S 13 KR 200/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 13 KR 200/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 90/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Sind die Verfahrensbeteiligten mit der Fortführung der mündlichen Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung trotz des Ausfalls der Bildübertragung einverstanden, liegt darin ein unbeachtlicher Verfahrensmangel.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Krankengeld als Leistung nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) über den 27. November 2017 hinaus bis zum 9. April 2018 in Höhe von insgesamt 7.675,52 €.

Der 1957 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er ist seit mindestens 2015 arbeitslos. Zuvor hatte er in einer Brotfabrik als Staplerfahrer gearbeitet. Seitdem bezieht er Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Er erkrankte am 4. August 2017 im Wesentlichen mit Rückenbeschwerden und einer depressiven Episode. Ab dem 1. Oktober 2017 stand er im Krankengeldbezug.

Am 13. November 2017 fand eine Untersuchung durch den Medizinischen Dienst statt. In dem aufgrund der Untersuchung erstellten Gutachten wurde bei dem Kläger ein vollschichtiges Leistungsbild von 8 Stunden arbeitstäglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt festgestellt. Unter Bezugnahme auf dieses Gutachten stellte die Beklagte mit Bescheid vom 22. November 2017 die Krankengeldzahlung zum 27. November 2017 ein.

Unter dem 30. November 2017 legte der Kläger bei der Beklagten Widerspruch ein. Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten beim Medizinischen Dienst ein, das die bisherige medizinische Einschätzung bestätigte. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. März 2018 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung verwies die Beklagte auf die beiden eingeholten Gutachten des Medizinischen Dienstes. Ferner hätten die behandelnden Ärzte des Klägers kein Zweitgutachten beantragt. Da die Einschätzung des Medizinischen Dienstes auf der persönlichen Untersuchung des Klägers beruhte, sei auch kein Grund ersichtlich, weshalb dem Begutachtungsergebnis nicht zu folgen sei.

Am 6. April 2018 hat der Kläger hiergegen Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Er behauptet, die Einschätzung des Medizinischen Dienstes sei nicht nachvollziehbar. Er sei weiterhin in therapeutischer und ärztlicher Behandlung. Die Behandler hätte seine Arbeitsunfähigkeit attestiert. 

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 22. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld in der gesetzlichen Höhe in der Zeit vom 27. November 2017 bis 9. April 2018 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich zur Klageerwiderung auf die Gründe ihrer Verwaltungsentscheidungen.

Das Gericht hat Befundberichte bei dem C. C-Stadt und dem Arzt Dr. D. beigezogen. Es hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens gem. § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei dem Arzt Dr. E.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte in der mündlichen Verhandlung am 21. Februar 2022 entscheiden, obwohl der Klägervertreter zeitweise nur in Form einer Audioverbindung zu der Verhandlung zugeschaltet war. Hierdurch waren zwar die Voraussetzungen des § 110a SGG nicht erfüllt. Danach ist eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nur im Wege der Bild- und Tonübertragung vorgesehen. Die Beteiligten waren aber mit der Fortführung der mündlichen Verhandlung trotz des Ausfalls des Bildsignals einverstanden. Es handelt sich insoweit um eine verzichtbare Verfahrensvorschrift sind (vgl. nur jurisPK-ERV/Müller § 295 ZPO Rn. 46.1 und § 110 a SGG Rn. 7.1). Der hieraus resultierende Verfahrensmangel ist gem. § 202 S. 1 SGG in Verbindung mit § 295 Zivilprozessordnung (ZPO) durch das Einverständnis der Beteiligten geheilt (vgl. BSG, Beschl. v. 4. November 2021 – B 9 SB 76/20 B).

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2018 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung Krankengeld in der gesetzlichen Höhe in der Zeit vom 27. November 2017 bis 9. April 2018 zu gewähren.

Gem. § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. 

Arbeitsunfähigkeit liegt grundsätzlich vor, wenn der Versicherte seine zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit nicht mehr oder nur auf die Gefahr hin, seinen Zustand zu verschlimmern, verrichten kann (BSGE 26, 288). Wegen des Zwecks des Krankengelds, das den vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bestehenden Lebensstandard des Versicherten sichern soll, kommt als berufliches Bezugsfeld, als Maßstab, der Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nur die konkrete, zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit in Betracht. Darunter ist die unmittelbar vor Eintritt der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Beschäftigung zu verstehen (BSGE 51, 287). Es kommt mithin darauf an, ob der Versicherte die an seinen konkreten Arbeitsplatz gestellten beruflichen Anforderungen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr erfüllen und die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeit nicht mehr verrichten kann (BSGE 94, 19). Nimmt der Versicherte eine andere Tätigkeit auf und liegt darin die Lösung vom bisherigen Beruf, so bildet die neue Tätigkeit den für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit maßgeblichen Bezugspunkt (BSGE 32, 18).

Es besteht keine allgemeine Verweisbarkeit des Versicherten auf andere Tätigkeit oder den allgemeinen Arbeitsmarkt (vgl. May SGb 1988, 477, 479 ff; Steinwedel SozVers 1988, 151, 155). Lediglich in einzelnen Fallkonstellationen lässt die gefestigte Rechtsprechung einen Verweis auf eine andere als die konkrete Tätigkeit zu. Danach ist für die Frage der Verweisbarkeit grundsätzlich zu unterscheiden, ob das Arbeitsverhältnis fortbesteht oder beendet wurde. Diese Differenzierung nach dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses beruht auf der Zweckbestimmung des Krankengeldes, das den Versicherten während der Arbeitsunfähigkeit bewirkenden Erkrankung wirtschaftlich absichert und in der Erwartung schützt, nach Beseitigung der Arbeitsunfähigkeit seine bisherige Arbeit wieder aufzunehmen (BSGE 69, 180, 183). Ist das Arbeitsverhältnis beendet, besteht in der Regel kein Anlass mehr für eine solche Erwartung. Ob ein Arbeitsverhältnis fortbesteht, wird nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen beurteilt. Kündigt der Arbeitgeber nicht, muss auch bei langandauernder Arbeitsunfähigkeit von einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis ausgegangen werden (BSGE 69, 180, 183-186).

Bei noch bestehendem Arbeitsverhältnis können die Versicherte auf ähnlich geartete Tätigkeiten in demselben Betrieb verwiesen werden, wenn der Arbeitgeber ein darauf gerichtetes Angebot abgibt. Über das Arbeitsverhältnis hinaus ist dagegen eine Verweisung in der Regel ausgeschlossen, weil die Lohnersatzfunktion des Krankengelds anderenfalls gefährdet wäre und den Versicherten im Rahmen der Krankengeldgewährung nicht zugemutet werden kann, den bisherigen Arbeitsplatz aufzugeben.

Eine umfassende Verweisbarkeit besteht dagegen bei Versicherten, die bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit arbeitslos waren. Die Frage, ob ein Versicherter arbeitsunfähig ist, muss somit im Rahmen der Krankenversicherung der Arbeitslosen (KVdA) stets an dem Kriterium überprüft werden, ob der Versicherte Arbeiten verrichten kann, die ihm nach dem Arbeitsförderungsrechtzugemutet werden können (BSGE 96, 182). Die Zumutbarkeitskriterien des SGB III bzw. des SGB II bilden also einen einheitlichen Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen der KVdA. Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung ist der Grundsatz, dass sich der Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit am Umfang des Versicherungsschutzes im konkret bestehenden Versicherungsverhältnis ausrichten muss, hier also in der KVdA. Zweck des Krankengeldes in der KVdA ist nämlich nicht der Entgeltersatz für eine fiktive berufliche Tätigkeit, sondern der Ersatz der ausfallenden Leistung wegen Arbeitslosigkeit (vgl. Kasseler Kommentar/Höfler, SGB V, § 44 Rn. 20b). Arbeitsunfähigkeit liegt somit in der KVdA vor, wenn der Arbeitslose aus Krankheitsgründen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung steht.

Im vorliegenden Verfahren ist das Gericht gestützt auf das Gutachten des Arztes Dr. E. davon überzeugt, dass der Kläger ab dem 27. November 2017 nicht arbeitsunfähig war. 

Maßstab der Arbeitsunfähigkeit im Fall des Klägers ist, ob der arbeitslose Kläger noch der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger ist zur Überzeugung der Kammer noch in der Lage vollschichtig einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen.

In dem streitgegenständlichen Zeitraum bestanden bei dem Kläger gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. E. folgende Erkrankungen:
1. Depressive Verstimmungen in Form einer Dysthymia (ICD-10: F 34.1),
2. Beschwerden des Bewegungs- und Haltungsapparates ohne relevantes neurologisches Defizit.
3. Allergische Diathese, Asthma bronchiale,
4. Gastroösophageale Refluxkrankheit,
5. Krampfaderleiden der Beine,
6. Adipositas Grad I.

Diese Erkrankungen führten jedoch nicht zu einer Arbeitsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die kognitiven Funktionen, insbesondere die Denkfunktionen, waren nicht leistungsrelevant eingeschränkt. Auch ergaben sich keine Einschränkungen der Psychomotorik. Eine weitgehende Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an den Aktivitäten des täglichen Lebens beispielsweise in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Antrieb, Konzentrationsfähigkeit, Interesse und Aufmerksamkeit lag bei dem Kläger nicht vor. 

Die Überzeugungskraft des Gutachtens wird auch nicht durch anderweitigen ärztlichen Befunde, insbesondere die Einschätzungen der behandelnden Ärzte des Klägers, erschüttert.

Soweit der Kläger nach einem stationären Aufenthalt zur Rehabilitation in der Zeit vom 11. Januar 2017 bis 1. Februar 2017 – also noch vor dem streitgegenständlichen Zeitraum – arbeitsunfähig entlassen wurde, ist zu beachten, dass auch hier bereits von einer Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen war. Der allgemeine psychische Befund bei Aufnahme war schon unauffällig gewesen. Eine Depression wurde nicht erkannt. Zu dem Entlassungszeitpunkt war ferner keine Psychopharmakotherapie erfolgt. Seelische Beschwerden hatten damals bereits nicht im Vordergrund gestanden.

Auch die Befunde der Arztes Dr. D. waren im Hinblick auf die Arbeitsunfähigkeit des Klägers zunächst im orthopädischen Bereich angesiedelt. Die sich daraus ergebenden qualitativen Einschränkungen hatten keine Auswirkungen auf die quantitative Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Erst im weiteren Verlauf – hier durchaus in zeitlicher Verbindung mit der Geltendmachung sozialrechtlicher Leistungsansprüche – erfolgte ein „Shift“ von körperlichten Beschwerden hin zu psychischen Beschwerden (S. 28 des Gutachtens des Sachverständigen Dr. E.). Diesen Beschwerden haben sich aber insbesondere durch die zeitnahen Untersuchungen des Medizinischen Dienstes nicht objektivieren lassen. Erst durch die Ärztin Dr. F., C., C-Stadt, erfolgte eine nennenswerte Behandlung auch auf dem psychiatrischen Fachgebiet. Hier weist der Sachverständige im Hinblick auf die daraus resultierenden Funktionseinbußen darauf hin, dass die verordnete Tagesdosis an Psychopharmaka gerade einmal bei 10 v.H. der üblichen Dosis bei Erwachsenen zur Behandlung depressiver Symptome lag. Ferner verweist der Sachverständige überzeugend auf das Ergebnis einer Blutentnahme, bei der kein Nachweis von Antidepressiva gegeben war. Für die Kammer ist gut nachvollziehbar, dass dieses Ergebnis einen Rückschluss auf den geringen subjektiven seelischen Leidensdruck des Klägers zulässt. Dieser wird letztlich auch durch Dr. F. verbalisiert („demonstrative Ausprägung“, Rückseite Bl. 32 der Gerichtsakte, Befundbericht vom 3. März 2019). Letztlich fehlen hier im Übrigen im fraglichen Zeitraum kontinuierliche Behandlungstermine. Ein Neurochirurg wurde trotz Überweisung nicht aufgesucht.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Krankengeld lagen deshalb im fraglichen Zeitraum nicht vor. Die Klage konnte keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Rechtskraft
Aus
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