im zweiten Trimenon nur 6% gewesen seien.

Das klinische Spektrum der kongenitalen Infektion mit dem Zytomegalievirus sei vielfältig und könne von einer asymptomatischen Infektion (85 bis 90% aller Fälle) bis hin zu einem Hydrops fetalis, einem Abort oder einem postnatalen Versterben der Fälle reichen. Dazwischen liege das Spektrum einer subklinischen sensorisch neuralen Beeinträchtigung, einer allgemeinen Wachstumsretardierung sowie einer mentalen und motorischen Retardierung. Schließlich könnten das zentrale Nervensystem, das Innenohr, die Retina, das Knochenmark sowie alle inneren Organe betroffen sein. Der Schweregrad der kindlichen Gesundheitsstörung sei bei perikonzeptionellem maternalen Erwerb der Primärinfektion am größten und nehme mit dem Gestationsalter ab. Die Todesrate durch Abort oder Versterben in der Neonatalphase betrage etwa 4%.

Bei der Klägerin habe im September 2015 eine klassische Befundkonstellation einer frühen CMV-Primärinfektion mit hohem IgM-Index, relativ niederem und im Anstieg befindlichen IgG-Spiegel ohne gB2-IgG Reaktivität vorgelegen. Damit könne von einem präkonzeptionell bis perikonzeptionell erworbenen CMV-Primärinfekt ausgegangen werden. Dieser Status sei eindeutig mit einem erhöhten Risiko für die maternofetale Transmission und die potentielle Schädigung des Fötus und Neugeborenen assoziiert.

Es liege keine Empfehlung einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft - weder im internationalen noch nationalen Rahmen - vor, welche in dieser Situation uneingeschränkt eine CMV-Hyperimmunglobulintherapie außerhalb einer klinischen Studie empfehle. Bei erfolgter CMV-Primärinfektion könne die HIG-Therapie aber in einem sensiblen Fenster der Schwangerschaft als eine Option betrachtet werden, die zwar im Kontext der gegenwärtigen internationalen Einschätzungen keine eindeutige Behandlungsindikation darstelle, aber von Experten so beurteilt werde, dass zumindest ein Trend hin zur Reduktion der maternofetalen CMV-Transmission sowie zur Reduktion der Krankheitslast des Neugeborenen attestiert werden könne. Behandlungsalternativen stünden nicht zur Verfügung, insbesondere gebe es keine zugelassene antivirale Therapie.

Mit Stellungnahme vom 02.03.2018 hat der MDK hierzu ausgeführt, dass im Gutachten von H mögliche Nebenwirkungen unerwähnt geblieben seien.

Das SG hat mit Urteil vom 21.03.2018 die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Kosten in Höhe von 8.753,55 Euro zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.12.2015 zu erstatten. Die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs gem. § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V seien erfüllt.

Der erforderliche Primäranspruch auf Sachleistung des Arzneimittels Cytotect ergebe sich aus § 2 Abs. 1a SGB V. Das ungeborene Kind der Klägerin sei der Gefahr einer tödlichen bzw. wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung ausgesetzt gewesen. Die natürliche Todesrate durch Abort oder Versterben in der Neonatalphase bei Infektion der Schwangeren mit CMV betrage ca. 4 %. Zahlreiche der möglichen Leiden bei Infektion des Fetus stellten eine lebensbedrohliche bzw. wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung dar, so insbesondere die hohe Gefahr einer mentalen Retardierung, eines kompletten Hörverlustes und Sehverlustes als Folge einer Entzündung des Augenhintergrundes und des Abbaus der Sehnervzellen.
Der Fötus sei zwar "noch" nicht mit CMV infiziert gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind sich mit CMV infizieren würde, sei aber groß gewesen. Die Transmissionsrate bei einer Primärinfektion im ersten Trimenon liege bei 30%, zudem sei die Wahrscheinlichkeit eines symptomatischen nachgeburtlichen Verlaufs bei einer Primärinfektion im ersten Trimenon am höchsten. Vor dem Hintergrund des Schutzauftrages des Staates gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG könne eine Infizierung des ungeborenen Kindes nicht abgewartet werden, bevor eine Handlungspflicht der Beklagten entstehe. Die Erkrankung bzw. die drohende Erkrankung eines Fötus sei mit einer entsprechenden Erkrankung der versicherten Mutter gleichzustellen.

Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie zur Verhütung einer Infektion des Fötus habe unstreitig nicht zur Verfügung gestanden.

Schließlich könne eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung unter anderem aufgrund der Nigro et al. Studie aus dem Jahr 2005 angenommen werden. Hierbei handele es sich um eine nicht randomisierte Studie, bei der 37 Frauen nach einer Infektion Hyperimmunglobin gegeben worden sei, 47 Frauen seien unbehandelt geblieben. Eine kongenitale CNN-Infektion sei bei sechs (16%) Föten im Behandlungsarm und 19 (40%) Föten ohne Behandlung festgestellt worden. Bei der Buxmann et al. Studie aus dem Jahr 2012 sei von 38 Schwangeren berichtet worden, die in der Schwangerschaft Hyperimmunglobin (HIG) erhalten hätten bei einer Transmissionsrate von 23%. Die erste evidenzbasierte randomisierte Revello-Studie aus dem Jahr 2014 habe die bereits genannten Studien nicht entkräftet. Revello et al. habe die Transmissionsrate bei 61 bzw. 62 Mutter-Kind-Paaren nach einer Infektion im ersten Trimenon beobachtet. In der Behandlungsgruppe habe die Transmissionsrate bei 30%, in der Kontrollgruppe habe sie bei 44% gelegen. Zwar könne dieses Ergebnis nicht als "signifikant" im Sinne der evidenzbasierten Medizin eingestuft werden, jedoch werde die Senkung des Infektionsrisikos um 14% bestätigt. Damit ergebe sich, dass bisher alle durchgeführten Studien eine Senkung des Infektionsrisikos bei dem ungeborenen Kind zeigten. H gebe an, dass von Experten ein Trend hin zur Reduktion der maternofetalen CNN-Transmission sowie zur Reduktion der Krankheitslast des Neugeborenen attestiert werden könne.

Diesen positiven Studienergebnissen stünden nur geringe Nebenwirkungen gegenüber. Dies ergebe sich aus der Fachinformation des streitgegenständlichen Arzneimittels, wonach aufgrund der langen klinischen Erfahrungen mit Immunglobulin keine schädlichen Auswirkungen auf den Verlauf der Schwangerschaft, den Fötus oder das Neugeborenen zu erwarten seien. Im Übrigen spreche auch für geringe Nebenwirkungswahrscheinlichkeit, dass die klinische Studie der Phase III länger als sieben Jahre durchgeführt werde. Selbst das MDK-Gutachten vom 02.03.2018 führe aus, dass ein Zusammenhang mit der Gabe von HIG zu geburtsassoziierten Komplikationen wie Präeklempsie, vorzeitige Geburt und fetale Wachstumsstörungen in der HIG-Gruppe im Rahmen der Revello-Studie nicht gesichert sei. Auch die weiteren Erstattungsvoraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V seien erfüllt.

Die Beklagte hat gegen das Urteil am 25.06.2018 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben und ausgeführt, dass es bereits an der Kausalität zwischen der Ablehnung des Antrags und den entstandenen Kosten fehle.
Zudem sei es unzutreffend, dass aufgrund der Infektion der Mutter mit dem Zytomegalievirus eine lebensbedrohliche Erkrankung des Embryos bestanden habe, weil in einer sehr geringen Zahl der Fälle Kinder versterben würden. Auch eine wertungsmäßig mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung vergleichbare Erkrankung habe nicht vorgelegen. Bleibende Folgeschäden - unabhängig vom Schweregrad - würden mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 6 bis 7 % der von einer kongenitalen CMV-lnfektion betroffenen Schwangerschaften auftreten. Ob diese Wahrscheinlichkeit ausreiche, um eine notstandsähnliche Situation annehmen zu können, sei noch nicht ober- oder höchstgerichtlich geklärt.

Jedenfalls scheitere ein Leistungsanspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V an der fehlenden positiven Indizlage. Bei der Abstufung, "je schwerwiegender und hoffnungsloser die Erkrankung/Situation, desto geringer die Anforderungen an die Indizwirkung", müsse man sich damit auseinandersetzen, dass sich nur maximal ein Drittel der Kinder infiziere, von denen wiederum nur ein Anteil von unter 20% dauerhafte Folgen der Infektion davontrügen.
Die Studie von Nigro et al. aus dem Jahr 2005 sei eine prospektive Fallserie mit hohem Verzerrungspotential, auf deren Grundlage sich allenfalls eine Hypothese zur möglichen Wirksamkeit des verabreichten Immunglobulins generieren lasse. Die einzige bislang vorliegende Studie höherer Aussagequalität sei die von Revello aus dem Jahr 2014 (Phase II Studie mit randomisierter Zuordnung zur Immunglobulintherapie im Vergleich zu Placebo). Diese unabhängig finanzierte Studie habe keine signifikante Absenkung der Infektionsrate bei frisch infizierten Schwangeren auf die Embryos zeigen können. Soweit das SG unter Bezugnahme auf H seine Entscheidung darauf gründe, dass die Studie immerhin einen "Trend" zur Senkung des Infektionsrisikos gezeigt habe, so erwähnten jedenfalls die Autoren der Originalstudie einen solchen Trend nicht. Die einzig zulässige Interpretation der Revello-Studie laute: Es sei kein Beleg für einen Unterschied bei den beiden Behandlungsgruppen gefunden worden, was nicht ausschließe, dass es einen solchen geben könne.
Das SG habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass in der Revello-Studie mit 123 Teilnehmern 20 unerwünschte Ereignisse bei Schwangeren bzw. bei deren Neugeborenen angegeben worden seien. Diese teilweise als schwer klassifizierten Ereignisse seien in der Mehrzahl bei Frauen unter HIG beobachtet worden.

Mit Schriftsatz vom 10.08.2020 hat die Beklagte das MDK-Grundsatzgutachten "Grundsatzstellungnahme Cytotect bei CMV-infizierten schwangeren Frauen" vom 14.07.2020 vorgelegt. Darin wird u.a. Folgendes ausgeführt: "Nach einer mütterlichen Primärinfektion in der Schwangerschaft kommen etwa drei Viertel aller Neugeborenen mit kongenitaler CMV-Infektion gesund zur Welt und tragen keine bleibenden Schäden durch die CMV-Infektion davon. Bei Geburt sind etwa 85-90 % der CMV-infizierten Lebendgeborenen asymptomatisch, d.h. sie werden ohne feststellbare Anzeichen für eine Erkrankung geboren. Dies betrifft auch nicht auf den ersten Blick erkennbare pathologische Laborparameter oder sich nur in der Bildgebung abzeichnende krankheitswertige Veränderungen der Organstrukturen oder des zentralen Nervensystems. Bei 8-15% dieser asymptomatisch geborenen Kinder manifestieren sich im zeitlichen Verlauf Folgeschäden, meist in Form einer Schädigung des Hörvermögens oder von Entwicklungsstörungen. 10-15 % der in der Schwangerschaft mit CMV infizierten Neugeborenen sind zum Zeitpunkt der Geburt von Erkrankungsfolgen betroffen. Aus dieser Gruppe entwickeln etwa 50 % der Kinder bleibende Schäden." Aus gutachterlicher Sicht wäre es irreführend, eine kongenitale CMV-Infektion per se generell mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V gleichzusetzen, da die große Mehrzahl aller von einer kongenitalen CMV-Infektion betroffenen Neugeborenen keine bleibenden Schäden durch die CMV-Infektion davontrage.

Die Bevollmächtigte der Klägerin hat im Schreiben vom 29.10.2020 zu den Berechnungen des Schädigungsrisikos ausgeführt, dass nach der AWMF-Leitlinie 20% aller Föten, auf die das CMV im 1. Trimenon von der Mutter übertragen wurde, versterben würden (Abort). 4% kämen mit schweren und 4% mit leichten Langzeitfolgen zur Welt. Somit sei davon auszugehen, dass mehr als ein Viertel aller im ersten Trimenon infizierten Föten erhebliche Schäden erleiden oder versterben würden. Dieses überschreite deutlich die Grenze, ab der von einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder einer wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung im Sinne von § 1 Abs. 1a SGB V ausgegangen werden könne.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 24.08.2021 auf eine in den USA durchgeführte kontrollierte klinische Studie der Phase 3 zur Häufigkeit von kongenitaler CMV-Infektion und perinataler Mortalität bei Gabe von CMV-Hyperimmunglobulin (veröffentlich im New England Journal 2021, S. 436-444) hingewiesen, deren Ergebnis gewesen sei, dass die Gabe von CMV-Hyperimmunglobulin keinen positiven Effekt auf die Häufigkeit kongenitaler CMV-Infektionen und perinataler Morbidität gehabt habe. Es hätten sich vielmehr Schadenssignale ergeben. Die Studie sei wegen fehlender Wirksamkeit vorzeitig beendet worden.

Im Übrigen wird auf die Niederschrift der Sitzung vom 25.11.2021 verwiesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 21.03.2018 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 05.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2015 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

 die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagten Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und in der Sache auch begründet.

Das Sozialgericht München hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit Cytotect CP O zu versorgen. Diese hat daher keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihr durch die Cytotect-Therapie entstanden sind.

Als Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch kommt allein § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, dem Versicherten die Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

Vorliegend hat die Beklagte die Versorgung der Klägerin mit Cytotect nicht zu Unrecht abgelehnt, da ein entsprechender Sachleistungsanspruch der Klägerin nicht bestand.

1.
Ein Leistungsanspruch gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V scheidet aus, da das streitgegenständliche Fertigarzneimittel Cytotect CP O in Deutschland bzw. in der EU nicht zur prophylaktischen Anwendung nach primärer CMV-Infektion einer Schwangeren zum Schutz des Ungeborenen zugelassen ist. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung besteht nur für die Prophylaxe klinischer Manifestationen einer Zytomegalievirusinfektion bei Patienten im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie, insbesondere nach Organtransplantationen.

2.
Die Klägerin hatte auch keinen Anspruch auf Versorgung mit Cytotect im Rahmen eines Off-Label-Use. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des GBA und im Falle von klinischen Studien regelt, liegt nichts vor. Aber auch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use konnte die Klägerin die Versorgung mit Cytotect nicht verlangen. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es
1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
2. keine andere Therapie verfügbar ist und
3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Von hinreichenden Erfolgsaussichten aufgrund der Datenlage ist nach der Rechtsprechung des BSG nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder
(a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder
(b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R).

Wie vom SG insoweit zutreffend ausgeführt, fehlt es vorliegend an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Abzustellen ist insoweit auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. BSG, Urteil vom 03. Juli 2012, B 1 KR 25/11 R). Im Jahr 2015 lag eine abgeschlossene veröffentlichte Studie zum Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin zur präventiven oder therapeutischen Anwendung im Rahmen einer primären CMV-Infektion in der Schwangerschaft in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III nicht vor. Ebenso wenig bestand in einschlägigen Fachkreisen aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Aussagen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen eines Einsatzes von CMV-Hyperimmunglobulin in dem neuen Anwendungsgebiet.

Die von der Beklagten zuletzt erwähnte amerikanische Phase-3-Studie zur Häufigkeit von kongenitaler CMV-Infektion und perinataler Mortalität bei Gabe von CMV-Hyperimmun-globulin wurde erst 2021 veröffentlicht und hat daher außer Betracht zu bleiben. Sie konnte im Übrigen einen Nutzen des Einsatzes von CMV-Hyperimmunglobulin zur präventiven oder therapeutischen Anwendung im Rahmen einer primären CMV-Infektion in der Schwangerschaft nicht bestätigen.

3.
Ein Leistungsanspruch der Klägerin bestand auch nicht nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw. nach der Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V. Danach müssen folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:
1. Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vor.
2. In Bezug auf diese Krankheit steht eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.
3. Es besteht eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht alle erfüllt.

a) Nach Überzeugung des Senats lag bereits eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung nicht vor.

Hierbei ist zunächst zu prüfen, ob überhaupt eine (behandlungsbedürftige) Krankheit im Rechtssinne vorlag. Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder - zugleich oder allein - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG, Urteil vom 19.02.2003,
B 1 KR 1/02 R). Als regelwidrig ist ein Körper- oder Geisteszustand anzusehen, der von der durch das Leitbild eines gesunden Menschen geprägten Norm abweicht (BSG, Urteil vom 28.09.2010, B 1 KR 5/10 R). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu, erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird. Vorliegend war die Klägerin durch die CMV-Infektion nicht in belangvoller Weise in ihren Körperfunktionen beeinträchtigt. Ihr ungeborenes Kind wiederum war (noch) nicht mit dem CMV-Virus infiziert - dies war jedenfalls die Prämisse der eingeleiteten Behandlung, mit der eine maternofetale Transmission gerade verhindert werden sollte.

Das Vorliegen einer Krankheit im Rechtssinne ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber auch im Falle eines bloßen Krankheitsrisikos bejaht worden. Beim Erkrankungsrisiko führt das Risiko des Entstehens einer Krankheit, sofern es Behandlungsbedürftigkeit begründet, dazu, dass bereits in dem risikobegründenden Zustand eine Regelwidrigkeit mit Krankheitswert gesehen wird (BSG, Urteil vom 18.11.1969, 3 RK 75/66; Urteil vom 20.10.1972, 3 RK 93/71; Urteil vom 23.02.1973, 3 RK 82/72). Letztlich wird ein Erkrankungsrisiko wegen seiner Behandlungsfähigkeit aufgrund einer wertenden Betrachtung als behandlungsbedürftige Krankheit im Rechtssinne erachtet, weil die mit dem Erkrankungsrisiko einhergehende Ungewissheit es für den Betroffenen unzumutbar und für die Versichertengemeinschaft nicht verantwortbar macht, den tatsächlichen Eintritt der Funktionsstörung, d.h. der Krankheit im engeren Sinn, abzuwarten (vgl. Hauck, Erkrankungsrisiko als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung?, NJW 2016, 2695, 2699; ebenso Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.09.2017, 5 C 10/16).

Hier stellte die CMV-Infektion für die schwangere Klägerin selbst kein relevantes Krankheitsrisiko dar, sie barg jedoch eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben ihres ungeborenen Kindes. Dieses war zwar (noch) nicht infiziert. Es bestand aber das Risiko einer maternofetalen CMV-Transmission und eine daraus resultierende Gefahr einer Schädigung des Fötus oder eines Aborts. Durch die prophylaktische Gabe von CMV-Hyper-immunglobulin sollte die Wahrscheinlichkeit einer Transmission des Zytomegalievirus auf den Fötus verringert werden. Da eine Schädigung der Leibesfrucht einer Erkrankung der Mutter gleichsteht und die Klägerin und ihr ungeborenes Kind daher als Einheit zu betrachten sind (vgl. BSG, Urteil vom 24.01.1990, 3 RK 18/88), ist es nach Auffassung des Senats geboten, die drohende CMV-Infektion des Fötus als behandlungsbedürftiges Erkrankungsrisiko und damit als Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1a SGB V zu anzusehen - dies trotz des Umstandes, dass die Behandlungsfähigkeit des Erkrankungsrisikos hier durchaus fraglich bzw. umstritten ist.

Nach Überzeugung des Senats handelte es sich jedoch weder um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung noch um eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung.

Lebensbedrohend ist eine Krankheit, wenn der Tod durch diese nach allgemeiner Erkenntnis oder der Beurteilung im konkreten Einzelfall innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums wahrscheinlich verursacht wird (GBegr., BT-Drucks. 17/6906, S. 53). Das BSG spricht im Urteil vom 14.12.2006 (B 1 KR 12/06 R, Rn 20) von "großer" Wahrscheinlichkeit".

Eine Krankheit ist regelmäßig tödlich, wenn durch diese die Todesgefahr nach generellen, statistisch hinreichend gesicherten medizinischen Erfahrungen zwar nicht in allen Fällen, aber annähernd ausnahmslos besteht. Regelmäßig tödlich ist eine Krankheit auch dann, wenn der Patient noch nicht in akuter Lebensgefahr ist, sondern die Krankheit erst in einigen Jahren zum Tod führt (BVerfG, Beschluss vom 06.02.2007 - 1 BvR 3101/06) bzw. sie generell mit einer erheblich verkürzten Lebenserwartung einhergeht (BVerfG, Beschluss vom 26.03.2014, 1 BvR 2415/13, Rn. 15).

Wertungsmäßig vergleichbar schwer ist eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung wie der Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion; dabei muss der Verlust in absehbarer Zeit, das heißt innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums, mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BSG, Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 16/07 R - Rn. 32; Becker/Kingreen/ Scholz, 6. Aufl. 2018, SGB V § 2 Rn. 7).

Im vorliegenden Fall bestand für das ungeborene Kind der Klägerin ohne Zweifel eine bedrohliche Situation, denn es bestand die konkrete Gefahr einer CMV-Infektion auch des Fötus und daraus resultierend die weitere Gefahr, dass der Fötus aufgrund der CMV-Infektion versterben (Abort oder postnatales Versterben) oder eine schwere organische Schädigung erleiden würde. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, sich im Mutterleib mit dem Zytomegalievirus zu infizieren, wenn sich die Mutter damit erstmals prä- oder perikonzeptionell bzw. im ersten Trimenon der Schwangerschaft infiziert hat, beträgt nach den Ausführungen des Sachverständigen H, der insoweit auf eine Studie von Enders et al. aus dem Jahr 2011 verweist (intrauterine transmission and clinical outcome of 248 pregnancies with primary cytomegalovirus infection in relation to gestational age), etwa 30 %. Auch der MDK geht in seinem Gutachten vom 14.07.2020 davon aus, dass die Transmissionsrate nach primärer CMV-Infektion im ersten Schwangerschaftsdrittel bei rund 30 % liegt. Damit bestand ohne Zweifel ein hohes Infektionsrisiko für das ungeborene Kind der Klägerin. Gleichwohl war es überwiegend wahrscheinlich, dass sich das Kind nicht infizieren würde.

Eine Infektion des Fötus wiederum war nach damaliger (und heutiger) Studienlage nicht gleichbedeutend mit einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behinderung oder gar einem Versterben des Kindes. Die Gefahr des Aborts, einem postnatalen Versterben oder einer schweren Schädigung des Fötus im Falle einer Infektion war zwar beträchtlich. Nach der Datenlage war es aber überwiegend wahrscheinlich, dass das ungeborene Kind der Klägerin - sollte es sich infizieren - keine bleibenden Schäden aufgrund der CMV-Infektion davontragen würde.

Nach den übereinstimmenden Angaben im Gutachten von H vom 19.12.2016 und in der MDK-Grundsatzstellungnahme vom 20.07.2020 sind etwa 85 bis 90% der CMV-infizierten Lebendgeborenen bei Geburt asymptomatisch, das heißt sie werden ohne feststellbare Anzeichen für eine Erkrankung geboren. Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf alle kongenitalen CMV-Infektionen, unabhängig vom Zeitpunkt der erfolgten Transmission. Lipitz et al. beobachteten in einer Studie, auf die H in seinem Gutachten verweist, bei einer Infektion im ersten Trimenon bei 20% der Schwangerschaften einen symptomatischen nachgeburtlichen Verlauf (Lipitz et al., 2013, Risk of cytomegalovirus - associated sequelae in relation to time of infection and findings on prenatal imaging). Auf Grundlage dieser Daten war demnach im Falle der Klägerin davon auszugehen, dass ihr ungeborenes Kind - sollte es zu einer maternofetalen Transmission kommen - mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 % symptomatisch auf die Welt kommt. Das Risiko, dass sich der Fötus der Klägerin infizieren und überdies bei der Geburt Symptome einer CMV-Infektion aufweisen würde, lag damit statistisch insgesamt bei etwa 6 %.

Die möglichen Schädigungen, die bei einer kongenitalen CMV-Infektion eines symptomatisch Neugeborenen vorliegen bzw. sich entwickeln können, sind vielfältig und häufig sehr schwerwiegend. Bei 53% der symptomatisch geborenen Kinder liegt eine Mikrozephalie vor, 50% weisen eine Wachstumsretardierung auf, 49% eine Zerebralparese, 37% eine Intelligenzminderung und bei 20% der Kinder besteht eine Schädigung des Sehnervs, um nur einige der möglichen schwerwiegenden Gesundheitsstörungen zu benennen. Es können auch weniger schwerwiegende Symptome vorliegen wie etwa eine Gelbsucht (76%) oder Petechien (76%). Der Schweregrad der kindlichen Gesundheitsstörung ist bei einem perikonzeptionellen maternalen Erwerb der Primärinfektion, wie dies bei der Klägerin der Fall ist, am größten. Die perinatale Mortalität der bei Geburt symptomatischen Neugeborenen mit kongenitaler CMV-Infektion liegt älteren Publikationen zufolge bei 5-10% (Dollard 2007; Walker 2013), so die Grundsatzstellungnahme des MDK.

Aber auch bei etwa 8 bis 15% der asymptomatisch geborenen Kinder, die im Mutterleib mit dem Zytomegalievirus infiziert werden, kommt es im postnatalen Verlauf zu Folgeschäden mit unterschiedlichem Schweregrad. Nach den Angaben von H im Gutachten vom 20.07.2016 entwickeln etwa 10% der asymptomatisch geborenen Kinder eine Hörstörung (ein- oder beidseitige Innenohrschwerhörigkeit). In ca. 3 % der Fälle wird eine Beeinträchtigung der neurokognitiven Entwicklung gelegentlich erst beim Schuleintritt festgestellt. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen lag vorliegend die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind der Klägerin sich infizieren und bei der Geburt asymptomatisch sein würde, statistisch bei etwa bei 24%. Das Risiko, dass der Fötus sich infizieren, bei der Geburt asymptomatisch sein und im postnatalen Verlauf Folgeschäden entwickeln würde, betrug demnach (im schlechtesten Fall) statistisch insgesamt etwa
3,6 %.

Die natürliche Todesrate durch Abort oder Versterben in der Neonatalphase bei einer CMV-Primärinfektion der Schwangeren mit maternofetaler Transmission wird von H im Gutachten vom 20.07.2016 bei etwa 4% angesetzt. Demgegenüber wird in der Leitlinie Labordiagnostik 2014, die von H maßgeblich mitverfasst worden ist, das Risiko allein eines Aborts bei einer Primärinfektion im ersten Trimenon mit 20% angegeben. Legt man die zuletzt genannte Zahl zugrunde, lag im Falle der Klägerin das Risiko, dass sich der Fötus infizieren und es aufgrund der maternofetalen Transmission zu einem Abort kommen würde, statistisch insgesamt bei etwa 6 %.

Auch wenn die eben dargelegten (statistisch hochgerechneten) Risiken, denen das ungeborene Kind der Klägerin ausgesetzt war, erheblich waren, kann die CMV-Infektion der Klägerin nach Auffassung des Senats nicht als lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V angesehen werden. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass sich die mit der CMV-Infektion der Mutter verbundenen Gefahren für den Fötus auch verwirklichen, war hierfür zu gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die CMV-Infektion keinen schweren Schaden erleiden würde (sie lag statistisch etwa bei 84 %), war deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen CMV-bedingten Schädigung.

Die Erkrankung bzw. das vorliegende Erkrankungsrisiko war nicht lebensbedrohend oder regelmäßig tödlich im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V, weil der Tod des erwarteten Kindes der Klägerin durch deren CMV-Infektion zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich war. Ebenso wenig lag eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V vor, da es zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich war, dass das ungeborene Kind der Klägerin aufgrund der CMV-Infektion seiner Mutter eine auf Dauer die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung wie den Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion erleiden würde. Nach Überzeugung des Senats lag deshalb eine derart extreme notstandsähnliche Situation, wie sie für einen Leistungsanspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V erforderlich ist, nicht vor.

b) Außer Frage steht, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Prävention einer Infektion des Fötus mit dem Zytomegalievirus nicht zur Verfügung stand.

c) Aber auch die weitere Voraussetzung einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf war zur Überzeugung des Senats nicht gegeben. Die Anforderungen an derartige ernsthafte Hinweise sind im Lichte des Nikolausbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts umso geringer, je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation des Betroffenen im konkreten Fall ist (Gesetzesbegründung BR-Drs. 456/11 Seite 74; BSG, Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R, Rn. 40 sowie Urteil vom 02.09.2014, B 1 KR 4/13 R, Rn. 17)

Im vorliegenden Fall war die Situation der Klägerin - wie dargelegt - durchaus nicht hoffnungslos. Aufgrund der seinerzeit vorhandenen wissenschaftlichen Daten zum Risiko einer maternofetalen CMV-Transmission und einer daraus resultierenden Schädigung des Ungeborenen bestand vielmehr die begründete Hoffnung, dass die Klägerin ein gesundes Kind zur Welt bringen würde. In Anbetracht dieser Situation war der von H festgestellte "Trend" zur Reduktion der maternofetalen CMV-Transmission sowie zur Reduktion der Krankheitslast des Neugeborenen durch den zulassungsübergreifenden Einsatz von Cytotect nach Auffassung des Senats nicht ausreichend, um im vorliegenden Fall eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf zu begründen. Die begehrte Behandlung mit dem Arzneimittel hatte in der Studie von Revello im Jahr 2014 nicht zu einem statistisch signifikanten Behandlungserfolg geführt. Der fehlende Wirksamkeitsnachweis, so H in seinem Gutachten vom 19.12.2016, führe dazu, dass die streitgegenständliche Behandlungsmethode nicht routinemäßig zur Prävention der kongenitalen Infektion mit einem Zytomegalievirus eingesetzt werden sollte. In der Revello-Studie selbst wird die conclusio mitgeteilt, dass die Behandlung mit CMV-Hyperimmunglobulin den Verlauf der Primärinfektion in der Schwangerschaft nicht wesentlich verändert.

In diesem Zusammenhang sind auch die potentiellen Gefahren dieser Behandlung zu berücksichtigen. In der Fachinformation zu Cytotect CP O wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Unbedenklichkeit dieses Arzneimittels bei der Anwendung während der Schwangerschaft nicht in kontrollierten klinischen Studien untersucht worden sei. Im MDK-Grundsatzgutachten heißt es zu dieser Problematik, dass die bislang vorliegenden Erkenntnisse über Risiken und Nebenwirkungen von CMV-Hyperimmunglobulin bei Verabreichung in der Schwangerschaft zum Teil widersprüchlich seien.
 
Das BSG hat mit Blick auf das Arzneimittelrecht zu Recht hervorgehoben, dass die Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V den Schutzzweck des Arzneimittelzulassungsrechts nicht konterkarieren darf (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, Rn. 19). Das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis dürfe, so das BSG, durch eine vermeintlich "großzügige", im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden. Ein solches Vorgehen wäre sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zulasten der übrigen Versicherten verbunden. Solche Auswirkungen dürften der Gemeinschaft der Versicherten nicht aufgebürdet werden, die die Behandlung - typischerweise unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise - finanziere. Eine Ausweitung der Ansprüche der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, müsse mithin auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 20; BSG, Urteil vom 19. 10. 2004 - B 1 KR 27/02 R).

Ein Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V scheidet damit aus. Gleichzeitig gebietet auch Art. 2 Abs. 2 GG keinen weitergehenden Schutzanspruch.

Damit kommt es auf die Frage, ob die Klägerin den sogenannten Beschaffungsweg eingehalten hat, nicht mehr an.

Der Berufung der Beklagten war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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