L 5 KR 222/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 44 KR 2513/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 222/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Verfassungsrecht, insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz, steht der Auslegung des § 13 Abs. 3a SGB V nicht entgegen, wonach die Genehmigungsfiktion nur einen Kostenerstattungsanspruch begründet.

 

I. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 12.05.2020 insoweit aufgehoben, als die Beklagte zur Sachleistung Kunsttherapie bis zur einer Gesamtstundenzahl von 52 Stunden mit einer Stundenfrequenz von 1 - 2 monatlich in Form von Doppelstunden als ambulante Krankenbehandlungsmaßnahme verurteilt wurde. Die Klage auf Versorgung mit Kunsttherapie als Sachleistung wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind in der Berufung nicht zu erstatten, in der ersten Instanz trägt die Beklagte die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1/7.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

T a t b e s t a n d :

Streitig ist die Versorgung der Klägerin mit einer Kunsttherapie als ambulante psychotherapeutische Maßnahme.

Die 1954 geborene Klägerin ist Mitglied bei der Beklagten.

1. Die Klägerin beantragte mit E-Mail vom 06.08.2018 bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine Kunsttherapie. Sie habe massive psychische Probleme und im Jahr 2016 im Rahmen einer stationären Reha-Maßnahme einen entscheidenden Schritt bei einer Kunsttherapeutin machen können. Sie müsse die Behandlung nun weiterführen. Mit ihrem Antrag übersandte die Klägerin der Beklagten ergänzend einen verschlossenen Umschlag zur Vorlage beim MDK. Diesen Umschlag leitete die Beklagte am 07.08.2018 ungeöffnet zusammen mit dem Kostenübernahmeantrag der Klägerin an MDK mit der Bitte um Prüfung weiter, ob der Therapeut fachlich befähigt ist und die Leistungsvoraussetzungen der Psychotherapie-Vereinbarung/-Richtlinien vorliegen. Am 31.08.2018 teilte der MDK der Beklagten mit, dass zur abschließenden Beurteilung der Anfrage Angaben zur Therapeutin mit Qualifikationsnachweisen, zur Kunsttherapie sowie zum Umfang der beantragten Therapie benötigt würden. Mit Schreiben vom 17.09.2018 forderte die Beklagte bei der Klägerin die vom MDK erbetenen Unterlagen an. Mit Begleitschreiben vom 27.09.2018 übersandte die Klägerin der Beklagten die erbetenen Unterlagen, insbesondere einen Ausbildungsnachweis der Kunsttherapeutin E und die Stundenempfehlung des behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie D (empfohlene Gesamtanzahl von zunächst 60 Stunden mit einer Stundenfrequenz von 1 - 2 Mal monatlich in Form von Doppelstunden). Diese Unterlagen leitete die Beklagte am 24.10.2018 an den MDK weiter und erteilte diesem am 22.01.2019 einen neuen Auftrag zur Bearbeitung. In dem nach Aktenlage erstellten sozialmedizinischen Gutachten des MDK vom 30.01.2019 wird die Kostenübernahme für die beantragte Kunsttherapie nicht empfohlen. Den vorliegenden Unterlagen sei zu entnehmen, dass die Therapeutin die formalen Voraussetzungen zur Durchführung der ambulanten Psychotherapie nicht erfülle. Es lägen keine Unterlagen vor, aus denen hervorgehe, dass es sich bei der Therapeutin um eine approbierte psychologische Psychotherapeutin oder eine ärztliche Psychotherapeutin handele. Eine Ausbildung in einem Richtlinienverfahren liege nicht vor. Die Kunsttherapie sei zudem nicht Bestandteil der Psychotherapie-Richtlinie. Mit Bescheid vom 08.02.2019 wies die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme ab und folgte dabei dem MDK.

Im Widerspruchsverfahren argumentierte die Klägerin, es sei nicht nachvollziehbar, dass stationär angebotene Leistungen ambulant nicht bewilligt werden. Ärztlicherseits werde die Therapie als medizinisch dringend indiziert gesehen. Der von der Beklagten erneut beauftragte MDK bestätigte nach Vorlage des Entlassungsberichts der stationären Reha-Maßnahme in der Klinik B und eines ärztlichen Befundberichts das Ergebnis des Erstgutachtens. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.10.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

2. Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben und zur Begründung erneut das antragsbefürwortende Schreiben des D vorgelegt und vorgetragen, es bestehe ein Anspruch auf Kostenübernahme der beantragten Kunsttherapie, weil diese aus medizinischen Gründen notwendig sei. Im Verwaltungsverfahren sei die gesundheitliche Situation der Klägerin nicht vollständig berücksichtigt worden.

Die Beklagte hat vorgetragen, die Therapie sei ein neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) ohne Votum des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Eine Genehmigungsfiktion sei nicht eingetreten, da die Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liege.

Das SG hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 12.05.2020 stattgeben und die Beklagte unter Bezugnahme auf die zu diesem Zeitpunkt noch geltenden Rechtsprechung des BSG aufgrund Eintritts der Genehmigungsfiktion zur Kostenerstattung selbstbeschaffter Leistungen der Kunsttherapeutin D1 in Höhe von 320 € verurteilt sowie zur Versorgung der Klägerin mit weiteren 52 Therapiestunden. Die Frist des § 13 Abs. 3a SGB V sei abgelaufen, der Bescheid vom 08.02.2019 könne die Fiktion nicht aufheben.

3. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und allein die Aufhebung des Urteils hinsichtlich der Verurteilung zu Sachleistungen begehrt. Seit Änderung der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG vom 26.05.2020 (B 1 KR 9/18 R), bestätigt durch die Urteile des 3. Senats vom 18.06.2020 (B 3 KR 13/19 R u.a.) sei die Rechtsfolge einer Genehmigungsfiktion auf die Kostenerstattung bei Selbstbeschaffung beschränkt. Ein Naturalleistungsanspruch bestünde nicht, da die Kunsttherapie nicht unter das Richtlinienverfahren falle und die Therapeutin nicht approbiert sei.

Die Klägerin hat vorgetragen, die neue Rechtsprechung des BSG sei im Hinblick auf den Willen des Gesetzgebers und den Wortlaut des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V kritikwürdig. Zudem schaffe sie neuen Konfliktstoff. Die Fiktionsnorm des § 18 Abs. 3 und 4 SGB IX sei exklusiv für Teilhaberechte geschaffen. Die neue Rechtsprechung sei verfassungsrechtlich bedenklich, da sie zu einem Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz führe.

Der Prozessvertreter der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er keine Kenntnis darüber habe, ob sich die Klägerin weitere Leistungen der begehrten Kunsttherapie selbst beschafft habe. Eine Umstellung des Antrags auf eine weitere Kostenerstattung ist bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt.

Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 12.05.2020 insoweit aufzuheben, als die Beklagte zur Sachleistung Kunsttherapie verurteilt wurde bis zur einer Gesamtstundenzahl von weiteren 52 Stunden mit einer Stundenfrequenz von 1 -2 monatlich in Form von Doppelstunden als ambulante Krankenbehandlungsmaßnahme sowie die Klage unter teilweise Aufhebung des Gerichtsbescheids vom 12.5.2020 insoweit abzuweisen, als die Klägerin Kunsttherapie als Sachleistung beantragt hat.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten. Auf diese wird ergänzend Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) der Beklagten ist begründet.

Der Gerichtsbescheid des SG ist in dem von der Beklagten angegriffenen Umfang aufzuheben und die Klage diesbezüglich abzuweisen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einer ambulanten Kunsttherapie. Der Anspruch ergibt sich weder aus der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V (dazu 1.) noch aus § 27 Abs. 1 SGB V (dazu 2.).

Nicht streitgegenständlich sind im Berufungsverfahren die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V für Kostenerstattungsansprüche in Gestalt der Leistungsberechtigung der Klägerin und des Vorliegens eines fiktionsfähigen Antrags sowie die verspätete Entscheidung der Beklagten über diesen Antrag. Die Beklagte hat die Verurteilung zu Kostenerstattung, wie erstinstanzlich durch die Klägerin beantragt, nicht angegriffen. Insoweit ist Rechtskraft des Gerichtsbescheids eingetreten (§ 141 SGG).

1. Die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V führt nicht zu einem Anspruch auf Sachleistung, vorliegend wie beantragt in Form einer Versorgung mit ambulanter Kunsttherapie bis zu 52 Stunden.

Die Klägerin hat im Berufungsverfahren ihren Antrag nicht auf Kostenerstattung umgestellt. Daher sind die rechtlich auch nach der Rechtsprechungsänderung weiterhin diskussionswürdigen Fragen insoweit nicht entscheidungserheblich. Es kommt weder auf die Rechtsqualität der Fiktion an noch auf die weiteren Voraussetzungen hinsichtlich des Bestehens eines materiell-rechtlichen Anspruchs bei Selbstbeschaffung zu Lasten der Krankenkasse, insbesondere Vorliegen von Gutgläubigkeit bei der Versicherten. Streitig ist in der Berufung allein, ob § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V als Rechtsfolge des Eintritts der Genehmigungsfiktion einen Anspruch der Klägerin auf eine Sachleistung vorsieht.

Der Senat folgt dazu der Rechtsprechung des BSG in seiner Auslegung des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V seit dem 26.05.2020 (B 1 KR 9/18 R, bestätigt durch den 3. Senat des BSG in den Urteilen vom 18.06.2020 - B 3 KR 14/18 R, B 3 KR 6/19 R, B 3 KR 13/19 R). Soweit dies von der Rechtsprechung des entscheidenden Senats in einer älteren Entscheidung abweicht (BayLSG, Urt. v. 23.02.2016 - L 5 KR 351/14), wird daran nicht festgehalten. Die neue Rechtsprechung des BSG (Aufgabe von Urt. vom 08.03.2016 - B 1 KR 25/15 R bis zuletzt Urt. v. 27.08.2019 - B 1 KR 36/18 R bzw. Urt. 15.03.2018 - B 3 KR18/17 R) ist - die dies hier zur Vermeidung von Wiederholungen nur in der gebotenen Kürze zusammengefasst werden soll - vom Wortlaut der Vorschrift gedeckt (dazu a) wie vom Gesetzeszweck (dazu b) und der Gesetzessystematik (c) und verstößt nicht gegen Verfassungsrecht (d).

a) Der Wortlaut des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V beschreibt die Rechtsfolge der Genehmigungsfiktion nicht, S. 7 hingegen nennt explizit nur die Kostenerstattung. Ein Anspruch auf die begehrte Naturalleistung ist aus dem Wortlaut nicht abzuleiten.

b) Der Gesetzgeber hatte ausweislich der Materialien die Kostenerstattung als Rechtsfolge im Blick (BT-Drs. 17/10488, S. 32 "insoweit orientiert sich die Regelung an der Erstattungsregelung in § 13 Abs. 3" und Beschlussempfehlung in BT-Drs. 17/11710, S. 29f.). Gegen diese historische Auslegung kann zwar berechtigterweise angeführt werden, dass das BSG die Materialien auch als Argument für den Anspruch auf Naturalleistungen herangezogen hat. Die objektiv-teleologische Auslegung zeigt jedoch, dass der im Vordergrund stehende Zweck der Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens auch dann vollständig erreicht werden kann, wenn allein die Kostenerstattung als Rechtsfolge der Fiktion eintritt.

c) Die Genehmigungsfiktion ist gesetzessystematisch ein Absatz des § 13 SGB V unter der amtlichen Überschrift "Kostenerstattung". Abs. 3a ordnet sich an dieser Stelle auch nach seiner Binnensystematik stimmig ein (B 3 KR 14/18 R aaO, Rz. 18 zitiert nach juris). Die Fiktion des § 18 Abs. 3 und 4 SGB IX ist - entgegen der Ansicht der Klägerin - keine Sondervorschrift für das Teilhaberecht, sondern orientierte sich bereits in seiner Entstehung an § 13 Abs. 3 und Abs. 3a SGB V (BT-Drs. 18/9522, S. 238). Die zeitlich später entstandene Regelung des § 18 Abs. 3 und 4 SGB IX normiert als gesetzliche Weiterentwicklung des § 15 SGB IX aF im Unterscheid zu § 13 Abs. 3a SGV V nur in ihrem Wortlaut die Rechtsfolgen eindeutiger.

Ein Anspruch auf einen Sachleistungsanspruch mit dem Argument der Gesetzessystematik ergibt auch nicht aus Parallelen zu weiteren gesetzlichen Genehmigungsfiktionen im Recht der GKV. Diese Vorschriften haben andere Voraussetzungen zum Eintritt der Fiktion oder einen anderen Schutzzweck. In § 32 Abs. 1a SGB V erfordert der Fristenlauf - anders als in § 13 Abs. 3a SGB V - eine vollständige Übersendung aller erforderlichen Informationen durch den Versicherten, in § 60 Abs. 1 S. 5 SGB V ist die Fiktion an materiell-rechtliche Voraussetzungen geknüpft und in § 91 Abs. 4 S. 3 SGB V ist kein Leistungsanspruch eines Versicherten betroffen.

d) Der Senat folgt dem BSG nach eigener Prüfung vollinhaltlich dahingehend, dass das Verfassungsrecht, insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, dieser Auslegung von § 13 Abs. 3a SGB V nicht entgegensteht. Naturalleistungen nach dem SGB V stehen allen Versicherten, unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten, in gleichem Umfang zur Verfügung. Die in erster Linie zur Beschleunigung der Verwaltungsverfahren eingeführte Genehmigungsfiktion ist eine Ausnahme zum grundsätzlich geltenden Sachleistungsprinzip. Art. 3 Abs. 1 GG fordert keine allgemeine und umfassende Einräumung von über das allgemeine Leistungsrecht des SGB V hinausgehenden Sachleistungsansprüchen über Vorschriften, die der Verfahrensbeschleunigung dienen (B 3 KR 13/19 R aaO, Rz. 22ff. zitiert nach juris).

2. Es besteht kein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer ambulanten Kunsttherapie aus materiellen Recht (§§ 11 Abs. 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 SGB V).

Die Klägerin ist aufgrund ihrer in der Vergangenheit durchlebten Traumata unstreitig behandlungsbedürftig auf psychiatrisch-psychologischen Fachgebiet. Sie begehrt eine ambulante Behandlung durch eine nicht approbierte Therapeutin, die lediglich über eine berufsbegleitende Weiterbildung in Kunst- und Gestaltungstherapie verfügt, mit einer Behandlungsform, die nicht der Psychotherapie-Richtlinie des G-BA entspricht. Dies betrifft sowohl E als auch D1.

Auf die begehrte Behandlung besteht kein Anspruch zu Lasten der GKV. Es fehlt bereits an der zur Qualitätssicherung erforderlichen Approbation der Therapeutin (zur Mindestvoraussetzungen der Approbation für eine Kostenübernahme: BSG, Urt. v. 13.12.2016 - B 1 KR 4/16), zudem an einer anerkannten Behandlungsform. Die Ansicht der Klägerin, dass eine im stationären Rahmen zu Lasten eines Sozialversicherungsträgers angebotene Leistung zu einem Versorgunganspruch im ambulanten Setting führen müsse, findet im Gesetz keine Stütze. Der Senat zweifelt weder an möglichen Therapieerfolgen von Behandlungsformen, die nicht in der Richtlinie des G-BA gelistet sind, noch an der Geeignetheit einer Kunst- und Gestaltungstherapie zur Bewältigung der klägerischen Traumata, jedoch besteht nach der aktuellen Gesetzeslage kein rechtlich durchsetzbarer Anspruch gegenüber der GKV auf diese ambulante Behandlung.

Die Berufung der Beklagten war damit im beantragten Umfang erfolgreich.

Die Kostenentscheidung folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache in der jeweiligen Instanz (§§ 183, 193 SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben. Im Hinblick auf die senatsübergreifende Rechtsprechung des BSG seit Mai 2020 ist die Grundsätzlich der Rechtsfrage zu den Rechtsfolgen der Genehmigungsfiktion zu verneinen.

 

Rechtskraft
Aus
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