L 6 SB 1444/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 575/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 1444/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. März 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 


Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Er ist 1943 geboren, hat eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann absolviert und war viele Jahre im Außendienst tätig. Zuletzt war er bei einem Paketdienst beschäftigt, bis er die Tätigkeit aufgrund von Rückenschmerzen nicht mehr ausüben konnte. Er ist verheiratet und hat einen nicht mehr in seinem Haushalt lebenden Sohn.

Am 17. November 1998 beantragte er bei dem Versorgungsamt R (VA) erstmals die Feststellung des GdB. Dieses stellte mit Bescheid vom 21. Januar 1999 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheides vom 5. März 1999 einen GdB von 30 seit dem 17. November 1998 fest und berücksichtigte als Funktionseinschränkungen ein Wirbelsäulen-Syndrom mit Wurzelkompressionssymptomatik, einen Diabetes mellitus und eine arterielle Hypertonie. Den weitergehenden Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg mit Widerspruchsbescheid vom 12. April 1999 zurück. Die beim Sozialgericht Reutlingen (SG – S 4 SB 1010/00) erhobene Klage wurde abgewiesen.

Am 28. Januar 2013 beantragte er bei dem Landratsamt R1 (LRA) die Neufeststellung des GdB. Vorgelegt wurde der Befundbericht des D vom 10. Februar 2012. Danach bestehe ein Wurzelkompressionssyndrom L3 und L4 links mit im Vordergrund stehender Kniestreckerparese links, diskreter Hüftbeugerparese links und diskreter Fußheberparese links. In der Kernspintomographie (MRT) seien Bandscheibenvorfälle L4/5 und L5/S1 ersichtlich.

Im Entlassungsbericht der A-Klinik S über die stationäre Rehabilitation vom 1. bis 20. Oktober 2012 wurden Dauerschmerzen im linken Bein, teilweise verbunden mit einer Unsicherheit beim Laufen beschrieben. Durch die Therapien habe eine Kräftigung der Rückenmuskulatur erreicht werden können. Der Kläger habe besser und sicherer laufen können. Wegen der Fußheberparese sei eine Arthrosan-Orthese verordnet worden, die mit positivem Effekt benutzt werde.

Der K wies nach ambulanter Untersuchung darauf hin, dass die Fußheberparese rechts nicht suffizient erklärt sei.

Das LRA holte den Befundschein des W vom 19. Februar 2013 ein, der eine linkskonvexe Wirbelsäulenskoliose mit deutlich eingeschränkter Beweglichkeit beschrieb. Das Gehvermögen sei massiv eingeschränkt, der Kläger nur mit Mühe in der Lage, vom Parkplatz in die Praxis zu gehen. Die Gehstrecke liege unter 200 Meter, es bestünden deutliche Muskelatrophien im Bereich beider Beine und eine Gehunsicherheit. Gehstöcke würden genutzt.

F bewertete versorgungsärztlich die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule wie den Diabetes jeweils mit einem Teil-GdB von 50 und sah die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „G“ (besondere Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) als gegeben an.

Mit Bescheid vom 6. Mai 2013 stellte das LRA dem folgend einen GdB von 70 seit dem 28. Januar 2013 und das Merkzeichen „G“ fest.

Am 10. Juli 2015 beantragte der Kläger wiederum die Neufeststellung des GdB und die Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ und „RF“ (Rundfunkgebührenermäßigung).

Das LRA holte den Befundschein des K ein, der eine Fußheberparese rechts unklarer Genese bei bekanntem Bandscheibenvorfall L5/S1 links mehr als rechts beschrieb, weiterhin eine Coxarthrose rechts mehr als links mit hälftiger Gelenkspaltreduktion und Belastungsschmerz. Die Beugung/Streckung sei bis 130-0-0° möglich, die Abduktion beidseits bis 30°.

A1 bewertete versorgungsärztlich die Funktionsbehinderung der Hüftgelenke zusätzlich mit einem Teil-GdB von 20 und sah einen Gesamt-GdB von 80, den das LRA mit Bescheid vom 3. Dezember 2015 feststellte. Die Feststellung der Merkzeichen „aG“ und „RF“ wurde abgelehnt.

Am 16. August 2018 wurde erneut die Neufeststellung des GdB und des Merkzeichens „aG“ beantragt.

Die S1 gab in ihrem Befundschein an, dass der Langzeitblutzuckerwert unter Insulintherapie von >10% auf zuletzt 7,8 % habe gebessert werden können. Es bestünden diabetische Folgekomplikationen in Form einer beginnenden diabetischen Retinopathie und Nephropathie. Organfunktionsstörungen folgten hieraus noch keine. Schwere Hypoglykämien seien bislang nicht aufgetreten. Bei inzwischen vorhandener koronarer Herzerkrankung sei die Compliance des Klägers zur guten Blutzuckereinstellung gebessert, auch das Tragen eines Gewebssensors zur kontinuierlichen Gewebszuckermesser erleichtere die Verbesserung der Diabeteseinstellung. Ergänzend legte sie ihre Befundberichte und den Bericht des M vom 23. November 2015 vor, wonach sich milde diabetogene Veränderungen gezeigt hätten.

Das LRA zog den Entlassungsbericht der Kreiskliniken R1 über die stationäre Behandlung vom 10. bis 13. April 2017 bei. Darin wurde eine koronare 3-Gefäßerkrankung mit guten Langzeitergebnissen nach DES-Implantation beschrieben. Nach erneuter Stent-Implantation werde eine ASS-Monotherapie empfohlen.

Der W teilte in seinem Befundschein mit, dass die Gehfähigkeit durch die Fußheberschwäche rechts bei Bandscheibenvorfall L4/5 sowie Peroneusläsion rechts eingeschränkt sei. Zusätzlich werde über Schmerzen im Bereich der rechten Hüfte bis zum Knie ausstrahlend geklagt. Der Kläger berichte, wegen der Schmerzen nach 50 Metern stehen bleiben zu müssen. Die Abduktion beider Beine im Hüftbereich sei leichtgradig eingeschränkt. Kardiologisch bestünden derzeit keine Beschwerden, eine klinische Symptomatik bezüglich des NYA-Stadiums aufgrund der eingeschränkten Gehfähigkeit und Belastbarkeit sei nicht feststellbar. Aktuelle Befunde lägen nicht vor.

Z führte versorgungsärztlich aus, dass eine koronare Herzerkrankung (KHK) mit Stentimplantation und leichtgradiger Herzleistungsminderung zusätzlich anerkannt werden könne (Teil-GdB 20). Das Wirbelsäulenleiden habe sich verschlimmert, es bestehe eine Fußheberparese rechts. Hieraus resultiere eine Verschlechterung der Gehfähigkeit, sodass der Nachteilsausgleich „B“ (ständige Begleitung) empfohlen werde, die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „aG“ lägen nicht vor.

Mit Bescheid vom 8. Oktober 2018 stellte das LRA einen GdB von 90 seit dem 16. August 2018 und das Merkzeichen „B“ fest. Das Merkzeichen „aG“ wurde abgelehnt.

Im – gegen die Ablehnung des Merkzeichens „aG“ gerichteten – Widerspruchsverfahren erhob das LRA einen weiteren Befundschein des W. Danach hätten sich seit dem letzten Bericht keine grundsätzlichen Änderungen ergeben. Der Kläger nutze als Hilfsmittel einen Gehstock und teilweise Gehstützen. Aufgrund der Beschwerden im Bereich des linken Beines fänden regelmäßig krankengymnastische Behandlungen statt. Die Gehsicherheit sei eingeschränkt.

Nachdem F versorgungsärztlich keinen neuen Befund und keine Anhaltspunkte für eine Rollstuhlpflichtigkeit sah, wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2019 zurück. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung, die einen GdB von mindestens 80 bedinge, liege nicht vor. Bei dem festgestellten Gesamt-GdB von 90 seien auch Gesundheitsstörungen berücksichtigt, die sich nicht auf die Gehfähigkeit auswirkten. Die festgestellten Funktionsstörungen führten nicht dazu, dass sich der Kläger dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb des Kraftfahrzeuges bewegen könne oder aus medizinischer Notwendigkeit, auch für sehr kurze Entfernungen, auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen sei.

Am 4. März 2019 hat er erneut Klage beim SG erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte eingeholt hat.

Die S1 hat bekundet, den Kläger bereits seit August 2018 nicht mehr gesehen zu haben, sodass ihr keine Beurteilung hinsichtlich einer Gangverschlechterung möglich sei. Eine Rollstuhlpflichtigkeit liege nicht vor. Weiter hat sie einen Diabetes Typ 2 beschrieben, der chronisch bei bestehender Insulinwirk- und sekretionsstörung entgleist sei.

Der W hat bekundet, dass bei dem Kläger eine Herzinsuffizienz nach kardialer Dekompensation bei reduzierter systolischer Pumpfunktion bestehe. Der Zustand sei kompensiert. Aufgrund der eingeschränkten Gehfähigkeit liege keine Belastungsdyspnoe vor. Die arterielle Hypertonie zeige derzeit normatensive Werte. Daneben bestehe ein schwergradiges LWS-Syndrom mit Zustand nach Bandscheibenvorfall L4/5 und Peroneusläsion rechts. Beim Gehen sei die Wegstrecke durch Schmerzen im Bereich der rechten Wade, des rechten Knies und der rechten Hüfte limitiert. Weiter sei die Fortbewegung durch die Fußheberschwäche eingeschränkt, eine Peroneusschiene werde getragen. Der Kläger könne keine 50 Meter gehen, ohne zwischendrin stehen zu bleiben. Das Gehen sei nur mit Krücken möglich, eine laufende physiotherapeutische Behandlung mit Krankengymnastik finde statt. Schmerzmittel würden nur bei Bedarf eingenommen. Der mobilitätsbezogene GdB liege über 80.

Ergänzend hat er den Entlassungsbericht der Kreiskliniken R1 – Medizinische Klinik 2 Kardiologie – über den stationären Aufenthalt vom 1. bis 7. Februar 2017 vorgelegt. Danach sei der Kläger wegen einer seit mehreren Tagen bestehenden Dyspnoe stationär aufgenommen worden. Echokardiographisch habe sich eine leichtgradig reduzierte linksventrikuläre Pumpfunktion mit Hypo- bis Akinese anterior und anterolateral apikal gezeigt. Nach Koronarangiographie sei die Entlassung in beschwerdefreiem Zustand erfolgt.

Der W1 hat nach ambulanter Untersuchung vom 25. April 2016 ein sicheres Gangbild mit Hinken rechts und eine Fußheberschwäche rechts beschrieben. Der Zehenspitzengang sei beidseits möglich, der Hackengang links nicht. Eine weitere Diagnostik bezüglich der LWS habe der Kläger nicht gewünscht, die möglichen Therapieoptionen seien dargelegt worden. Zunächst sollten die konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die Schmerzmedikation sei angepasst, physiotherapeutische Maßnahmen eingeleitet worden.

Der D hat nach ambulanter Untersuchung am 27. April 2017 die HWS als frei beweglich befundet. Es bestehe der bereits erwähnte Bandscheibenvorfall L4/5 mit persistierender Fußheberschwäche rechts, zusätzlich sei die Peroneusläsion seit mindestens 2013 bekannt. Eine relevante Befundprogredienz und Hüftabduktionsparese sei nicht gegeben.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. S1 sehe keine Rollstuhlpflichtigkeit und habe zu einer Verschlechterung des Gehvermögens keine Angaben machen können. W habe ebenfalls keine Rollstuhlpflichtigkeit bestätigt, der Kläger benötige zwar Hilfsmittel und könne nur kurze Strecken am Stück zurücklegen. Die Tatsache, dass ein Betroffener nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen müsse, reiche nicht aus, um die Anspruchsvoraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ begründen zu können. Der Kläger sei zwar beim Gehen beeinträchtigt, weshalb ihm auch das Merkzeichen „G“ zuerkannt worden sei, aber nicht so, dass er ständig auf einen Rollstuhl angewiesen sei. Vielmehr bestätige W, dass dem Kläger ein Gehen mit Krücke noch möglich sei.

Sodann hat das SG das orthopädische Sachverständigengutachten des B aufgrund ambulanter Untersuchung vom 16. Juli 2019 erhoben. Dieser hat einen mobilitätsbezogenen GdB von mindestens 80 verneint und die Voraussetzungen für Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ für nicht gegeben erachtet. Der Kläger habe angegeben, nur 20 bis 25 Meter unter Benutzung von Gehstützen oder des Gehstocks laufen zu können. Die Herzerkrankung werde durch den Hausarzt behandelt, orthopädisch-unfallchirurgisch und neuropsychiatrische Behandlung nehme er keine in Anspruch, die Peroneusschiene sei nicht getragen worden, da diese den Kläger beim Autofahren störe. Er beschäftige sich am Computer und habe einen Garten mit vielen Obstbäumen. Dort säge er mit der Kreissäge heruntergefallenes Holz klein, da er dies im Sitzen erledigen könne. Abfahren müsse das Holz sein Sohn, dieser komme auch, um den Rasen zu mähen. Sein Hochbeet könne er selbst versorgen und habe auch die Johannisbeeren geerntet. Schwere Tätigkeiten müsse der Sohn erledigen, seine Frau sei ebenfalls eingeschränkt.

Das Gangbild sei an zwei Gehstützen etwas verlangsamt und rechts hinkend gewesen. Trotz Schuhwerk habe sich eine Fußheberschwäche rechts gezeigt. Dennoch habe sich der Kläger auf dem Praxisflur sicher bewegen können. Das Aus- und Ankleiden sei flüssig und ohne fremde Hilfe erfolgt. Er sei in der Lage gewesen, einen im Sitzen heruntergefallenen Schlüsselbund problemlos wieder aufzuheben. Er sei örtlich, zeitlich, situativ und zur Person vollständig orientiert, die Stimmungslage ausgeglichen und die Schwingungsbreite adäquat erhalten.

An der Wirbelsäule habe sich eine multidirektionale funktionelle Einschränkung gezeigt. Die Seitneigung der HWS sei zu beiden Seiten eingeschränkt, in scheinbar unbeobachteten Bewegungen seien die funktionellen Beeinträchtigungen aber nicht so ausgeprägt, wie in der Untersuchung dargeboten. Bei eingeschränkter Linksseitneigung der LWS werde der Finger-Boden-Abstand (FBA) von 40 cm, bei der Inklinationsprüfung durch den Finger-Zehen-Abstand im Langsitz von 26 cm graduell relativiert. Es habe ein muskulärer Widerstand in variabler Ausprägung bei der funktionellen Untersuchung in sämtlichen Abschnitten des Achsorgans bestanden. Die ermittelten Messstrecken deuteten auf eine ausreichende Entfaltbarkeit der BWS und eine graduell eingeschränkte Entfaltbarkeit der Dornfortsatzreihe im Lumbalbereich hin. Die Hüftbeugung und Außendrehung der Hüften sei nicht limitiert, bei angegebenen endgradigen Beugeschmerz im rechten Hüftgelenk sei die Bewegungsprüfung in den übrigen Freiheitsgraden schmerzfrei gewesen. Eine graduelle Einschränkung habe sich nur bei der Innenrotation in gebeugter Stellung gezeigt. Die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule seien mit einem Teil-GdB von 30 bis 40 zu bewerten, da die HWS und die LWS betroffen seien. Schwere Auswirkungen bestünden nicht. Die Beugefähigkeit der Hüften mit 100° liege im altersüblichen Bereich, radiologisch sei eine beidseitige Coxarthrose mit gradueller Gelenkspaltverschmälerung nachgewiesen, die noch nicht hochgradig sei. Unter wohlwollender Betrachtung komme hierfür kein höherer Teil-GdB als 20 in Betracht.

Bei Fußheberschwäche rechts sei am oberen Sprunggelenk (OSG) eine graduell eingeschränkte Beweglichkeit aufgefallen, bei freier Beweglichkeit links. Der Bandapparat sei beidseits stabil, die Beweglichkeit im unteren Sprunggelenk (USG) beidseits eingeschränkt, ein Bewegungsschmerz werde insoweit nicht angegeben. Der Einbeinstand werde beidseits unsicher und erschwert dargeboten. Die seitenvergleichende Umfangmessung habe eine nur geringgradige Muskelminderung am linken Oberschenkel bei ansonsten fehlender klinisch relevanter Seitendifferenz der Umfangsmaße ergeben. Ein schmerzbedingt erzwungener relevanter Mindergebrauch wie auch eine relevante zeitlich überdauernde Minderinnervation an der rechten unteren Extremität sei nicht wahrscheinlich zu machen. Eine Beinlängendifferenz sei bei orientierender Messung nicht objektivierbar. Im Bereich der unteren Gliedmaßen habe sich eine diffuse Hypästhesie beider Füße gezeigt. Diese sei am ehesten einer Polyneuropathie zuzuordnen und nicht als dermatombezogen im Sinne einer radikulären oder isolierten peripher-neurologischen Affektion zu werten. Die Sensibilität an den übrigen Abschnitten der unteren Gliedmaßen sei seitengleich intakt. In motorischer Hinsicht habe sich eine fast komplette Parese der Fuß-, Großzehen- und Zehenstrecker rechts bei diesbezüglich unauffälliger Situation links gezeigt. An den übrigen großen Muskelgruppen der Beine fänden sich keine Beeinträchtigungen der Motorik und der groben Kraft. Bei den Transfers während der Untersuchung seien diese gering erschwert gewesen, ohne dass sich höhergradige Beeinträchtigungen nachweisen ließen.

Die Kniegelenke seien altersphysiologisch frei und schmerzfrei beweglich, die Meniskuszeichen negativ und der Bandapparat stabil. Funktionelle Beeinträchtigungen bestünden somit nicht, sodass sich kein Teil-GdB ergäbe. Die Sprunggelenksbeweglichkeit links sei altersentsprechend, rechts sei die Beweglichkeit eingeschränkt, ohne dass bei neurologischer Beeinträchtigung bereits ein Spitzfuß vorliege. Die funktionelle Situation an den Füßen rechtfertige keinen höheren Teil-GdB als 30.

Den Ausführungen des Hausarztes zum mobilitätsbezogenen GdB sei nicht zu folgen. Die behandelnde Internistin habe die Einschätzungen hinsichtlich der Teil-GdB auf ihrem Fachgebiet bestätigt. Neue medizinische Unterlagen seien nicht vorgelegt worden, es bestünden keine schweren Dekompensationserscheinungen des Herzleides mit Ruheinsuffizienz. Schmerzen seien grundsätzlich nicht objektivierbar und nicht adäquat zu quantifizieren. Rein subjektive Parameter dürften nicht in den Vordergrund der Beurteilung gestellt werden, befundbildgebende Untersuchungen hätten häufig nur unspezifischen Charakter.

Sodann hat das SG auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Sachverständigengutachten des Facharztes für Innere Medizin W aufgrund ambulanter Untersuchung vom 12. März 2020 erhoben. Dieser hat eine deutlich eingeschränkte Beweglichkeit der HWS nach beiden Seiten bei mäßiger Skoliose beschrieben. An der LWS sei die Beugefähigkeit deutlich eingeschränkt, der FBA liege bei 50 cm. Die Beugefähigkeit der Hüftgelenke sei mit nur 40° deutlich eingeschränkt. Dabei zeige sich ein steifer Widerstand, die rechte Hüfte sei für Abduktion und Außenrotation deutlich eingeschränkt. An beiden Knien bestünden Reibegeräusche. Die Sprunggelenke seien beidseits bei Pronation und Supination deutlich eingeschränkt, das Aufrichten aus dem Liegen merklich erschwert und nur mit Zuhilfenahme der Arme möglich. Die Aufrichtbewegungen aus dem Liegen seien nicht harmonisch. Der Kläger drehe sich zuerst nach links, bevor er den Oberkörper aufrichten könne. Neurologisch zeige sich eine Fußheberparese rechts, ansonsten keine Hinweise auf höhergradige Paresen. Die Oberflächensensibilität am linken Arm und linken Bein sei reduziert. Der Rombergtest sei positiv, es zeige sich eine Unsicherheit in den Gangproben. Der Kläger habe von der Praxistür bis zu seinem direkt vor der Praxis geparkten PKW 3,5 Minuten gebraucht. Er sei zwischenzeitlich vor der Praxis einmal stehen geblieben. Eine Beobachtung auf der Treppe sei nicht möglich gewesen. Der Vergleichswert für die zurückzulegende Strecke betrage circa 35 Sekunden.

Im Belastungs-EKG seien über 2 Minuten 50 Watt und über 1 Minute 75 Watt erreicht worden. Bei bereits beginnenden 75 Watt reiche die muskuläre Kraft nicht mehr aus, eine ausreichende Tretfrequenz zu erreichen. Es bestehe eine deutliche Dyspnoe, Herzschmerzen würden nicht angegeben. Der Blutdruck steige auf 200/80 an. Die im Ruhe-EKG vorbeschriebenen EKG-Veränderungen blieben unverändert. Sowohl aufgrund der Hüftbeschwerden als auch aufgrund der aufgetretenen Atemnot und der Schwäche der Beinmuskulatur bestehe eine ausgeprägte reduzierte Belastbarkeit. Die bereits im Ruhe-EKG nachgewiesenen EKG-Veränderungen könnten sowohl Zeichen einer Linksherzvergrößerung mit entsprechender Muskelschädigung sein als auch solche einer koronaren Herzkrankheit. Allerdings bestünden keine Herzbeschwerden bei Belastung. Dies sei jedoch bei einem Diabetiker mit Herzkranzgefäßverengung durchaus typisch. Der Sauerstoffpartialdruck liege mit 95 % im unteren Normalbereich.

Es bestehe, wie bei geriatrischen Patienten häufig, eine multifaktorielle Gehstörung, die aufgrund der multiplen Erkrankungen besonders ausgeprägt sei. Die Funktionsbeeinträchtigungen summierten sich zu einem beeindruckenden Gesamtbild und gingen mit einer ausgeprägten Behinderung einher. Gehen ohne Gehstütze bzw. ohne Abstützen an Wand oder Möbeln sei nur wenige Schritte möglich. Der Gang sei unsicher und schwankend, deutlich verlangsamt und aufgrund der Arthrosen und der Lumboischialgie auch schmerzhaft. Die durch eine Kombination von zerebrovaskulärer Insuffizienz und Polyneuropathie der Beine sowie der Peroneuslähmung rechts bedingten neurologischen Störungen verschlimmerten die Gehstörung erheblich. Die zusätzliche Belastungsdyspnoe im Rahmen der Herzinsuffizienz und der KHK addierten sich im Gesamtbild. Es bestehe eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von 80 entspräche. Die Abweichung von der bisherigen Beurteilung beruhe auf der durch die multiplen Faktoren bedingten Komplexität der Gehstörung, die im fachorthopädischen Gutachten naturgemäß nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Vielmehr hätten die multiplen internistischen, neurologischen sowie durch die Augenerkrankung und den Diabetes bedingten Erkrankungen einen deutlichen zusätzlichen und verschlimmernden Effekt auf die Gehbehinderung. Diese sei insofern als besonders gravierend anzusehen, weil übliche Kompensationsmechanismen bei Gehstörung und Schwindel ausfielen oder nur vermindert möglich seien. Bei der Beurteilung des Behinderungsgrades sei aber gerade eine ganzheitliche Betrachtungsweise unter Berücksichtigung der reduzierten Kompensationsmechanismen und der gegenseitigen Verstärkung von Behinderungen auf verschiedenen Fachgebieten erforderlich. Ergänzend hat er den augenärztlichen Untersuchungsbogen des M vom 14. November 2019 vorgelegt, wonach eine leichte diabetische Retinopathie an beiden Augen bestehe.

Der Beklagte ist dem Sachverständigengutachten unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des B1 entgegengetreten. In dem Sachverständigengutachten werde nicht auf die Gehstrecke eingegangen, sondern nur angegeben, dass das Gehen ohne Gehstützen nur wenige Schritte möglich sei, zudem bestehe eine belastungsabhängige Atemnot. Andererseits werde beschrieben, dass der Kläger keine 10 Meter ohne Gehstützen und der Unterstützung seiner Frau gehen könne. Herzbeschwerden bestünden allerdings nicht. Ergometrisch könne bis 75 Watt belastet werden, die Sauerstoffsättigung habe im Normalbereich gelegen. Angegeben werde, dass der Kläger von der Praxistür bis zum PKW 3,5 Minuten benötige. Auch die durchgeführten Gehtests seien zwar verlängert gewesen, aber möglich. Im neurologischen Befundbericht fände sich eine Fußheberparese rechts, sonst aber kein Hinweis auf höhergradige Paresen, keine Atrophien, der Muskeltonus sei unauffällig. Die Gangproben seien mit Unsicherheit, aber durchgeführt worden. Die Notwendigkeit der Rollstuhlbenutzung gehe aus dem Gutachten nicht hervor. Der Kläger könne mit Hilfsmitteln gehen, teilweise auch mit Pausen. Die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ seien nicht erfüllt.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10. März 2021 abgewiesen. Die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule seien mit einem Teil-GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Von einer schwersten Belastungsinsuffizienz bis hin zur Geh- und Stehunfähigkeit als Grund für einen Teil-GdB von 80 sei in keiner Weise auszugehen. Die bisherige Anerkennung mit einem Teil-GdB von 70 werde somit nur dann weiter tragfähig begründbar, wenn die Gebrauchseinschränkung des rechten Fußes durch die Fußheberparese und die posttraumatische Sprunggelenksarthrose in die Beurteilung mit einbezogen werde. An den Schultergelenken werde kein GdB von wenigstens 10 erreicht. Hinsichtlich der Hüftgelenke bestehe eine beidseitige Coxarthrose, allerdings keine hochgradige. Die Beugefähigkeit mit 100° beidseits liege im altersüblichen Bereich. Gleiches gelte für die Abspreizung und Außenrotation, die ebenfalls das altersübliche Maß nicht relevant unterschreite. Lediglich die Innenrotation sei in gebeugter Stellung limitiert. Die Gebrauchseinschränkungen des rechten Fußes seien mit keinem höheren Teil-GdB als 30 zu bewerten. Die Bewertung des Diabetes mit einem GdB von 50 sei trotz Insulintherapie und instabiler Stoffwechsellage einschließlich gelegentlicher schwerer Hyperglykämien nicht zu beanstanden. Ebenso sei das Herzleiden mit einem Teil-GdB von 20 adäquat berücksichtigt. Eine Rollstuhlpflichtigkeit bestehe nicht, vielmehr gebe der Kläger selbst an, sich mit Unterarmgehstützen oder mit einem Gehstock fortzubewegen. Dem Sachverständigengutachten des W folge die Kammer nicht. Dieser sei seit 28 Jahren der behandelnde Hausarzt des Klägers, sodass sicherlich ein entsprechendes nahes Vertrauensverhältnis bestehe, was erfahrungsgemäß die Einnahme der von einem Sachverständigen verlangten neutralen Position erschwere, zum anderen begründe er seine Einschätzung in seinem eher knappen Gutachten nicht ausführlich. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass W auf die Gehstrecke explizit gerade nicht eingehe, sondern nur angebe, dass das Gehen ohne Gehstützen nur wenige Schritte möglich sei und zudem eine belastungsabhängige Atemnot bestehe. Andererseits werde angegeben, dass der Kläger keine 10 Meter ohne Gehstützen und Unterstützung seiner Frau gehen könne. Herzbeschwerden bestünden nicht. Ergonomisch habe der Kläger bis 75 Watt belastet werden können, wobei die Sauerstoffsättigung dem Normbereich entspreche. Die Gangproben seien zwar mit Unsicherheit, aber durchgeführt worden. Vor diesem Hintergrund sei, da der Kläger auch nach eigenen Angaben mit Hilfsmitteln gehen könne, wenn auch teilweise mit Pausen, nicht von einer erheblichen Gehbehinderung auszugehen. Wie B in seinem Sachverständigengutachten zudem überzeugend ausgeführt habe, sei auch nicht dokumentiert, dass eine Herz- oder Lungenerkrankung mit entsprechend schwerer Funktionseinschränkung in der Herzleistung oder Lungenfunktion vorliege.

Am 16. April 2021 hat der Kläger Berufung beim SG eingelegt. Auf die Ausführungen des W werde vollumfänglich verwiesen. Zwischenzeitlich sei er mit einem Rollator (Rechnung der Firma O) versorgt, mit dem er ohne längere Pause maximal 20 Meter zurücklegen könne.

Zuletzt hat er den Entlassungsbericht der Kreiskliniken R1 über die stationäre Behandlung vom 25. November bis 15. Dezember 2021 vorgelegt. Danach sei die Übernahme bei Verschlechterung des diabetischen Fußsyndroms mit Ulcus D5 rechts mit Fistelung nach plantar erfolgt. Nach adäquater Rekompensation sowie bei bekannter peripherer arterieller Verschlusskrankheit sei eine PTA durchgeführt worden. In diesem Rahmen sei eine Ballondilatation der Arteria femoralis superficialis, des Truncus tibiofibularis und der Arteria tibialis anterior rechts sowie eine Rekanalisation der Arteria tibialis posterior rechts erfolgt. Der postinterventionelle Verlauf habe sich unauffällig gestaltet. Die punktierte Leiste sei unauffällig und ohne Strömungsgeräusch zur Darstellung gekommen, die ASS-Dauertherapie solle fortgeführt werden. Der Kläger habe in die ambulante Weiterbehandlung entlassen werden können.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. März 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 8. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2019 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ ab dem 16. August 2018 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG)) eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ unter Abänderung des Bescheides vom 8. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 8. Februar 2019 abgewiesen worden ist. Soweit der Beklagte mit dem Bescheid auch den GdB neu festgestellt hat, hat der Kläger hiergegen bereits keinen Widerspruch erhoben, sodass der Bescheid insoweit bestandskräftig geworden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 8. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2019 ist im streitgegenständlichen Umfang rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGGG). Der Kläger kann auch nach Überzeugung des Senats die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ nicht beanspruchen. Das SG hat die Klage daher zu Recht abgewiesen.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 152 Abs. 4 SGB IX. Dieser bestimmt, dass wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Absatz 1 treffen. Zu diesen Merkmalen gehört das im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in den Schwerbehindertenausweis einzutragende Merkzeichen „aG“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung).

§ 229 Abs. 3 SGB IX enthält nunmehr die Legaldefinition des Nachteilsausgleichs „außergewöhnlich gehbehindert“, die zuvor aufgrund Artikel 3 Nr. 13 des Gesetzes zur Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 2016) seit 30. Dezember 2016 in § 146 Abs. 3 SGB IX enthalten war. Nach § 229 Abs. 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).

Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9522 zu Nr. 13 [§146] S. 318) kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen, oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV), schwersten Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV), Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades und einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).

§ 229 Abs. 3 SGB IX normiert mehrere (kumulative) Voraussetzungen: Zunächst muss bei dem Betroffenen eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen; diese muss einem GdB von mindestens 80 entsprechen. Darüber hinaus muss die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich sein. Mit der Bezugnahme auf mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen wollte sich der Gesetzgeber von der Einengung auf orthopädische Gesundheitsstörungen lösen, so dass „keine Fallgestaltung von vornherein bevorzugt oder ausgeschlossen wird, auch nicht dem Anschein nach“ (BT-Drs. 18/9522, S. 318). Trotz dieser Ausweitung übernimmt die Neuregelung den bewährten Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf und verlangt daher auf der zweiten Prüfungsstufe einen – relativ hohen – GdB von wenigstens 80 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung (vgl. Senatsurteil vom 3. August 2017 – L 6 SB 3654/16 – n.v.).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da bei dem Kläger bereits keine Funktionsbehinderungen bestehen, die zu einem mobilitätsbezogenen GdB von mindestens 80 führen, wie der Sachverständige B für den Senat überzeugend dargelegt hat. Die gegenteiligen Ausführungen des W werden bereits von seiner Befunderhebung nicht gedeckt und entsprechen den Bewertungsvorgaben nicht, sodass diesen nicht gefolgt werden kann.

Im Bereich der Wirbelsäule bestehen Funktionsbeeinträchtigungen, die mittelgradigen Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten entsprechen, sodass die Wirbelsäule insgesamt mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten ist. Schwere Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, die die Bewertung mit einem Teil-GdB von 40 rechtfertigen würden, liegen nicht vor, wie B schlüssig dargelegt hat.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung und Minderbelastbarkeit) sowie die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu werten (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 j). Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der Wirbelsäule (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.

Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz-dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Teil-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen - oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose - sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Ausgehend von diesen Maßstäben entnimmt der Senat dem Sachverständigengutachten des B im Bereich der HWS eine Beweglichkeit für das Vor-/Rückneigen von 40-0-20° (Norm: 50 bis 70°-0-40 bis 50°), für das Seitneigen rechts/links von 10-0-10° (Norm: 30 bis 40-0-30 bis 40°) und für das Drehen rechts/links von 30-0-30° (Norm 60 bis 80°-0-60 bis 80°). Dabei muss jedoch in Rechnung gestellt werden, dass der Sachverständige darauf hinweist, dass sich in unbeobachteten Situationen eine deutliche bessere Beweglichkeit zeigte, als sie in der Untersuchung dargeboten worden ist. Daneben hat er überzeugend herausgearbeitet, dass die Sensibilitätsstörungen im Bereich der Füße der Polyneuropathie zuzuschreiben sind, aber nicht als dermatombezogen gewertet werden können, sodass er neurologische Ausfallerscheinungen, die von der Wirbelsäule ausgehen, schlüssig verneint hat und damit der HWS für die Einschätzung des mobilitätsbezogenen GdB keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen ist.

Für die BWS/LWS hat B eine Beweglichkeit für die Seitneigung rechts/links von 20-0-10° (Norm: 30 bis 40°-0-30 bis 40°) ermittelt und für das Drehen im Sitzen rechts/links von 30-0-20° (Norm: 30 bis 50°-0-30 bis 50°). Das Zeichen hat Ott hat er mit 30:31 cm (Norm: 30:32 cm) und das Zeichen nach Schober mit 10:12,5 cm (Norm: 10:15 cm) bestimmt und schlüssig dargelegt, dass eine ausreichende Entfaltbarkeit besteht. Daneben verweist er darauf, dass der dargebotene FBA von nur 40 cm durch den Finger-Zehen-Abstand im Langsitz von 26 cm graduell relativiert wird. Der im Hinblick auf die mobilitätsbezogenen Einschränkungen entscheidende Befund der LWS ist daher maximal als mittelgradig zu bewerten, wofür die VG einen Teil-GdB von 20 vorsehen.

Die Beweglichkeit der Hüftgelenke hat B für die Streckung Beugung mit 0-0-100° beidseits, für das Abspreizen/Anführung mit 30-0-20° beidseits, für die Drehung auswärts/einwärts mit 90° gebeugtem Hüftgelenk mit 30-0-10° rechts und 40-0-10° links und für die Drehung bei gestrecktem Hüftgelenk mit 30-0-20° rechts und 40-0-20° links befundet. Nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 ist eine Einschränkung geringen Grades indessen erst bei einer Einschränkung von Streckung/Beugung bis zu 0-10-90° mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit anzunehmen, die beim Kläger nicht vorliegt. Ein Teil-GdB von 20 wird daher nicht erreicht, wie letztlich auch B ausführt, wenn er auf eine „wohlwollende“ Beurteilung verweist.

Die Beweglichkeit der Kniegelenke ist bei einer Normalmaßen entsprechenden Streckung/Beugung von 0-0-140° (vgl. VG, Teil B, Nr. 18.14) nicht eingeschränkt gewesen. Aufgrund der von B erhobenen Beweglichkeit des OSG rechts mit 0-0-20° und links mit 15-0-30° sowie der unteren Sprunggelenke je mit 2/5, ist seiner Einschätzung auf einen Teil-GdB von 30 zu folgen (vgl. VG, Teil B, Nr. 18.14). Dabei ist die Fußheberparese, die sich zunächst links zeigte und sich unter Krankengymnastik zurückbildete und nunmehr rechts vorliegt, mitbewertet. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Kläger die Peroneusschiene während der Untersuchung bei B nicht getragen hat, da ihn diese nach eigenem Bekunden beim Autofahren stört, und sich dennoch nur ein leicht rechts hinkendes Gangbild zeigte und eine ausreichende Mobilität bestanden hat. Dass der Kläger Gehstützen nutzt – oder wie zur Berufungsbegründung vorgetragen – nunmehr einen Rollator, rechtfertigt weder die Höherbewertung des mobilitätsbezogenen GdB, noch die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“. Herauszustellen ist dabei besonders, dass B keine Muskelatrophien als Zeichen eines relevanten Mindergebrauchs objektivieren konnte, deren Vorliegen W schon in seinem Befundschein 2013 behauptet hat, und keine relevante Umfangsdifferenz an den unteren Extremitäten feststellen konnte. Somit ist weiterhin belegt, dass die beschriebene Polyneuropathie durch den Diabetes zu keinem relevanten Mindergebrauch der unteren Extremitäten führt, trophische Störungen hat der Sachverständige B im übrigen auch verneint. Nichts anderes folgt aus dem zuletzt vorgelegten Bericht der Kreiskliniken R1. Dieser beschreibt nur eine akute Intervention bei Verschlechterung des diabetischen Fußsyndroms, gleichwohl aber auch eine erfolgreich durchgeführte Behandlung. Eine dauerhafte Befundverschlechterung ergibt sich hieraus somit nicht, sodass kein neuer entscheidungserheblicher Sachverhalt vorliegt und sich insbesondere kein weiterer Ermittlungsbedarf begründet. Ein mobilitätsbezogener GdB von wenigstens 80 lässt sich daher aus den orthopädischen Funktionseinschränkungen nicht herleiten.

Den gegenteiligen Ausführungen des internistischen Sachverständigen W folgt der Senat nicht, da seine Darlegungen nicht auf einer validen Befunderhebung basieren. Es vermag nicht zu überzeugen, wenn er nur einzelne orthopädische – und damit fachfremde – Befunde in den Raum stellt und hieraus Schlussfolgerung zieht, ohne einen vollständigen orthopädischen Befund erhoben und die Befunde hinreichend hinterfragt zu haben. Der Sachverständige B hat nämlich überzeugend darlegen können, dass die demonstrierten Einschränkungen des Klägers nur teilweise mit dem tatsächlichen Leistungsvermögen korrespondierten.

Soweit W auf eine Herzleistungsminderung verweist, resultiert hieraus kein höherer Teil-GdB als 20, wie ihn Z versorgungsärztlich schlüssig bewertet hat (vgl. VG, Teil B, Nr. 9.1.1 Ziff. 2). W berücksichtigt bei seinen Ausführungen nicht hinreichend, dass nach seinem eigenen Befund eine Belastbarkeit bis 75 Watt gegeben gewesen ist und der Abbruch wegen muskulärer Erschöpfung erfolgte, ohne dass Herzschmerzen aufgetreten wären. Die Sauerstoffsättigung bewegte sich ebenfalls im Normelbereich, wie B1 versorgungsärztlich zutreffend herausgestellt hat. Korrespondierend hierzu entnimmt der Senat dem Befundbericht der Kreiskliniken R1, dass nur eine leichtgradig reduzierte linksventrikuläre Pumpfunktion befundet wurde.

Hinsichtlich des Diabetes hat die S1 eine gesteigerte Compliance des Klägers beschrieben, einen erfolgreich gesenkten Langzeitblutzuckerwert und hat darauf verwiesen, dass keine Organfunktionsstörungen bestehen. Wenn W auf eine diabetesbedingte Sehminderung verweist, die bei der Bewertung des mobilitätsbezogenen GdB zu berücksichtigen sein soll, ist dies schon aufgrund des von ihm selbst vorgelegten Augenarztbefundes des M in keiner Weise nachvollziehbar, der nur eine leichte diabetische Retinopathie an beiden Augen beschreibt. Dass es darüber hinaus unschlüssig ist, bei dem Ausmaß der vom Sachverständigen W konstatierten Einschränkungen, insbesondere hinsichtlich des Sehvermögens, die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeuges, dass der Kläger tatsächlich nutzt, zu sehen, kann dahinstehen.

Eine Erhöhung des mobilitätsbezogenen GdB kommt daher auch nicht unter Berücksichtigung der internistischen Erkrankungen des Klägers in Betracht, sodass hierdurch ein solcher von mindestens 80 ebenfalls nicht erreicht wird. Dass bei dem Kläger tatsächlich ein Gesamt-GdB von 90 festgestellt ist, kann dahinstehen, da hierbei auch nicht mobilitätsbedingte Funktionseinschränkungen berücksichtigt sind. Daneben hat B1 versorgungsärztlich zu Recht darauf hingewiesen, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger außerhalb des Kraftfahrzeuges faktisch ab dem ersten Schritt auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen wäre.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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