S 2 KG 2/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 2 KG 2/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Für die Frage, ob ein Kläger den Aufenthalt seiner Eltern im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG nicht kennt, kommt es auf fehlende oder unzureichende Bemühungen, den Aufenthaltsort zu ermitteln, grundsätzlich nicht an. Nur die positive Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern steht einem Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst entgegen.
2. Grenze bildet wie bei jeder Rechtsausübung die Annahme von Rechtsmissbrauch.
3. Für die Frage, welche Ausprägung die Kenntnis im Einzelfall haben muss, ist der Aufenthaltsort gleichzustellen mit dem in Deutschland anwendbaren Begriff der „ladungsfähigen Anschrift“.
4. Die Inanspruchnahme des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes kann nicht verlangt werden.
 

1.    Der Bescheid der Beklagten vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2020 wird aufgehoben.

2.    Die Beklagte wird verurteilt dem Kläger für den Zeitraum von August 2019 bis August 2021 Kindergeld zu gewähren. 

3.    Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

 
Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG).

Der Kläger wurde 1996 in C-Stadt im Sudan geboren (Bl. 2/88 d. Verwaltungsakte). Seit 2014 lebt er in Deutschland. Er erhält eine unbefristete Niederlassungserlaubnis (Bl. 88 d. Verwaltungsakte). Er war einige Jahre in einer Jugendwohngruppe in D-Stadt untergebracht (Bl. 49 d. Verwaltungsakte), absolvierte einen sechsmonatigen Freiwilligendienst in einem integrativen Kindergarten (Bl. 55 d. Verwaltungsakte) und schloss im Jahr 2019 die Fachoberschule mit bestandener Fachhochschulreife ab (Bl. 82 d. Verwaltungsakte). Seit September 2019 war er immatrikuliert an der E.-Universität A-Stadt im Studiengang Bachelor Wirtschaftsinformatik (Bl. 84 d. Verwaltungsakte). Mittlerweile studiert er an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) Wirtschaftsinformatik.

Der Kläger bezog seit dem Jahr 2016 Kindergeld von der Beklagten (Bl. 2 ff. d. Verwaltungsakte). Auf dem Fragebogen zum Aufenthalt der Eltern gab er im Jahr 2016 auf die Frage, ob zur Feststellung des Aufenthalts eine Behörde eingeschaltet wurde, „nein“ an (Bl. 13 ff. d. Verwaltungsakte). Auf die Frage, welche Umstände zur Trennung geführt haben, gab er an: „Mutter und Kind (A.) wurden in Eritrea während der Suche nach dem Vater Anfang Dezember 2013 an verschiedenen Tagen von der Polizei verhaftet. Ich konnte fliehen. Anschließend kam ich als Flüchtling nach Deutschland.“. Auf die Frage, welche Bemühungen unternommen wurden, um den Aufenthalt festzustellen, gab er an: „Es ist bekannt, dass die Mutter in Eritrea in Haft ist, Kontaktaufnahme ist nicht möglich“.

Der Kläger stellte mit Eingang am 03.01.2020 einen Antrag auf Kindergeld bei der Beklagten (Bl. 92 ff. d. Verwaltungsakte). Die Frage, ob der aktuelle Aufenthalt der Eltern bekannt ist, wurde mit „nein“ angekreuzt. Auf dem Fragebogen zum Aufenthalt der Eltern gab er auf die Frage, ob zur Feststellung des Aufenthalts eine Behörde eingeschaltet wurde, keine Antwort an (Bl. 98 ff. d. Verwaltungsakte). Auf die Frage, welche Umstände zur Trennung geführt haben, gab er an: „Als ich und meine Mutter auf der Suche nach meinem Vater in Eritrea wurde Mutter verhaftet. Wenige Tage danach wurde ich auch verhaftet, konnte aber entkommen. Anschließend flüchtete ich nach Deutschland. Meine Mutter ist seitdem in Haft und ich habe keinen Kontakt mehr.“. Auf die Frage, welche Bemühungen unternommen wurden, um den Aufenthalt festzustellen, gab er keine Antwort an. Auf Nachfrage der Beklagten antwortete der Kläger auf die Frage, welche Bemühungen unternommen wurden, um den Aufenthalt festzustellen, mit Schreiben vom 18.01.2020: „Ich weiß von meinem Onkel, der in G-Stadt lebt, dass meine Mutter immer noch in Haft sitzt. Ich habe letztes Mal mit meinem Onkel telefoniert im Dezember 2019.“ sowie „Ich habe immer noch Kontakt mit meinem Onkel. Er sagte mir, dass sie in H-Stadt in Haft sitzt. Das ist in G-Stadt.“ (Bl. 105 ff. d. Verwaltungsakte).

Mit Bescheid vom 04.05.2020 wurde der Antrag auf Kindergeld ab dem Monat Juli 2019 abgelehnt (Bl. 138 ff. d. Verwaltungsakte). Dem Kläger sei der Aufenthalt seiner Mutter bekannt, sodass die Anspruchsvoraussetzungen nicht vorlägen.

Der Kläger legte dagegen mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 12.05.2020 Widerspruch ein (Bl. 141 f. d. Verwaltungsakte). Seit der Erstbewilligung des Kindergeldes mit Bescheid vom 31.05.2016 habe sich nichts geändert. Dem Kläger sei der Aufenthalt seiner Mutter nicht bekannt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.05.2020 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück (Bl. 154 ff. d. Verwaltungsakte). Der Kläger habe keine weiteren Anstrengungen unternommen, den Aufenthaltsort der Mutter ausfindig zu machen. Er habe nicht darlegen können, beispielsweise Suchdienste, Behörden oder Verwandte im Heimatland in Anspruch genommen zu haben.

Am 26.06.2020 hat der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage zum Sozialgericht erhoben. Er sei mit seiner Mutter im Jahr 2013 nach Eritrea gereist, um den Vater zu suchen. Die Mutter sei am 27.11.2013 in G-Stadt verhaftet worden, der Kläger kurz danach auch, habe jedoch fliehen können. Ein Onkel des Klägers habe sich bei Behörden mehrfach erfolglos nach dem Verbleib der Mutter erkundigt. Von weiteren Nachfragen sei aus Angst vor Konsequenzen abgesehen worden. Der Kläger habe seit 2013 keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2020 aufzuheben und dem Kläger Kindergeld für die Zeit von August 2019 bis August 2021 zu gewähren. 

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Mutter kenne, da er wisse, dass sie in G-Stadt in Haft sei. Der Kläger habe zudem keine weiteren Anstrengungen unternommen, den Aufenthaltsort der Mutter ausfindig zu machen. Er habe nicht darlegen können, beispielsweise Suchdienste, Behörden oder Verwandte im Heimatland in Anspruch genommen zu haben.

Das Gericht hat den Sachverhalt mit den Beteiligten am 18.08.2021 erörtert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2020 ist rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld für sich selbst für die Zeit von August 2019 bis August 2021.

Gemäß § 1 Abs. 2 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst erhält, wer
1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

Dabei besteht der Anspruch für einen nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer wie den Kläger gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 1 BKGG nur dann, wenn er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist.

Diese Voraussetzungen sind zwischen den Beteiligten nicht umstritten und auch für die Kammer außer Zweifel – mit Ausnahme der Anspruchsvoraussetzung, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt. Diese Voraussetzung liegt vorliegend aber ebenfalls vor.

Nach bundessozialgerichtlicher Rechtsprechung ist für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt“ allein der Wortlaut maßgebend. Dieser ist subjektiv ausgerichtet, sodass die Nichtkenntnis des Kindes entscheidend ist. Der Vorschrift lässt sich in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte. Es ist lediglich zu erwägen, ob eine missbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis gleichgestellt werden kann (BSG, Urt. v. 08.04.1992, Az. 10 RKg 12/91, juris Rn. 15 ff.; überzeugend auch SG Fulda, Urt. v. 27.10.2020, Az. S 4 KG 1/20, juris Rn. 23 ff.).

Auf fehlende oder unzureichende Bemühungen, den Aufenthaltsort der Eltern zu ermitteln, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten grundsätzlich überhaupt nicht an. Ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts steht nur die positive Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern einem Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst entgegen. Die Annahme von Rechtsmissbrauch als Grenze jeder Rechtsausübung setzt vorliegend voraus, dass der Kläger entweder eine Suche nach Kontakten zu seinen Eltern unterlassen hat, um damit einen Anspruch auf Kindergeld zu erlangen bzw. aufrechtzuerhalten, oder aber zumindest keinen Kontakt zu ihnen suchte, obwohl dies ohne Weiteres möglich wäre, um dann nachträglich diese Option für sich als Anspruchsgrund für Kindergeldzahlungen zu nutzen (SG Fulda, Urt. v. 27.10.2020, Az. S 4 KG 1/20, juris Rn. 23 ff.).

Für die Frage, welche Ausprägung die Kenntnis im Einzelfall haben muss, ist der Aufenthaltsort gleichzustellen mit dem in Deutschland anwendbaren Begriff der „ladungsfähigen Anschrift“ (so überzeugend SG Gießen, Urt. v. 07.05.2021, Az. S 12 KG 2/18, juris Rn. 26). Schon aus dem Sinn und Zweck der zugrundeliegenden Regelung ergibt sich zwingend, dass eine konkrete Erreichbarkeit der Eltern gegeben sein muss.

Nach dieser Maßgabe liegen die Anspruchsvoraussetzungen beim Kläger vor. Der genaue Beweismaßstab kann vorliegend dahinstehen, da die Kammer nach dem Vorbringen des Klägers, wie es sich insbesondere in seiner persönlichen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung darstellt, zur Überzeugung gelangt ist, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Eltern im streitgegenständlichen Zeitraum nicht kannte, wobei davon auszugehen ist, dass der Vater verstorben ist. Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Rechtsausübung des Klägers sind für die Kammer nicht ersichtlich.

Zur Überzeugung der Kammer hat der Kläger seit dem Jahr 2013 keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Die Mutter des Klägers ist im Jahr 2013 in Eritrea inhaftiert worden. Der Vater ist verstorben. Der Kläger ist in der Folge alleine nach Deutschland geflohen. Über einen Onkel hat er erfahren, dass seine Mutter auch noch einige Jahre später in Haft gesessen habe, wobei ihm keine konkrete Haftanstalt bekannt ist und auch kein Kontakt zur Mutter bestand. Diesen Vortrag hat der Kläger über viele Jahre widerspruchsfrei und nachvollziehbar im Verwaltungsverfahren und zur Überzeugung der Kammer auch im vorliegenden Gerichtsverfahren gemacht. Für die Kammer besteht kein Grund, am Vortrag des Klägers zu zweifeln.

Soweit die Beklagte dagegen eingewandt hat, der Kläger habe Kenntnis vom Aufenthaltsort der Mutter, weil er wisse, dass diese in G-Stadt in Haft sitze, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Zur Überzeugung der Kammer liegt schon keine Kenntnis des Klägers von genanntem Umstand vor. Der Kläger hat von einem Onkel erfahren, dass die Inhaftierung der Mutter noch andauere. Für die Kammer stellt sich die Situation unter dem Eindruck der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung so dar, dass damit eine Hoffnung des Klägers zum Ausdruck kommt. Neben der abstrakten Information durch den Onkel liegen keine weiteren Kenntnisse vor. Da die Kenntnis des Aufenthaltsortes mit dem in Deutschland anwendbaren Begriff der „ladungsfähigen Anschrift“ gleichzustellen ist, liegt hier keine Kenntnis vor. Eine konkrete Haftanstalt ist dem Kläger zur Überzeugung der Kammer jedenfalls nicht bekannt. Es kann vorliegend dahinstehen, ob in Anbetracht der Sicherheitslage in Eritrea und den aus der öffentlichen Berichterstattung bekannten katastrophalen Bedingungen in den Haftanstalten eine solche Kenntnis überhaupt etwas am Ergebnis ändern würde.

Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Rechtsausübung des Klägers sind für die Kammer nicht ersichtlich. Alle naheliegenden Ermittlungsversuche hat der Kläger unternommen. Weitere zumutbare und unterlassene Schritte sind für die Kammer nicht ersichtlich. Für die Kammer ist insbesondere nicht nachvollziehbar, welche Ermittlungsversuche die Beklagte in Anbetracht der Situation in Eritrea vom Kläger erwartet hätte. Nach allgemein zugänglichen Informationen des Auswärtigen Amtes, des Europäischen Parlaments oder von Institutionen wie Amnesty International, die auch der Beklagten zur Verfügung gestanden hätten, ist die Sicherheitslage in Eritrea seit vielen Jahren extrem kritisch. Es ist für den Kläger offensichtlich ausgeschlossen, Ermittlungsversuche vor Ort zu unternehmen. Auch der Vortrag, dass weitere Ermittlungsversuche durch den Onkel vor Ort die Sorge ausgelöst hätten, dass dieser selbst in Gefahr geraten könnte, ist in Anbetracht der Sicherheitslage für die Kammer ohne Zweifel nachvollziehbar. Derartige Ermittlungsversuche sind für den Kläger unzumutbar. Die von der Beklagten vertretene Auffassung, die Inanspruchnahme des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes könne ein Maßstab für die Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit sein, ist offensichtlich unzutreffend (vgl. zu dieser Frage nur die überzeugenden Ausführungen von SG Fulda, Urt. v. 27.10.2020, Az. S 4 KG 1/20, juris Rn. 26 ff.; SG Kassel, Urt. v. 20.08.2020, Az. S 11 KG 1/20, juris Rn. 16).

Der Klage war danach vollumfänglich stattzugeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus §§ 143, 144 SGG.

Rechtskraft
Aus
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