S 15 BL 5/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 BL 5/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 9/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.10.2017 und Abänderung des Bescheides vom 28.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 verurteilt, der Klägerin Blindengeld für Blinde nach dem BayBlindG ab Juli 2018 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Von den notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte zwei Drittel.

T a t b e s t a n d :


Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

Die 2015 geborene und durch ihre Eltern vertretene Klägerin leidet am Pallister Kilian Syndrom, welches u.a. neurologisch bedingt Einschränkungen in der Sehleistung mit sich bringt.

Am 31.08.2017 beantragte sie die Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG beim Beklagten. Hierzu legte sie zunächst einen Befundbericht der L-Klinik vom 22.07.2016 vor, wonach eine Fixation nur bei Schwarzlicht möglich sei, ansonsten keine solche erfolge. Der Beklagte zog weiter einen Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung vom Oktober 2016 bei. Hiernach seien bei der Klägerin im abgedunkelten Raum tagesformabhängig Hinwendereaktionen zu einem visuellen Reiz erkennbar, im tageslichthellen Raum dagegen nicht. Allerdings zeigte sich auch im abgedunkelten Raum keine Fixation. Der behandelnde Augenarzt Dr. L1 äußerte sich weiter am 14.12.2016, dass eine Visuserhebung nicht möglich sei. Der Beklagte ließ die Klägerin daraufhin bei Dipl-Psych. R1 am 29.05.2017 begutachten. Diese äußerte, dass die Klägerin im abgedunkelten Raum deutlich aufmerksamer auf Reize reagiere, als im hellen. Hier reagiere sie auf verschiedene Muster. Auf ein Schießscheibenmuster im Projektionskasten reagiere sie, was beim ersten Versuch ein Visusäquivalent von 0,022 bedeute und beim zweiten Versuch von 0,041. Die Klägerin habe bei der Untersuchung grundsätzlich die Fähigkeit gezeigt, auf visuelle Reize zu reagieren und auf einfachem Niveau zu verarbeiten. Ein visuelles Interesse sei grundsätzlich vorhanden.

Nach Einholung einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 04.10.2017 (Empfehlung: in drei Jahren nochmalige Überprüfung des Sehorgans) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 06.10.2017 die Gewährung von Blindengeld ab, da ein Visus von noch 0,04 bestehe.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie trug vor, dass von der L-Klinik selbst die Antragstellung empfohlen worden sei. Außerdem sei es nicht richtig, dass eine Fixation möglich sei, es werde zwar versucht, gelinge aber nicht. Die Klägerin sehe nicht einmal den Löffel, der sich auf ihren Mund zubewege. Es sei nicht zu akzeptieren, dass die Begutachtung von einer Psychologin und nicht von einem Augenarzt durchgeführt worden sei. Die Klägerin legte ergänzend einen Befundbericht der Klinik N. vom 12.12.2017 über die Durchführung einer VEP-Untersuchung vor. Bei guter Kooperation konnte hier kein VEP abgeleitet werden. Es zeigte sich lediglich eine geringe Lichtreaktion im Dunkeln.

Der Beklagte forderte hierauf weitere Befunde an. Das H-Förderzentrum legte seine Stellungnahme vom 22.11.2017 vor. Eine Fixierung einer Lichtquelle sei hiernach möglich, ein Folgen derselben sei aber nicht hundertprozentig reproduzierbar. Ergänzend holte der Beklagte eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme vom 22.03.2018 ein. Es werde bestätigt, dass zwar eine hochgradige Sehbehinderung, nicht aber Blindheit vorliege. Die Klägerin sei mit einer Brille versorgt und es gebe eine Okklusionsbehandlung, was ohne Restsehvermögen sinnlos sei. Ein VEP beweise für sich gesehen noch keine Blindheit.

Mit Bescheid vom 28.03.2018 gewährte der Beklagte daraufhin beginnend zum 01.01.2018 Sehbehindertengeld. Auch hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und verwies auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) aus 2015. Es sei lediglich Voraussetzung, dass es an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" fehle, was hier der Fall sei. Der Beklagte zog eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme vom 12.01.2019 (Dr. P1) bei. Diese äußerte, dass es auch nach dem neuen BSG-Urteil vom 14.06.2018 an Blindheit fehle. Es sei ein Visusäquivalent oberhalb der Blindheitsgrenze erhoben worden. Die Erhebung mittels Schießscheibenmuster könne nicht mit einer Erhebung nach DIN gleichgesetzt werden, allerdings sei bei einem Kind eine derartige Erhebung auch nicht möglich.

Der Beklagte wies den Widerspruch daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2019 als unbegründet zurück und verwies weiterhin auf das Visuäquivalent von 0,04. Es liege eine schwere Mehrfachbehinderung vor. Morphologisch finde sich an den Augen keine Erklärung für eine Blindheit. Mitwirkungsabhängige Untersuchungen könnten außerdem nicht durchgeführt werden. Im sozialrechtlichen Verfahren gelte der Grundsatz der objektiven Beweislast. Danach trage der Antragsteller die Folgen, wenn nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten eine anspruchsberechtigende Tatsache nicht festgestellt werden könne.

Am 14.03.2019 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben. Sie trägt nochmals vor, dass es an der Sinneswahrnehmung "Sehen" fehle. Das Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren vermag schon aufgrund der Fachrichtung nicht zu überzeugen.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06.10.2017 und Abänderung des Bescheides vom 28.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 zu verurteilen ihr Blindengeld für Blinde nach dem BayBlindG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Klage abzuweisen.

Dieser legt seine Akte vor und verweist auf deren Inhalt.

Das Gericht hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte und sonstigen Behandler eingeholt.

Die Lebenshilfe D1 hat sich mit Datum vom 18.07.2019 u.a. dahingehend geäußert, dass keine gezielte Reaktion auf hell oder dunkel beobachtet werden konnte. Ein Fixieren sei in der Betreuungszeit bislang nicht beobachtet worden. Auf akustische Reize erfolge indes eine Reaktion.

Das S. Zentrum für Hörgeschädigte hat sich mit Datum vom 19.07.2019 dahingehend geäußert, dass die Klägerin Lauschreaktionen zeige. Eine Förderung der visuellen Wahrnehmung erfolge nicht, da eine solche nach der bisherigen Einschätzung nicht bestehe. Dasselbe haben die Krankengymnastin H1 am 27.07.2019 und der Ergotherapeut J1 am 30.07.2019 geäußert. Die Klägerin fixiere weder die Behandler noch Gegenstände. Lediglich im abgedunkelten Raum erfolge manchmal eine Reaktion auf Licht.

Die Blindeninstitutsstiftung hat ihren Entwicklungsbericht vom Juli 2019 vorgelegt. Hiernach zeige die Klägerin im tageslichthellen Raum keine beobachtbaren visuellen Reaktionen. Eine Fixation sei nicht erkennbar. Trotz aller Bemühungen sei es nicht gelungen eine visuelle Wahrnehmung zu entwickeln.

Der Beklagte hat sich auf die Stellungnahmen ergänzend dahingehend geäußert, dass selbst bei Annahme von Blindheit bei der Klägerin der Einwand der Zweckverfehlung vorzutragen sei. Das BSG habe in seinen aktuellen Entscheidungen betont, dass aufgrund des Krankheitsbildes überhaupt blindheitsbedingte Mehraufwendungen entstehen müssten. Die Klägerin sei schon nicht in der Lage zu kommunizieren. Sie sei schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen komplett auf fremde Hilfe angewiesen. Bei dem Krankheitsbild sei es nicht vorstellbar, dass die Blindheit durch bestimmte Maßnahmen (zB Assistenzleistungen wie zB Vorlesen, Lesegeräte, spezielle EDV, Blindenführhund etc.) ausgeglichen werden könne. Die Zielsetzung des BayBlindG sei es aber gerade, mit der Zahlung Mehraufwendungen wegen der Blindheit auszugleichen.

Die Klägerin hat hiergegen eingewandt, dass sie weder bewusstlos sei noch im Koma liege. Sie sei in der Lage zu kommunizieren und zwar über unterschiedliche Reize wie Fühlen, Spüren, Riechen und Hören. Sie würde, wenn es der Gesundheitszustand zulasse, auch in Aktivitäten eingebunden ua. auch zu Ausflügen etc. Da die Wahrnehmung der Augen fehle, müssten die anderen Sinne gestärkt werden. Hier entstünde sehr wohl ein Mehrbedarf. Ein Ausgleich könne zB auch in den Kosten für die Übernahme von Melatonin-Präparaten gesehen werden, da die fehlende Wahrnehmung von Tag und Nacht eine geregelte Produktion des Schlafhormons verhindere.

Das Gericht hat ergänzend ein Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. K1 (L-Klinik) auf augenfachärztlichem Gebiet vom 12.11.2019 eingeholt. Dieser hat nach ambulanter Begutachtung der Klägerin am 08.11.2019 geäußert, dass weder eine Fixation, noch Folgebewegungen auf Objekte oder Lichtreize erkennbar seien. Es mangele an einer Schreckreaktion. Ein optokinetischer Nystagmus (OKN) sei nicht erkennbar. Auch bei sehr starken Lichtreizen werde der Blick weder gezielt hin noch weg von der Lichtquelle gerichtet. Sie habe etwa einige Sekunden gänzlich ungerührt in das helle Untersuchungslicht gesehen. Ein Lidschlussreflex bei schnellem Annähern von Gegenständen fehle. Lediglich bei einer Untersuchung am 03.07.2017 habe der zeitweilige Eindruck einer Folgebewegung bestanden. Zumindest seit der letzten Untersuchung am 09.07.2018 sei von fehlendem visuellen Interesse auszugehen. Es bestehe eine zentralbedingte Visusminderung. Eine negative VEP-Untersuchung liege bereits vor, aufgrund von Epilepsie sei auf eine weitere verzichtet worden. Zusammenfassend sei zumindest ab dem 09.07.2018 von Blindheit auszugehen. Für die Zeit davor ließen die Akten keine eindeutigen Rückschlüsse zu.

Der Beklagte hat mittels versorgungsmedizinischer Stellungnahme vom 07.01.2010 (Dr. P2) Einwendungen gegen das Gutachten erhoben. Es fehle an einem morphologischen Korrelat für die fehlenden visuellen Reaktionen. Ein einmalig negatives VEP reiche nicht aus. Die Symptome beim Pallister-Kilian-Syndrom zeigten jedoch keine Progredienz. Insofern könne eine Verschlechterung seit der Begutachtung bei Dipl.-Psych. R1 nicht nachvollzogen werden. Plausibler sei die andere Untersuchungstechnik. Dipl.-Psych. R1 habe speziell nach einem Setting für cerebral geschädigte Kinder untersucht, was auch im sog. Schwarzen Raum prüft, dh unter Ausschluss störender Lichtquellen. Prüfung in dieser Hinsicht seien in der L-Klinik nicht erfolgt. Es spreche viel dafür, dass es von der Tagesform des Kindes abhänge, ob visuelle Reaktionen zu erhalten seien, oder nicht. Die bloße Möglichkeit einer Erblindung sei indes nicht ausreichend.

In der Folge ist beiden Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung hinsichtlich einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 SGG gegeben worden. Beide Beteiligten haben diesbezüglich ausdrücklich ihr Einverständnis geäußert.

Für den weiteren Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die Gerichts- und die Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Über die Klage kann gemäß § 105 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zur Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, gehört. Beide haben in der Folge ausdrücklich ihr Einverständnis mit einer derartigen Entscheidung bekundet.

Die beim zuständigen Sozialgericht erhobene Klage ist zulässig und teilweise begründet.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Gewährung von Blindengeld für Blinde für die Zeit ab Juli 2018, nicht aber für die Zeit davor.

Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde oder hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BayBlindG) sowie bei denen Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind (Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG).

Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten (Art. 1 Abs.5 BayBlindG).

Die einen Anspruch begründenden Tatsachen sind dabei im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R und auch LSG Bayern, Urteile vom 26.09.2017 - L 15 BL 8/14 und 27.09.2016 - L 15 BL 7/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92).

Die vorliegend verbleibenden Restzweifel in dem vorgenannten Sinn stehen der vollen Überzeugungsbildung nicht entgegen. Dabei ist u.a. auch zu beachten, "dass sich die Gerichte mit demjenigen Gewissheitsgrad zu begnügen haben, den die medizinische Wissenschaft im Einzelfall leisten kann" (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2012, S. 51, mit Verweis auf Bender/Nack/Treuer). Unter Berücksichtigung der allen medizinischen Beurteilungen immanenten Unsicherheiten (vgl. a.a.O., S. 49 f.) müssen somit nicht nur völlig unbedeutende Restzweifel außen vor bleiben, sondern auch solche, die durchaus einer medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion offenstehen, jedoch im Einzelnen nicht überzeugen können. Andernfalls wäre ein Blindheitsnachweis in sozialgerichtlichen Verfahren so gut wie unmöglich. Denn dann könnte in keinem Fall, wo nur eine ernsthafte medizinische Zweifelsfrage im Raum steht, für die mehrere Antworten nicht ganz ausgeschlossen sind, der Blindheitsnachweis durch den Kläger grundsätzlich nicht erbracht werden. Ein solches Verständnis vom Blindheitsnachweis ist aber mit der Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar. Zwar hat das BSG im Urteil vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) eindeutig festgelegt, dass die objektive Beweislast für die den Blindengeldanspruch begründende Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich den sehbehinderten bzw. blinden Anspruchsteller/Kläger trifft und dass etwaige Beweiserleichterungen (des sozialen Entschädigungsrechts) nicht zum Tragen kommen. Dass hier aber wegen der Vernachlässigung der bestehenden besonderen Erkenntnisschwierigkeiten (s.o.) übertriebene Anforderungen an den Vollbeweis zu stellen wären, lässt sich dieser Rechtsprechung keinesfalls entnehmen. Im Gegenteil hat das BSG (im Urteil vom 11.08.2015, a.a.O.) in einem Teilbereich - nämlich der Diagnostik spezifischer Sehstörungen - sogar darauf aufmerksam gemacht, dass die "mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind", nicht gerechtfertigt ist (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. April 2018 - L 15 BL 4/16 -, Rn. 113, juris).

Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist nach dem vorliegenden Gutachten von Prof. Dr. K., dessen Inhalten sich die Kammer unter Bezugnahme auf vielfältige Angaben der Behandler anschließt, zumindest seit Juli 2018 von einer Blindheit bei der Klägerin auszugehen.

Die Klägerin lebt in Bayern und ist blind im Sinne des Gesetzes. Nach vorliegenden medizinischen Feststellungen liegt bei der Klägerin durch das Pallister-Kilian-Syndrom eine cerebrale Schädigung mit hochgradiger Einschränkung der Sinnesfunktion Sehen vor. Die visuelle Wahrnehmung ist massiv gestört. Die aufgenommenen Signale können nicht mehr genutzt werden. Diesbezüglich hat sie einen Verlust der kognitiven Verarbeitung erlitten. Auch wenn keine spezifische Sehstörung derart nachweisbar ist, dass hierüber Blindheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, kann die Klägerin im Ergebnis deshalb trotzdem nicht sehen. Insoweit liegt eine der Blindheit gleichzustellende schwere Störung des Sehvermögens iS des Art 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BayBlindG vor. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist nämlich allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, sodass der behinderte Mensch "blind" ist. Auch das Fehlen einer spezifischen Sehstörung steht dem Anspruch auf Blindengeld nicht entgegen. Denn die typisierende Annahme hinreichend verlässlicher Feststellbarkeit ist nicht in der Weise gerechtfertigt, dass hierauf die dem Anspruchsteller obliegende Darlegungs- und Beweislast gleichheitsfest erstreckt werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 - B 9 BL 1/17 R).
Wie Prof. Dr. K. in seinem Gutachten nachvollziehbar darlegt, reagiert die Klägerin weder auf Objekte noch auf sehr helle Lichtreize. Vielmehr sieht sie auch über längere Zeiträume völlig unbeeindruckt in helles Licht. Weder ein OKN ist auslösbar, noch eine Schreckreaktion provozierbar. Eine erkennbare Reaktion auf Licht oder gar eine Fixation konnte zu keinem Zeitpunkt beobachtet werden. Nachvollziehbar wird die Blindheit auf cerebraler Ebene begründet.

Selbst wenn der Beklagte hier mit seiner Stellungnahme vom 07.01.2020 einwendet, dass keine Untersuchung im schwarzem Raum erfolgt sei und auch eine Verschlechterung beim Pallister-Kilian-Syndrom nicht anzunehmen sei, so ist diesen Einwendungen nicht zu folgen. Maßgeblich ist immerhin die Sehfähigkeit der Klägerin im Hellen, nicht in einem dunklen Raum, da dies schließlich auch nicht den normalen Gegebenheiten entspricht. Hier mag im Verwaltungsverfahren zwar ein Visusäquivalent ermittelt worden sein, inwiefern sich dies aber auf eine Sehfähigkeit im normalen Umfeld übertragen lässt, ist schon fraglich. Vorzugswürdig ist hier dann die Ausführung von Prof. Dr. K., wonach vor dem Juli 2018 bei der Klägerin noch eine Sehleistung zu vermuten war, wenn auch nicht konkret verifizierbar. Jedenfalls seit Juli 2018 hatte die Klägerin jedenfalls keine Reaktionen mehr auf Licht gezeigt. Diese Einschätzung teilten auch alle Behandler der Klägerin, sei es die Physiotherapeutin, der Ergotherapeut oder die Lebenshilfe. Bei keinem der Behandler - und hier besteht schließlich teils eine Betreuung über den gesamten Vormittag - zeigte die Klägerin auch nur annähernd ein visuelles Interesse oder eine Fixation. Eine visuelle Förderung wurde mittlerweile auch eingestellt, da nicht mehr als erfolgversprechend angesehen. Insofern ist nach den aktuellen Entwicklungen sehr wohl davon auszugehen, dass sich die visuelle Wahrnehmung der Klägerin seit der Geburt noch verändert hat und zwar vorliegend zum Schlechten.

Der Beklagte vermag vorliegend auch nicht mit dem Einwand der Zweckverfehlung mit Erfolg durchzudringen.

Der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen bleibt auch nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung. Dies erschließt sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz. Realisiert sich die Gefahr, dass der Zweck des Blindengelds durch Doppelleistung verfehlt wird, sieht das Gesetz zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen in Art. 4 Abs. 3 BayBlindG eine Anrechnung vor. Danach werden Leistungen zum Ausgleich der in Art. 1 BayBlindG genannten Mehraufwendungen nach sonstigen inländischen oder nach ausländischen Rechtsvorschriften auf das Blindengeld angerechnet. Der Zweck des Blindengelds wird aber auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw. bestehen kann. Hieran anknüpfend führt das BSG seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).
Das Gesetz geht hierbei in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein "Mehraufwand" aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt. So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass u. a. blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 - B 9 BL 1/17 R).
Ausgehend von diesen Voraussetzungen ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (z. B. dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann (BSG, aaO).
Für den vom Gericht überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt die zuständige Behörde die Darlegungs- und Beweislast (BSG, aaO), welchen sie vorliegend nicht erbringen kann.
Zwar ist die Klägerin vorliegend schwerst mehrfachbehindert und bedarf unstreitig ein Leben lang nachhaltiger pflegerischer Betreuung. Anders als etwa im aktuellen Urteil des LSG Bayern vom 12.11.2019 - L 15 BL 1/12 ist die Klägerin aber nicht in allen Sinnesfunktionen massiv eingeschränkt. Die Klägerin reagiert vielmehr mit ihren anderen Sinnen, um das fehlende Sehen auszugleichen. Wie die Behandler und auch Prof. Dr. K. darlegen, reagiert die Klägerin auf Laute und auf Berührung mit erkennbarer und verständlicher Motorik, ebenso auf Gerüche. Sie spricht auf taktile oder vibrierende Reize an und richtet ihr Handeln danach aus. Eine Stärkung aller anderen Sinne zum weiteren Ausgleich der fehlenden Sinneswahrnehmung "Sehen" ist daher durchaus angezeigt. Wie auch von Seiten der Klägerin vorgetragen wird, könnte etwa über das Blindengeld die Beschaffung von Melatonin-Präparaten gefördert werden, um den fehlenden Tag-Nacht-Bezug anzuregen. Bei der Klägerin sind damit Aufwendungen, welche über den bloßen pflegerischen Aufwand hinausgehen aufgrund des Vorhandenseins der anderen Sinne möglich und zur Stärkung derselben indiziert.
Der Klage war deshalb für die Zeit ab Juli 2018 stattzugeben. Die Kostenfolge basiert auf § 193 SGG und berücksichtigt die Gewährung von Blindengeld erst zu einem späteren Datum als dem Antragsdatum.

 

 

 

 

 

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