L 6 SB 148/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 3638/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 148/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 21. Dezember 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich gegen die Verpflichtung zur Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit 50.

Die Klägerin ist 1955 in K geboren, lebt seit 1973 in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und hat keine Berufsausbildung absolviert. Sie war zuletzt als Küchenhilfe in einem Krankenhaus und davor als Produktionsmitarbeiterin tätig. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne, von denen einer bei einem Verkehrsunfall 1997 ums Leben kam. 10 Tage später erlitt ihr Ehemann einen Herzinfarkt.

Am 9. Mai 2011 beantragte sie bei dem Landratsamt Ortenaukreis (LRA) erstmals die Feststellung des GdB. Vorgelegt wurde der Befundbericht des (HNO) H, der aufgrund ambulanter Untersuchung vom 28. Februar 2008 den dringenden Verdacht auf einen abgelaufenen benignen Lagerungsschwindel mit Spontanremission sowie eine beginnende Lärmschwerhörigkeit beschrieb. Im Befundbericht des L nach ambulanter Untersuchung vom 30. August 2010 wurden therapieresistente Schmerzen im linken Ellenbogengelenk ohne erinnerliches Trauma angegeben.

Das LRA zog den Entlassungsbericht der Rklinik S über die stationäre Rehabilitation vom 30. April bis 21. Mai 2009 bei, der als Diagnosen ein chronisches Halswirbelsäulen (HWS)-Syndrom, rezidivierende Cervikocephalgien, eine Hypercholesterinämie und eine psychoemotionale Erschöpfung beschrieb. Alle Behandlungsmaßnahmen seien korrekt absolviert und gut vertragen worden. Bei Entlassung sei die Klägerin mit den verordneten Anwendungen sehr zufrieden gewesen. Die Schmerzen und die Beweglichkeit im HWS-Bereich hätten sich gebessert. Die HWS-Beweglichkeit habe für Vor-/Rückneigung bei 40-0-40° und für die Rotation rechts/links bei 80-0-80° gelegen. Arbeitsfähigkeit bestehe weiterhin, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten könnten vollschichtig verrichtet werden.

Der R1 verwies in seinem Befundschein auf den Entlassungsbericht. Die Klägerin sei wegen Beschwerden an den Hüftgelenken zum Orthopäden überwiesen worden. In der Röntgenuntersuchung hätten sich geringfügige Zeichen einer Koxarthrose ergeben. Das Gangbild sei bei den Praxisbesuchen unauffällig gewesen. Es bestehe eine psychoemotionale Erschöpfung, eine Medikation sei nicht erforderlich.

K1 sah versorgungsärztlich Teil-GdB von je 20 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom.

Mit Bescheid vom 6. Juli 2011 stellte das LRA einen GdB von 30 seit dem 9. Mai 2011 fest.

Im Widerspruchsverfahren verneinte K1 neue Gesichtspunkte. Das Wirbelsäulenleiden sei bereits als Schaden mit geringen bis mittelgradigen funktionellen Auswirkungen berücksichtigt. Merkliche neurologische Ausfälle bestünden nicht. Von Seiten der Hüftgelenke lägen nach Physiotherapie keine wesentlichen Beschwerden mehr vor. Für das psychovegetative Erschöpfungssyndrom mit depressiver Verstimmung sei keine Medikation erforderlich, eine behandlungsbedürftige Hepatopathie bestehe nicht und bedinge somit auch keinen Teil-GdB von 10. Eine Pannikulitis sei nicht nachgewiesen, führe aber auch zu keinem GdB von wenigstens 10, da sie behandelbar sei und keine dauerhafte Behinderung darstelle.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 29. Dezember 2011 zurück. Die beim Sozialgericht Freiburg (SG – S 20 SB 399/12) erhobene Klage wurde zurückgenommen.

Am 21. Oktober 2013 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB. Vorgelegt wurde der Entlassungsbericht über die vom 28. Mai bis 2. Juli 2013 in der psychosomatischen Fklinik S1 durchgeführte stationäre Rehabilitation. Darin wurden als Diagnosen eine mittelgradige depressive Episode, eine Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine nichtorganische Insomnie, eine Hypercholesterinämie sowie degenerative HWS-Veränderungen beschrieben. Das berufliche Leistungsvermögen sowohl für die letzte Tätigkeit als Küchenhilfe wie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wurde auf sechs Stunden und mehr eingeschätzt. Die Klägerin habe sich während des Heilverfahrens somatisch und psychisch stabilisieren können. Sie sei mit Wirk- und Übungsprinzipien von Entspannungsverfahren vertraut gemacht worden und könne diese nun selbstständig und mit positiver Wirkung anwenden. Es sei ihr gelungen, ein wenig mehr Akzeptanz für die komplizierte Trauerreaktion im Zusammenhang mit dem Unfall des Sohnes aufzubringen. Die Schlafqualität und -quantität habe sich nur leicht verbessert. Die Rückenschmerzen in der Brustwirbelsäule (BWS) hätten abgenommen.

Der R1 gab in seinem Befundschein an, dass die Klägerin seit dem Tod ihres Sohnes vor 15 Jahren unter einer somatogenen Schmerzstörung mit chronischen Nacken-, Rücken- und Beinschmerzen leide. Die Lebensfreude und der Antrieb seien erheblich gestört. Die Rehabilitationsmaßnahme habe ihr gut getan, daneben bestehe noch ein Problem am Arbeitsplatz, wo eine mangelnde Wertschätzung vorhanden sei.

B sah versorgungsärztlich einen Teil-GdB von 30 für das psychovegetative Erschöpfungssyndrom und weiter einen Teil-GdB von 20 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule. Derzeit bestehe kein Hinweis auf eine bösartige Veränderung in der linken Brust. Eine chronische Tonsilitis ohne Funktionsstörungen begründe keinen GdB. Der Gesamt-GdB betrage 40.

Mit Bescheid vom 23. Januar 2014 stellte das LRA einen GdB von 40 seit dem 21. Oktober 2013 fest.

Zu dem Widerspruch der Klägerin führte K1 versorgungsärztlich aus, dass sich das psychische Leiden zwar etwas verschlimmert habe, berufliche Belange bei der Bewertung des GdB aber nicht berücksichtigt werden könnten. An der Wirbelsäule bestünden keine schwergradigen Veränderungen, es handele sich hauptsächlich um muskuläre Einschränkungen. Gestützt hierauf wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2014 zurück.

Am 11. September 2018 beantragte sie wiederum – streitgegenständlich – die Neufeststellung des GdB. Der L beschrieb in seinem Befundbericht aufgrund ambulanter Untersuchung vom 12. April 2016 Schmerzen in beiden Beinen, ausstrahlend von der Wirbelsäule in beide Knie. Die Hüften seien frei beweglich, die Kniegelenke beidseits schmerzhaft. Die Röntgenuntersuchung von Knie und Lendenwirbelsäule (LWS) habe keine wesentliche Arthrose und beginnende degenerative LWS-Veränderung gezeigt. Bei der weiteren Untersuchung am 7. Dezember 2016 bestand bei geklagten rezidivierenden Lumboischialgien kein neurologisches Defizit, Sensibilität und Durchblutung waren altersentsprechend normal.

Die Kernspintomographie (MRT) des Kopfes vom 3. Juni 2016 (S2) ergab keinen Anhalt für eine rezente ischämische Läsion. Der W gab nach ambulanter Untersuchung vom 6. September 2016 den Verdacht auf eine Borreliose an. Die MRT habe unspezifische Marklagerherde gezeigt, in der Basisblutuntersuchung habe eine positive Borrelien-Serologie bestanden.

Die MRT der HWS vom 15. März 2017 (R2) zeigte bei HWK 5/6 eine Osteochondrose mit knöchern eingeengten Neuroforamen links.

Im Entlassungsbericht der Rklinik Ü über die stationäre Rehabilitation vom 31. Mai bis 28. Juni 2018 wurde ein Bewegungs- und Belastungsdefizit der LWS bei Spondylose, ein cervicocephales Syndrom mit Funktionseinschränkung der HWS, eine reduzierte Flexibilität und Umstellungsfähigkeit bei Angst und depressiver Störung, ein somatoformes Schmerzsyndrom sowie ein Zustand nach Neuroborreliose mit antibiotischer Therapie 2016 beschrieben. Die Klägerin sei arbeitsfähig aufgenommen und entlassen worden, es bestünden keine relevanten Einschränkungen bei der Selbstversorgung im Alltag oder bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Klägerin sei deprimiert gewesen, dabei durchgehend sicher orientiert. Inhaltlich dominierten Angstgedanken sowie Sorgen über die Erkrankung. Psychomotorisch sei sie angespannt. Hinweise für eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Formenkreis hätten sich nicht ergeben, ebenso keine ausgeprägte Bewältigungsproblematik im Umgang mit den vorliegenden Gesundheitsstörungen. Die Beschwerden im HWS- und LWS-Bereich hätten gebessert werden können, Nachsorgeleistungen seien angeboten, aber nicht in Anspruch genommen worden.

Der B1bewertete die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule nunmehr mit einem Teil-GdB von 30, zusammen mit dem Teil-GdB von 30 für das psychovegetative Erschöpfungssyndrom ergäbe sich keine höhere Gesamt-Bewertung.

An Antrag lehnte das LRA mit Bescheid vom 15. Oktober 2018 ab, da sich die Verhältnisse zwar geändert hätten, sich aber keine Neufeststellung des GdB rechtfertige.

Im Widerspruchsverfahren erhob das LRA Befundscheine der behandelnden Ärzte.

Die S3 beschrieb seit dem Tod des Sohnes vor 15 Jahren bestehende depressive Verstimmungen. Durch die ambulante Psychotherapie sowie begleitend die Therapie mit einem Antidepressivum und die stationäre Rehabilitationsmaßnahme habe sich der Zustand verbessert, wobei die Klägerin durch die Arbeit in der Großküche weiter stark belastet sei. Die Psychotherapie sei am 14. Oktober 2013 beendet worden, seitdem habe sie keinen Kontakt mehr mit der Klägerin gehabt.

Z wies versorgungsärztlich darauf hin, dass eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bereits berücksichtigt sei. Eine schwere Störung sei nicht erkennbar, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen anerkannt. Sensomotorische Defizite bestünden nicht, die Polymaylgia rheumatica sei mitberücksichtigt.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 7. August 2019 zurück. Wie die Auswertung der vorliegenden Befundunterlagen gezeigt habe, lasse sich eine Verschlimmerung, die eine Erhöhung des GdB rechtfertigen könne, nicht feststellen.

Am 9. September 2019 hat die Klägerin erneut Klage beim SG erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte eingeholt hat.

Der A hat mittelgradige Gesundheitsstörungen beschrieben. Das Fibromyalgiesyndrom dominiere, die Schmerzen würden ohne Steroid nicht wesentlich anders angegeben. Lähmungen an den Beinen bestünden nicht, es liege nicht nur eine degenerative, sondern auch entzündliche Grunderkrankung vor. Der versorgungsärztlichen Einschätzung sei zu folgen.

Der S4 hat bekundet, dass die bestehenden Gesundheitsstörungen wegen der Fibromyalgie schwer eingeordnet werden könnten. Auch wenn bei der Untersuchung nur leichte Schmerzen auszulösen seien, habe die Klägerin unter Umständen ein deutlich verstärktes Schmerzempfinden. Es werde daher die Vorstellung beim Rheumatologen empfohlen, zumal von dort schon die Diagnose einer somatoformen Störung gestellt worden sei. Nach seinen Unterlagen schätze er den GdB zumindest nicht höher, als vom versorgungsärztlichen Dienst angenommen ein.

Die S5 hat mitgeteilt, die Klägerin nur wegen eines grippalen Infekts und zur Blutkontrolle in ihrer Praxis behandelt zu haben. Im Übrigen finde die Behandlung bei A statt.

Die S3 hat auf die ambulante Psychotherapie vom 15. Oktober 2012 bis 12. Dezember 2013 verwiesen und ihre Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Der GdB sei auf 50 einzuschätzen. Ergänzend hat sie den bereits aktenkundigen Entlassungsbericht der psychosomatischen Fklinik S1 über die stationäre Rehabilitation 2013 vorgelegt.

Anschließend hat das SG das psychiatrische Sachverständigengutachten des E aufgrund ambulanter Untersuchung vom 21. Februar 2020 erhoben. Diesem gegenüber hat die Klägerin angegeben, unter verschiedenen orthopädischen Erkrankungen zu leiden. Aktuell werde keine Pharmako- oder Psychotherapie durchgeführt, zwei Jahre lang habe sie Antidepressiva und gelegentlich Ibuprofen als Schmerzmittel eingenommen. Bei der Begutachtung habe die Klägerin eine seit Jahren in wechselnder Ausprägung gedrückte Stimmung, Deprimiertheit (traurig und weine viel), Antriebsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen und vegetative Störungen beschrieben. Außerdem seien immer wieder Verlangsamung und Widerstand gegen intendierte Tätigkeit aufgetreten. Sie könne ein-, aber nicht durchschlafen. Sie habe zu nichts mehr Lust, gehe nicht mehr fort, wolle nicht mehr unter Leute gehen. Dieser Zustand bestehe seit vielen Jahren, seit dem Tod ihres Sohnes, sei nicht immer so, aber zu 90 % der Zeit vorhanden. Außerdem erlebe sie besonders ausgeprägte Phasen, in denen alles schwer und langsam von der Hand gehe, sie sich zu allem zwingen müsse und sich die anderen Beschwerden verschlimmerten. In diesen Zeiten könne sie nicht arbeiten, sei zu langsam und habe keine Kraft. Sie sei zuletzt im Dezember vier Wochen krank und über sechs Wochen arbeitsunfähig gewesen. Sie werde von einem Rheumatologen behandelt, gehe zu keinem Psychiater, habe aber einmal eine Kur gemacht. Zum Tagesablauf habe sie beschrieben, arbeiten zu gehen und danach keine Kraft und Lust mehr zu haben. Sie gehe keinen Freizeitaktivitäten nach, den Haushalt erledige ihr Mann. Bei der orientierenden Untersuchung hätten sich, abgesehen von Bewegungseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule, keine pathologischen Befunde gezeigt. Die Klägerin sei wach und bewusstseinsklar gewesen, habe keine Vigilanzstörungen gehabt. Sie sei zu allen Qualitäten orientiert gewesen. Auffassungsgabe, Merkfähigkeit und Gedächtnis hätten sich klinisch nicht beeinträchtigt gezeigt. Die Konzentrationsfähigkeit sei subjektiv beeinträchtigt und die affektive Schwingungsfähigkeit eingeschränkt gewesen, mit einem deprimierten Affekt. Der Antrieb habe sich vermindert mit Erschöpfbarkeit, Energie- und Lustlosigkeit gezeigt. Es habe eine psychomotorische Hemmung mit Verlangsamung und Widerstand gegen intendierte Tätigkeiten bestanden. Der formale Gedankengang sei geordnet, gehemmt und eingeengt. Inhaltliche Denkstörungen im Sinne eines Wahns, Störungen der Wahrnehmung oder des Ich-Erlebens seien nicht explorierbar gewesen, ebenso keine Suizidabsichten. In den Akten seien psychische Beschwerden dokumentiert. Die behandelnde Psychotherapeutin diagnostiziere eine mittelschwere Depression mit somatischem Syndrom, in einer psychosomatischen Fklinik sei 2013 eine mittelgradige depressive Episode beschrieben worden, neuere fachärztliche Berichte fehlten. Auf Syndromebene leide die Klägerin unter einem depressiven Syndrom, wobei eine vermehrte Schmerzwahrnehmung Bestandteil des depressiven Syndroms sei. Dieses sei mittelschwer bis schwer ausgeprägt. Für ein schweres Syndrom spreche die Antriebshemmung, wobei die Klägerin nur gelegentlich arbeitsunfähig sei, was bei schweren depressiven Syndromen eher unüblich sei. Es müsse von einem chronischen Verlauf ausgegangen werden. Syndromdiagnosen seien noch keine psychiatrischen Diagnosen im eigentlichen Sinn, beschrieben nur eine typische Verbindung von Symptomen, keine Krankheitsursachen. Nach den Kriterien der ICD-10 seien bei ihr sowohl die Kriterien einer schweren depressiven Episode im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung als auch eines somatischen Syndroms erfüllt. Im traditionellen Sinne handele es sich damit um eine endogene Depression, eine affektive Psychose. Diese trete in Phasen auf, verschwinde zwischen den Phasen aber nicht vollständig. Bei der Klägerin träten nur depressive Phasen auf, deswegen fehle es für eine bipolare Störung oder eine manisch-depressiven Erkrankung an den zusätzlichen manischen Phasen. Bei der sozialmedizinischen Einschätzung sei zu berücksichtigen, dass die depressive Episode in den VG nicht genannt werde. Die endogene Depression bzw. depressive Episode mit somatischem Syndrom könne bei den affektiven Psychosen oder bei Annahme, dass es sich nicht um eine endogene Depression handele, bei den depressiven Neurosen eingeordnet werden. Für das Landessozialgericht zählten nur bipolare Störungen zu den affektiven Psychosen. Somit sei eine Einordnung bei den depressiven Neurosen möglich, auch wenn es sich nicht um eine Neurose handele. Der GdB betrüge dann mindestens 40. Zu berücksichtigen seien aber die erheblichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die häufigen Zeiten von Arbeitsunfähigkeit, die fehlende Fähigkeit zur Haushaltsführung sowie der soziale Rückzug. Bei einer Einordnung bei den affektiven Psychosen sei bei einem chronischen Verlauf mit immer wieder auftretenden schweren Episoden und fehlender oder nicht immer vorhandener Vollremission ein GdB von 60 gerechtfertigt. Der Gesamt-GdB sei unter Berücksichtigung der orthopädischen Beeinträchtigungen auf 50 bzw. 60 einzuschätzen. Abweichungen entstünden dadurch, dass bei der aktuellen Befunderhebung andere Befunde erhoben worden seien als in den Akten dokumentiert.

Der Beklagte ist dem Sachverständigengutachten unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des B entgegengetreten. Die Bildung des Gesamt-GdB sei widersprüchlich und zu konstatieren, dass die Klägerin aktuell keine Medikamente einnehme und keine fachärztliche Behandlung erfolge. Wegen der fehlenden ärztlichen Behandlung könne nicht davon ausgegangen werden, dass das diagnostizierte seelische Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgehe und bereits eine stärker behindernde Störung darstelle. Ein entsprechender Leidensdruck der Klägerin, der bei einer stärker behindernden seelischen Störung zu erwarten sei, finde sich nicht. Der Teil-GdB sei mit 30 nicht zu knapp bewertet und in der Tendenz eher zu 20 zu sehen. Es werde weiterhin ein Gesamt-GdB von 40 empfohlen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 21. Dezember 2020 den Bescheid vom 15. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2019 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin einen GdB von 50 seit dem 11. September 2019 festzustellen. Auf Grund der medizinischen Sachverhaltsaufklärung sei die Kammer davon überzeugt, dass bei der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet eine Neurose mit stärker behindernden Störungen als Funktionsbeeinträchtigung anzunehmen sei. E habe nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die Funktionsstörungen der Klägerin auf psychiatrischem Gebiet als mittelschwer bis teilweise sehr schwer einzustufen seien. Dies zeige sich auch im Tagesablauf der Klägerin, die keine Freizeitaktivitäten mehr unternehme, ihren Haushalt vom Ehemann erledigen lasse. Darüber hinaus sei sie wiederholt arbeitsunfähig gewesen, sodass ein Teil-GdB von 40 anzunehmen sei. Der versorgungsärztlichen Stellungnahme des B sei nicht zu folgen, weil sich dieser vom Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen mangels eigener ambulanter Untersuchung keinen persönlichen Eindruck habe verschaffen können. Auf orthopädischem Fachgebiet bestünden eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen, Polymyalgie rheumatica, die mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten seien. Weitere Gesundheitsstörungen lägen nicht vor, sodass aus dem Teil-GdB von 40 und dem Teil-GdB von 30 ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden sei.

Am 12. Januar 2021 hat der Beklagte Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 2. Juli 2020 begründe ausführlich, weshalb dem Sachverständigengutachten des E nicht gefolgt werden könne. Es finde keine fachärztliche oder medikamentöse Behandlung statt, sodass der Teil-GdB von 30 schon als weitreichend anzusehen sei. Daneben seien die psychischen Gesundheitsstörungen nicht, wie das SG meine, nach den „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG), Teil B, Nr. 3.6, sondern nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 zu bewerten.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 21. Dezember 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Beklagten ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 21. Dezember 2020, mit dem auf die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) der Bescheid vom 15. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 7. August 2019 aufgehoben und der Beklagte verpflichtet worden ist – sinngemäß unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 23. Januar 2014 – einen GdB von 50 seit dem 11. September 2018 festzustellen. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).

Die Begründetheit der Berufung des Beklagten folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 15. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie kann die Neufeststellung des GdB nicht beanspruchen, da nach Überzeugung des Senats eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen nicht vorliegt, was der Sachverständige und ihm folgend das SG verkannt haben. Der Gutachter E hat maßgebliche Anknüpfungstatsachen nur unzureichend bzw. gar nicht berücksichtigt, seine – rechtliche – GdB-Einschätzung korrespondiert nicht mit den einschlägigen Bewertungsvorgaben, weswegen dessen Einschätzungen schon deshalb nicht gefolgt werden kann. Das SG hätte der Klage daher nicht stattgeben dürfen, sondern sie abweisen müssen.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigsten 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise –  aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, da sich der Senat in Auswertung der ärztlichen Befunde nicht davon überzeugen konnte, dass gegenüber dem maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 23. Januar 2014, mit dem ein GdB von 40 festgestellt wurde, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Damals war der Zustand der Klägerin davon geprägt, dass infolge der zwei dramatischen Lebensereignisse mit dem Unfalltod ihres Kindes mit nachfolgendem Herzinfarkt ihres Ehemanns eine akute psychische Dekompensation mit der Erforderlichkeit intensiver Behandlung in ambulanter und stationärer Form bestand. Demgegenüber konnte 2018 stationär eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Formenkreis ausgeschlossen werden. Folgerichtig hat die Klägerin seitdem keinerlei richtungsweisende Behandlung mehr in Anspruch nehmen müssen.

Das SG hat verkannt, dass die Klägerin eine Verschlechterung noch nicht einmal selbst gegenüber dem Sachverständigen E behauptet, sondern vielmehr einen seit Jahren bestehenden gleichbleibenden Zustand beschrieben hat, was der Sachverständige aber zu Unrecht nicht gewürdigt hat. Bereits deswegen ist kein Raum für eine Verurteilung gewesen, dies umso mehr, als der Sachverständige sich für seine aktuelle Einschätzung gerade auf die Vergleichsbefunde gestützt hat, anstatt sich ausgehend von diesen ein Bild über eine mögliche Verschlechterung zu verschaffen. Deswegen ist sein Gutachten in sich schlicht unschlüssig.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage VG zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Gesamt-GdB mit 40 nicht rechtswidrig zu niedrig festgestellt ist.

Die vorwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin liegen im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ und sind mit keinem höheren Teil-GdB als 30 zu bewerten, wie versorgungsärztlich zu Recht dargelegt worden ist.

Zu Unrecht hat das SG auf die VG, Teil B, Nr. 3.6 abgestellt, wie der Beklagte zu Recht gerügt hat. Denn der Anwendungsbereich von VG, Teil B Nr. 3.6 (schizophrene und affektive Psychosen) ist bei Gesundheitsstörungen ohne psychotische Symptome nicht eröffnet (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 2017 – L 6 SB 4936/15 –, juris, Rz. 41). Bei der Klägerin wurde aber keine Psychose diagnostiziert und auch die rezidivierende depressive Störung ist nicht mit psychotischen Symptomen (ICD-10-GM-2017 F33.3) einhergegangen.

Nach den somit einschlägigen VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Nach diesen Maßstäben waren 2013, dem Vergleichszeitpunkt, noch führende Diagnosen eine mittelgradige depressive Episode, eine Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine nichtorganische Insomnie, die einer sechswöchigen Rehabilitationsbehandlung sowie flankierend einjährig einer ambulanten Psychotherapie bedurfte. Das führte dazu, dass versorgungsärztlich weiterhin eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit für begründet erachtet wurde.

Demgegenüber stand 2018 die Behandlung seitens der Wirbelsäule im Vordergrund. Zusätzlich bestehen daneben bei der Klägerin eine depressive Störung sowie ein somatoformes Schmerzsyndrom, wie der Senat dem insoweit maßgebenden Entlassungsbericht der Rklinik Ü aus 2018 entnimmt, den er im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]). Danach war die Klägerin zwar deprimiert und psychomotorisch angespannt, aber durchgehend sicher orientiert. Hinweise für eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Formenkreis wurden folgerichtig ebenso verneint wie eine ausgeprägte Bewältigungsproblematik im Umgang mit den vorliegenden Gesundheitsstörungen. Dementsprechend wurde beschrieben, dass keine relevanten Einschränkungen bei der Selbstversorgung im Alltag oder bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bestehen, also gerade die Kriterien für eine Bewertung des Einzel-GdB mit 30 oder mehr verneint.

Im Rahmen der psychologischen Seminare „Chronischer Schmerz“ und „Gesund trotz Stress“ klagte die Klägerin zwar über eine Vielzahl von Beschwerden, trotzdem fehlte es an der zu erwartenden Motivation zur Veränderung. Dennoch konnte in der nur kurzzeitig bemessenen vierwöchigen Maßnahme ein erfreulicher Therapieerfolg verzeichnet werden, nachdem die Klägerin an den angebotenen Veranstaltungen mit Behandlungsschwerpunkt Teilnahme an der Rückenschule wie Verbesserung der Schmerzsymptomatik mit psychosomatischer Komponente regelmäßig und motiviert teilnehmen konnte. Es kam zu einer deutlichen Verbesserung der Schmerzsymptomatik und der Schlafstörungen.

Aus dem Entlassungsbericht wird ferner ersichtlich, dass die psychischen Einschränkungen der Klägerin schon zu Beginn der Maßnahme ihre Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt haben, sie vielmehr bereits als arbeitsfähig in die Rehabilitation aufgenommen wurde, ihre Beschwerden einer therapeutischen und insbesondere medikamentösen Behandlung zugänglich gewesen sind und während des Aufenthaltes keine Einschränkungen bei der Teilnahme an den Veranstaltungen bestanden haben.

Wenn die Klägerin demgegenüber bei dem Sachverständigen E seit Jahren bestehende vielfältige Einschränkungen berichtet, dieser schlussfolgert, dass eine erhebliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit besteht und häufige Zeiten von Arbeitslosigkeit vorlägen, stimmt das daher nicht. Den Umstand, dass in der Rehabilitation eine deutliche Besserung gerade unter medikamentöser Therapie erreicht werden konnte, die Klägerin gegenüber E indessen eine Medikamenteneinnahme verneint hat, würdigt der Sachverständige zu Unrecht nicht. Darin kann allenfalls ein fehlender Leidensdruck zum Ausdruck kommen, zumal im Gegensatz zu 2012/2013 keine fachärztliche Behandlung in Anspruch genommen wird.

Wenn E deshalb für seine Einschätzung auf die Berichte der S3 und den Entlassungsbericht aus 2013 zurückgreift, übersieht er, dass S3 nach eigenem Bekunden die Klägerin seit 2013 nicht mehr behandelt hat. Ebenso würdigt er die fehlende medikamentöse Therapie, unter der es in der Rehabilitation 2018 zu Besserungen kam, ebenso wenig die fehlende fachärztliche Behandlung.

Weiter hat er nicht berücksichtigt, dass die Klägerin seit vielen Jahren ohne jegliche therapeutische Unterstützung voll berufstätig sein kann. Zwar ist der GdB unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen (vgl. VG, Teil A, Nr. 2b) und kann aus dem GdB nicht auf das Ausmaß der Leistungsfähigkeit geschlossen werden, dennoch spricht es gegen eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die die Ausschöpfung des Bewertungsrahmens rechtfertigt, dass der Klägerin im Entlassungsbericht 2018 ein vollschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und für die letzte Tätigkeit bescheinigt wird. Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird durch die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit untermauert.

Die Argumentation des E verfängt indessen auch in rechtlicher Hinsicht nicht, da die Befunde der Rklinik 2013 und die Behandlung bei S3 zeitlich vor dem maßgebenden Vergleichsbescheid liegen. Sie sind daher bereits berücksichtigt worden und deshalb nicht geeignet, eine wesentliche Änderung im Vergleich zu diesem Bescheid zu belegen. Ob E den Entlassungsbericht aus 2018 überhaupt zur Kenntnis und in seine Überlegungen mit einbezogen hat, bleibt nach seinen Ausführungen offen, gewürdigt wird er von ihm jedenfalls nicht.

Dessen ungeachtet trägt der von ihm erhobene Befund seine Einschätzung nicht. So hat E selbst die Klägerin als zu allen Qualitäten orientiert, ohne klinische Beeinträchtigung von Auffassungsgabe, Merkfähigkeit und Gedächtnis beschrieben. Die Konzentrationsfähigkeit sieht er nur subjektiv als beeinträchtigt an und die affektive Schwingungsfähigkeit beschreibt er als eingeschränkt mit deprimierten Affekt. Der formale Gedankengang war geordnet, gehemmt und eingeengt. Die zum Tagesablauf beschriebene vollschichtige Erwerbstätigkeit berücksichtigt der Sachverständige nicht, sondern stellt nur auf die spärlichen Angaben der Klägerin ab, keinen Freizeitaktivitäten nachzugehen und den Haushalt vom Ehemann versorgen zu lassen. Letzteres kritisch zu hinterfragen, hätte schon deshalb Anlass bestanden, weil der Ehemann nach Aktenlage an einer Herzerkrankung leidet, jedenfalls in jüngerem Lebensalter einen Herzinfarkt erlitten hat.

Die von ihm erhobenen Befunde tragen daher ebenso wie seine verkürzte Würdigung des Sachverhaltes weder die Annahme einer wesentlichen Verschlimmerung des Befundes, noch rechtfertigen sie eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens. Soweit er häufige Zeiten einer Arbeitsunfähigkeit als Grundlage seiner Bewertung heranzieht, steht dies in Widerspruch zu seinen eigenen Feststellungen dahingehend, dass die Klägerin nur gelegentlich arbeitsunfähig ist. B weist versorgungsärztlich zu Recht darauf hin, dass aufgrund der beschriebenen Befunde die GdB-Bewertung eher Richtung 20 tendiert.

Soweit das SG der versorgungsärztlichen Stellungnahme die Relevanz schon allein deswegen abspricht, weil es an einem persönlichen Eindruck des Versorgungsarztes fehle, verkennt es die Bedeutung versorgungsärztlicher Stellungnahmen grundsätzlich. Es handelt sich bei diesen um qualifiziertes Beteiligtenvorbringen, das sich aus fachlicher Sicht mit dem eingeholten Gutachten insbesondere im Hinblick auf Schlüssigkeit, Überzeugungskraft und Beurteilungsgrundlage auseinandersetzt, ohne selbst Sachverständigengutachten zu sein (vgl. BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R –, juris, Rz. 26). Die versorgungsärztliche Aufgabe besteht somit darin, durch die fachkundige Prüfung dem Beklagten eine fundierte Stellungnahme zu dem Beweisergebnis zu ermöglichen. Im konkreten Einzelfall hat B daher seiner Aufgabe entsprechend die Aktenlage und die Befunde des E gewürdigt und – zu Recht – darauf hingewiesen, dass diese die Schlussfolgerungen des Sachverständigen nicht tragen. Hierfür bedurfte es einer persönlichen Untersuchung der Klägerin gerade nicht. Auch wenn es sich bei der versorgungsärztlichen Stellungnahme um kein Beweismittel im Sinne des Beweises durch Sachverständige handelt, ist sie im Rahmen des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 6. Oktober 2016 – B 5 R 45/16 B –, juris, Rz. 19; BSG, Urteil vom 23. September 1957 – 2 RU 113/57 –, juris, Rz. 8). Dies verkennt das SG, wenn es den versorgungsärztlichen Ausführungen wegen einer gerade nicht durchzuführenden Untersuchung jegliche Bedeutung abspricht und diese unter Verweis darauf faktisch übergeht. Im Übrigen erlaubt sich der Senat den Hinweis, dass gute Sachverständigengutachten, denen der Beklagte ohne Weiteres folgen kann, den persönlichen Eindruck, den der Sachverständige gewonnen hat, bereits aus sich heraus für Dritte plastischer und nachvollziehbarer machen können, was E deshalb nicht gelingt, weil er nur spärliche Befunde bei der Klägerin erhoben und mitgeteilt hat.

Im Funktionssystem „Rumpf“ besteht kein höherer Teil-GdB als 30, wie er versorgungsärztlich ebenfalls gesehen worden ist.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung und Minderbelastbarkeit) sowie die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu werten (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 j). Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der Wirbelsäule (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.

Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz-dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Teil-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen - oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose - sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Nach diesen Maßstäben liegen schwergradige Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, die mit einem höheren Teil-GdB als 30 zu bewerten wären, nicht vor. Vielmehr entnimmt der Senat dem Sachverständigengutachten des E, dass bei der orientierenden Untersuchung abgesehen von Bewegungseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule keine pathologischen Befunde bestanden. Der behandelnde S3 hat in seiner sachverständigen Zeugenauskunft bekundet, die bestehenden Gesundheitsstörungen wegen der psychischen Überlagerung, die auch E und der Internist/Rheumatologe A gesehen haben, nur schwer einordnen zu können. Ergänzend führt er schlüssig aus, dass bei der Untersuchung nur leichte Schmerzen ausgelöst werden konnten, sodass er den GdB nicht höher bewertet, als versorgungsärztlich angenommen. Im Entlassungsbericht der Rklinik wird zwar die BWS-/LWS-Rotation nur mit 10-0-10° (Norm: 30 bis 50°-0-30 bis 50°) angegeben, indessen ergab das Zeichen nach Ott mit 30:32 cm einen Normalbefund und das Zeichen nach Schober zeigte mit 10:14 cm nur leichte Einschränkungen. Die Beweglichkeit der HWS wird bei Entlassung für die Rotation mit 55-0-55° und Seitneigung rechts/links 30-0-30° beschrieben, was endgradigen Bewegungseinschränkungen entspricht und die beschriebene deutliche Besserung des Befundes plausibel erscheinen lässt. Passend hierzu hat K1 versorgungsärztlich die Beschwerden als hauptsächlich muskulär bedingt eingeordnet und eine Nachsorge, wie von der Rklinik 2018 vorgeschlagen, ist von der Klägerin nicht gewünscht worden.

Weitere GdB-relevante Gesundheitsstörungen sind nicht objektiviert. Soweit ein Schwindel in den Akten dokumentiert ist, ergibt sich hieraus im Funktionssystem „Ohren“ (vgl. VG, Teil B, Nr. 5.3) kein Teil-GdB, da der HNO-Arzt H eine Spontanremission beschrieben hat. Bei geklagten Hüftbeschwerden (vgl. VG, Teil B, Nr. 18.14) beschreibt der Allgemeinmediziner Renkewirt ein unauffälliges Gangbild. Der L hat eine freie Hüftbeweglichkeit befundet und ein neurologisches Defizit im Bereich der Beine verneint, sodass auch in diesem Funktionssystem kein Teil-GdB besteht. Bei beschriebenen Zustand nach Neuroborreliose hat der W keine verbliebenen Ausfallerscheinungen objektiviert und solche sind im Entlassungsbericht der Rklinik 2018 ebenfalls nicht beschrieben,

Der Gesamt-GdB ist daher aus den Teil-GdB von maximal 30 im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ und maximal 30 im Funktionssystem „Rumpf“ zu bilden, wobei zu berücksichtigen ist, dass aufgrund des somatoformen Schmerzsyndroms erhebliche Überschneidungen der Funktionssysteme vorliegen, sodass sich ein höherer Gesamt-GdB als 40, wie ihn der Beklagte bereits festgestellt hat, nicht rechtfertigt. Das wird von sämtlichen behandelnden Ärzten bestätigt, die deutliche Überschneidungen zwischen der orthopädischen und der psychischen Symptomatik sehen, die von E bestätigt wurden und die ebenfalls gegen eine Höherbewertung sprechen. Daneben kommt eine Neufeststellung schon deshalb nicht in Betracht, da es an einer wesentlichen Änderung im Befund fehlt (siehe oben).

Auf die Berufung des Beklagten waren daher der Gerichtsbescheid des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen der Klägerin in beiden Instanzen.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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