L 26 KR 8/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
26.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 198 KR 752/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 26 KR 8/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. November 2019 wird zurückgewiesen.

 

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für eine ambulante außervertragliche Psychotherapie mit entstandenen Kosten im Umfang von 2.679,31 Euro.

 

Die 1978 geborene Klägerin ist Mitglied der beklagten Krankenkasse.

 

Sie beantragte mit Schreiben vom 30. Januar 2017 die Übernahme der Kosten für eine außervertragliche Psychotherapie bei Frau Dipl.-Psych. L, Psychologische Psychotherapeutin mit Praxissitz in der P Straße ,  B. Zur Begründung führte sie aus, dass sie trotz intensiver Bemühungen keinen freien Therapieplatz bei einem kassenzugelassenen Psychotherapeuten erhalten habe und aufgrund ihrer Erkrankung keine längere Wartezeit in Kauf nehmen könne. Dem Antrag fügte sie eine von ihr unterzeichnete Liste vom 30. Januar 2017 mit den Namen von zwölf Berliner Psychotherapeutinnen und -therapeuten bei, die sie am 24./25. Januar 2017 kontaktiert hatte. Des Weiteren legte sie eine ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung vor Aufnahme einer Psychotherapie der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. D mit den Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, mittelgradige Episode sowie einer Agoraphobie vom 30. Januar 2017 vor. Danach litt die Klägerin an schweren Schlafstörungen, wiederauftretenden agoraphobischen Ängsten und einer gedrückten Stimmung. Es drohte eine erneute depressive Dekompensation bei depressiven Phasen in 2007 und 2012 mit lang bestehender, schwerer Symptomatik. Ein kurzfristiger Behandlungsbeginn wurde für dringend erforderlich erachtet.

 

Mit Bescheid vom 9. Februar 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Kosten für eine nicht vertragliche Psychotherapie nur im Ausnahmefall übernommen werden könnten. Dieser liege vor, wenn der Versicherte keinen freien Therapieplatz bei einer zugelassenen Therapeutin bzw. einem zugelassenen Therapeuten finde. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung gebe es in der Region der Klägerin allerdings genügend Therapeutinnen und Therapeuten mit einer Kassenzulassung. Deshalb könnten keine Kosten für die Behandlung durch Dipl.-Psych. L übernommen werden. Die Klägerin könne bei den folgenden Therapeuten demnächst eine Behandlung beginnen: Dipl.-Psych. K M, S , B; Dipl.-Psych. J V, C , B sowie Se  A, G ,  B. Die Klägerin solle mit einem/einer dieser Therapeutinnen/Therapeuten einen Termin vereinbaren.

 

Gegen den Bescheid der Beklagten erhob die Klägerin unter dem 9. März 2017 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, dass ihr von den zugelassenen Therapeuten kein Therapieplatz angeboten worden bzw. die Wartezeit auf einen solchen unzumutbar lang gewesen sei. Sie gehe davon aus, dass sie ihren Beruf ohne zeitnahe Durchführung der Therapie nicht mehr ausüben könne. Zu Dipl.-Psych. L bestehe ein besonderes Vertrauensverhältnis.

 

Der Beklagten lag außerdem ein Bericht von Dipl.-Psych. L vom 28. März 2017 vor, nach dem sich die Klägerin in einer äußerst schwierigen Situation befinde. Um eine Exazerbation der Symptomatik sowie eine langanhaltende Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden, sei ein möglichst rascher Therapiebeginn erforderlich. Ein Nachweis ihrer Approbation, der Fachkundenachweis sowie der Eintrag im Arztregister lägen der Beklagten vor. Es würden fünf probatorische Sitzungen und 45 Einzelsitzungen Verhaltenstherapie (GOP Ziffer 870) sowie die zugehörigen therapierelevanten Leistungen beantragt.

 

Mit Schreiben vom 11. April 2017 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Kosten für die Behandlung bei Dipl.-Psych. L nicht übernommen werden könnten, da sie vertragsärztlich nicht zugelassen sei. In der weiteren Begründung verwies sie die Klägerin auf eine Sprechstunde bei einem zugelassenen Therapeuten/einer zugelassenen Therapeutin und auf die Möglichkeit, sich an die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin zu wenden. Diese vermittele ihr eine Therapeutin bzw. einen Therapeuten. Am Ende der psychotherapeutischen Sprechstunde erhalte sie eine individuelle Patienteninformation mit Empfehlungen zum weiteren Vorgehen.

Auch gegen das Schreiben vom 11. April 2017 erhob die Klägerin Widerspruch. Bei ihr sei zwischenzeitlich erstmals die Diagnose Morbus Crohn gestellt worden. Dies ergebe sich aus dem vorliegenden Bericht der Klinik W vom 30. Juni 2017. Danach bestehe die Symptomatik seit über 10 Jahren mit phasenweise auftretenden Durchfällen und abdominellen Schmerzen und endoskopisch segmentalen entzündlichen Schleimhautveränderungen, die auch psychisch zu einer deutlichen Belastung geführt hätten. Dem Hinweis der Beklagten folgend habe sie mehrfach erfolglos die Terminservicestelle versucht zu erreichen. Dies habe sie der Beklagten auch mitgeteilt. Zudem habe der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in den Sitzungen vom 16. Juni 2016 und 24. November 2016 beschlossen, dass die Regelung nach § 11 Abs. 1 S. 3 Psychotherapie-Richtlinie, nach denen Patientinnen und Patienten eine psychotherapeutische Sprechstunde in Anspruch zu nehmen hätten, bis zum 31. März 2018 ausgesetzt gewesen sei. Hiernach sei eine Sprechstunde vor der Behandlung etwa der probatorischen nach § 12 oder einer Richtlinientherapie nach § 15 Psychotherapie-Richtlinie nicht erforderlich. Außerdem liege ein Fall des Systemversagens vor. Die Dringlichkeit der Therapie sei aufgrund der Dringlichkeitsbescheinigung belegt. Eine umfassende aktuelle Absageliste der kontaktierten Therapeuten habe die Klägerin der Beklagten ebenfalls überreicht. Die von der Beklagten benannten Therapeuten Dipl.-Psych. V und Dipl.-Psych.  An seien nicht in zumutbarer Entfernung erreichbar gewesen. Hierfür hätte die Klägerin für Hin- und Rückfahrt etwa zwei Stunden einplanen müssen, was ihr wegen der Kinderbetreuung und dem Wunsch weiterzuarbeiten nicht möglich sei. Auch die genannte Therapeutin Dipl.-Psych. F(ehemals: M) sei nur in etwa anderthalb Stunden (Hin- und Rückfahrt) zu erreichen. Zudem habe sie schlicht Angst gehabt, zu Frau Fzu gehen, weil diese im Internet dermaßen vernichtende Kritiken erhalten habe, dass sie sich nicht habe vorstellen können, eine Arbeitsbeziehung zu dieser Therapeutin herstellen zu können. Schon gar nicht möge sie eine Erfahrung machen müssen, allein mit einem Dobermann im Behandlungszimmer zu sitzen, wie dies eine Patientin in einem Internetbeitrag vom 12. Februar 2013 zu einem Praxisbesuch bei Frau F berichtet habe.

 

Mit Schreiben vom 1. August 2017 wies die Beklagte daraufhin, dass mit dem Bericht von Dipl.-Psych. L vom 28. März 2017 kein neuer Antrag vorgelegen habe. Gleichwohl sei mit Schreiben vom 11. April 2017 die außervertragliche Psychotherapie erneut abgelehnt worden. Eine Entfernung zum Therapeuten von nicht mehr als 60 Minuten unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel gelte als zumutbar. Zu den drei im Bescheid vom 9. Februar 2017 genannten Therapeuten seien diese Entfernungen eingehalten. Außerdem sei die Therapeutin F nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie eine einzige schlechte Kritik im Internet erhalten habe. Bei dieser Kritik handele es sich um eine rein subjektive Beurteilung.

 

Mit Schreiben vom 27. Juli 2017, eingegangen bei der Beklagten am 4. August 2017, beantragte die Klägerin vorsorglich erneut acht probatorische Sitzungen und eine Richtlinientherapie als Verhaltenstherapie im Umfang von 45 Sitzungen sowie die Freistellung von den Kosten für die Therapie bei Dipl.-Psych. L. 

 

Mit Schreiben vom 8. August 2017 schlug die Beklagte der Klägerin einen Therapieplatz bei der Dipl.-Psych. G  S, M Straße 39, B vor. Diese Therapeutin sei vom Wohnort der Klägerin in 30 Minuten mit dem Auto zu erreichen, was als zumutbar gelte.

 

In der Zeit vom 28. März 2017 bis zum 16. November 2017 nahm die Klägerin psychotherapeutische Leistungen bei Dipl.-Psych. L in Anspruch, für die diese insgesamt 2.679,31 Euro in Rechnung stellte (Rechnungen vom 22. September 2017 über fünf probatorische Sitzungen und 15 psychotherapeutische Sitzungen sowie vom 24. November 2017 über drei Einzelsitzungen). Die Klägerin überwies die Rechnungsbeträge ausweislich der vorgelegten Kontoauszüge am 2. Oktober 2017 bzw. 27. November 2017 an die Therapeutin. Aus den Rechnungen gehen die Diagnosen F 40.01 (Phobische Störungen mit Panikstörung), F 40.1 (Soziale Phobien), F 33.1 (Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode) hervor.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 29. März 2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 9. Februar 2017 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die psychotherapeutische Behandlung einer Krankheit nach § 28 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) durch psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Psychotherapeuten), soweit sie zur psychotherapeutischen Behandlung zugelassen seien, sowie durch Vertragsärzte entsprechend den Richtlinien nach § 92 SGB V durchgeführt werde. Nach dem Willen des Gesetzgebers dürften die Versicherten nach § 76 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 72 Abs. 1 S. 2 SGB V nur unter den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Therapeuten frei wählen. Nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Therapeuten dürften ausnahmsweise in Anspruch genommen werden, wenn die Krankenkasse zuvor zugestimmt habe. Dies setze voraus, dass medizinische oder soziale Gründe vorlägen, die eine Inanspruchnahme dieser Leistungserbringer rechtfertigten und eine zumindest gleichwertige Versorgung gewährleistet sei. Darüber hinaus seien nach § 13 Abs. 3 SGB V dem Versicherten die Kosten einer selbstbeschafften Leistung zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig habe erbringen können, oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt habe, soweit diese notwendig gewesen sei. Die von der Klägerin gewählte Therapeutin sei zwar im Besitz der notwendigen Approbation, aber nicht zur vertraglichen Versorgung zugelassen und könne deshalb Patienten nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung behandeln. Die Beklagte habe der Klägerin vertraglich zugelassene Therapeuten benannt, bei denen sofort alternativ eine psychotherapeutische Behandlung hätte begonnen werden können. Daher scheide eine Leistungserbringung nach § 13 Abs. 3 SGB V aus. Ebenfalls könne die Argumentation, nach der die Entfernung zur Praxis der Vertragstherapeuten zu weit gewesen sei, keine andere Entscheidung herbeiführen. Die Entfernungen von der Anschrift der Klägerin zu den Praxen der genannten Vertragstherapeuten lägen zwischen acht und achtzehn Kilometer und seien mit öffentlichen Verkehrsmitteln in einer Zeit 40 und 60 Minuten pro Wegstrecke zu erreichen. Dies stelle keine unzumutbare Entfernung dar, zumal die Praxis von Dipl.-Psych. L ebenfalls sechs Kilometer von der Wohnung der Klägerin entfernt liege und mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb von 40 Minuten pro Strecke zu erreichen sei. Das Argument, dass sich bereits ein Vertrauensverhältnis zwischen der Klägerin und der Therapeutin gebildet habe, könne ebenfalls zu keiner anderen Entscheidung führen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen ließen hinsichtlich der Argumentation, ein Therapeutenwechsel sei nicht zumutbar, nicht zu, dass Kosten getragen würden. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 11. Juli 2000 (B 1 KR 14/99 R) festgestellt, dass ein Therapeutenwechsel immer zumutbar sei, da sich die Notwendigkeit eines Ortswechsels auch aus anderen Gründen, etwa bei einem Umzug oder der Schließung einer Arztpraxis ergeben könne. Auch das Argument, dass die Therapie dringend notwendig sei, könne zu keiner anderen Entscheidung führen. Denn nach § 13 Psychotherapie-Richtlinie stehe mit der Akutbehandlung eine zeitnahe psychotherapeutische Intervention im Anschluss an die psychotherapeutische Sprechstunde zur Vermeidung von Fixierung und Chronifizierung psychischer Symptomatik als vertragsärztliche Leistung zur Verfügung. Da der Klägerin vertraglich zugelassene Therapeuten benannt worden seien, die kurzfristig einen Therapieplatz hätten anbieten können, seien keine sozialen oder medizinischen Gründe ersichtlich, die eine Inanspruchnahme der von ihr gewünschten Therapeutin rechtfertigen würden.

 

Am 30. April 2018 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass sie bis zum 24. Mai 2017 erfolglos versucht habe, die Terminservicestelle zu erreichen. Der GBA habe außerdem beschlossen, dass die Regelung nach § 11 Abs. 1 S. 3 Psychotherapie-Richtlinie, nach denen eine psychotherapeutische Sprechstunde in Anspruch zu nehmen sei, bis zum 31. März 2018 ausgesetzt werde. Außerdem solle die Sprechstunde nur der Abklärung dienen, ob fachspezifische Hilfe notwendig sei. Dies habe bei ihr aufgrund der Dringlichkeitsbescheinigung und dem Bericht der Klinik W außer Frage gestanden. Es liege der Fall eines Systemversagens vor. Die von der Beklagten genannten drei Behandler seien nicht in zumutbarer Entfernung erreichbar gewesen. Sie sei auch an Morbus Crohn erkrankt und habe daher keine lange Fahrten bewältigen können. Sie habe die Entfernungen darüber hinaus nicht in ihren Alltag integrieren können. Für Hin- und Rückfahrt hätte sie etwa zwei Stunden einplanen müssen. Die Praxis von Dipl.-Psych. L habe auf dem Weg zu ihrer Arbeit gelegen. Seit Anfang 2018 sei sie wieder bei ihrer vormaligen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. E G (L 25, B) in Behandlung, die über eine Zulassung verfüge und bei der sie die Therapie wegen der Schwangerschaft der Therapeutin zuvor habe abbrechen müssen.

 

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 5. November 2019 hat die Klägerin angegeben, dass sie aufgrund ihrer Morbus Crohn Erkrankung bis zu 30 Stuhlgänge am Tag gehabt hätte. Deshalb sei es für sie wichtig gewesen, dass die Praxis von Dipl.-Psych. L auf dem Weg zu ihrer Arbeit gelegen hätte, denn so hätte sie gewusst, wo sie hätte anhalten und eine Toilette aufsuchen können.

 

Mit Urteil vom 5. November 2019 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 2018 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 2.679,31 Euro zu zahlen. Es liege ein Fall des sogenannten Systemversagens vor, auf den die Klägerin den Kostenerstattungsanspruch stützen könne. Die Kammer schließe sich insoweit den in dem Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 9. April 2018, S 81 KR 1002/17, aufgestellten Maßstäben zur Inanspruchnahme einer außervertraglichen Psychotherapie an. Danach habe die Klägerin eine psychotherapeutische Behandlung, wie sich aus der Dringlichkeitsbescheinigung vom 30. Januar 2017 ergeben habe, dringend benötigt. Ihr sei vor diesem Hintergrund eine nur verhältnismäßig geringe Wartezeit zumutbar gewesen. Die Klägerin habe im Verwaltungsverfahren plausibel dargelegt, dass sie bei zwölf zugelassenen Psychotherapeuten erfolglos angefragt habe, teilweise sei ihr mitgeteilt worden, dass kein Therapieplatz verfügbar sei, teilweise sei sie nicht zurückgerufen worden. Wenngleich die im Normalfall für zumutbar gehaltene Zahl von 20 erfolglosen Anfragen bei Vertragstherapeuten noch nicht ausgeschöpft gewesen sei, habe die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls gleichwohl genügt. Sie habe in der mündlichen Verhandlung plausibel und nachvollziehbar geschildert, dass sie sich seinerzeit wegen der zunehmenden körperlichen Beschwerden aufgrund der Morbus Crohn Erkrankung, die erst später diagnostiziert worden sei, deren Symptome sich jedoch gerade in der ersten Jahreshälfte 2017 dramatisch gezeigt hätten, in einer außergewöhnlichen Belastungssituation befunden habe. Sie habe nachvollziehbar geschildert, unter welchen erheblichen Belastungen sie ihren Arbeitsweg mit größten Anstrengungen habe bewältigen können und hierbei mehrfach die öffentliche Toiletten habe aufsuchen müssen. Damit sei ihr zugleich eine Suche von Therapeuten nur in einem begrenzten örtlichen Umkreis von ihrer Arbeitsstelle und ihrer Wohnung zuzumuten gewesen. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bereits von vornherein auf die von ihr letztlich in Anspruch genommene Therapeutin festgelegt gewesen sei. Hierfür gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Die Beklagte ihrerseits habe die Klägerin bei der Suche nach einem Therapieplatz nicht hinreichend unterstützt. Zwar habe sie in dem Bescheid vom 9. Februar 2017 drei Therapeuten benannt, die Klägerin allerdings auf den nachvollziehbaren Einwand zu den Entfernungen lediglich auf die Terminservicestelle verwiesen, die aber ohnehin nur einen Termin für eine psychotherapeutische Sprechstunde zur Abklärung des Behandlungsbedarfs vermittele, der bei der Klägerin nicht streitig gewesen sei. Die Benennung einer weiteren Therapeutin im Schreiben vom 8. August 2017 könne unter Berücksichtigung der Einschränkung der Klägerin im Hinblick auf die Morbus Crohn Erkrankung hingegen nicht als hinreichende Unterstützung gewertet werden. Die Klägerin habe auch den vorgesehenen Beschaffungsweg eingehalten. Sie habe sich die Leistung erst beschafft, als die Krankenkasse über ihren Anspruch abschlägig entschieden habe.

 

Am 3. Januar 2020 hat die Beklagte gegen das ihr am 5. Dezember 2019 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Berufung eingelegt. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die ambulante Psychotherapie. Sie - die Beklagte - sei ihrer Verpflichtung aus §§ 14, 15, 17 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), die Klägerin bei der Suche nach einem Therapieplatz zu unterstützen, nachgekommen. Derjenige, der Sozialleistungen beantrage, müsse nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I alle Tatsachen angeben, die für die Leistung erheblich seien. Diese Tatsachen müsse der Leistungsträger kennen, um über die Gewährung und Höhe einer Leistung oder einzelner Teilleistungen und ihre gegebenenfalls weitere Bezugsdauer rechtmäßig entscheiden zu können. Die Klägerin habe ihr nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen mitgeteilt. Denn erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht habe sie angegeben, dass ihr die Wegstrecke aufgrund der dramatischen Äußerung der Symptome der Morbus Crohn Erkrankung mit bis zu 30 Stuhlgängen pro Tag nicht zumutbar gewesen sei. Vor diesem Hintergrund sei es nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin erstmalig in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht diesen Umstand angegeben habe. Für sie - die Beklagte - sei es nicht ersichtlich gewesen, dass die Unzumutbarkeit der Wegstrecke in anderen als den von der Klägerin im Widerspruchsverfahren genannten Gründen, nämlich dem Wunsch weiterzuarbeiten und der Kinderbetreuung, begründet liegen könne. Zudem sei in dem Entlassungsbericht der -Klinik W, in dem erstmalig die Diagnose Morbus Crohn gestellt worden sei, lediglich von einem drei bis viermal täglichen Stuhlgang die Rede.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. November 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung der Beklagten, ist unbegründet. Das Sozialgericht hat der mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verfolgten Klage zu Recht stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 2018 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der ihr entstandenen Kosten für die Wahrnehmung der Psychotherapie einschließlich der probatorischen Sitzungen bei Dipl.-Psych. L.

 

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs für die außervertragliche Psychotherapie bei Dipl.-Psych. L ist § 13 Abs. 3 S. 1 1. Alt. SGB V. Nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V sind, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Eine psychotherapeutische Behandlung kann grundsätzlich nur bei einem zur vertragsärztlichen oder vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassenen Arzt oder zur psychotherapeutischen Behandlung zugelassenen Psychologischen Psychotherapeuten nach § 28 Abs. 3 SGB V erfolgen. Nach § 76 Abs. 1 S. 1 SGB V, der nach § 72 Abs. 1 S. 2 SGB V u.a. für die Psychotherapeuten entsprechend gilt, können die Versicherten nur unter den zur vertraglichen Versorgung zugelassenen Psychotherapeuten frei wählen. Bei einer nicht zugelassenen Psychotherapeutin bzw. einem nicht zugelassenen Psychotherapeuten lässt § 13 Abs. 3 SGB V eine psychotherapeutische Behandlung nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB V zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung über Notfälle nach § 76 Abs. 1 S. 2 SGB V mit einem unvermittelt aufgetretenen Behandlungsbedarf hinaus ausnahmsweise dann zu, wenn dem Versicherten aus anderen Gründen der Zugang zu einem zugelassenen Leistungserbringer versperrt ist. Die Psychotherapeutin Dipl.-Psych. L verfügte unstreitig über die für eine psychotherapeutische Behandlung notwendige Approbation nach dem § 1 Abs. 1 S. 1 Psychotherapeutengesetz (PsychThG) (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 - B 1 KR 4/16 R - juris Rn. 9), war jedoch im Zeitraum der Behandlung der Klägerin nicht zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassen. Der Bedarf der Klägerin an einer psychotherapeutischen Behandlung wegen einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradige Episode und einer Agoraphobie ist aufgrund der Notwendigkeitsbescheinigung belegt und von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden.

 

Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 1 S. 1 1. Alt. SGB V ersetzt den primär auf die Sach- oder Dienstleistung gerichteten Anspruch auf eine erforderliche Krankenbehandlung – hier die psychotherapeutische Behandlung - nach § 27 Abs. 1 SGB V, wenn das Leistungssystem versagt. Lehnt die Krankenkasse - wie vorliegend - die beantragte Leistung nicht grundsätzlich, sondern die außervertragliche ab, kann ein Systemversagen nach § 13 Abs. 3 SGB V nur darin bestehen, dass sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann, weil ein zugelassener Leistungserbringer nicht rechtzeitig oder gar nicht zur Verfügung steht. Das Unvermögen der Krankenkasse, die Leistung rechtzeitig zu erbringen, sowie die rechtswidrige Verweigerung der Leistung berechtigen den Versicherten, sich die Leistung unter Durchbrechung des Sachleistungsprinzips selbst zu beschaffen. Deshalb kann ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 S. 1 1. Alt. SGB V nur dann bestehen, wenn die Voraussetzungen des hier gegebenen primären Leistungsanspruchs vorliegen. Weitere Voraussetzungen für die Kostenerstattung ist die Selbstbeschaffung einer entsprechend notwendigen Leistung durch die Versicherten, der Ursachenzusammenhang zwischen der Ablehnung der Leistung und der Selbstbeschaffung und die rechtlich wirksame Kostenbelastung durch die Selbstbeschaffung (sog. Systemversagen, BSG, Urteil vom 18. Januar 1996 - 1 RK 22/95 - juris Rn. 22; Urteil vom 7. Mai 2013 - B 1 KR 44/12 R - juris Rn. 10; Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 5/05 R -; Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 8/06 R – juris Rn. 23; Urteil vom 11. Mai 2017 - B 3 KR 6/16 R – juris Rn. 15). Die Fähigkeit der Krankenkasse, unaufschiebbare Leistungen rechtzeitig zu erbringen, bestimmt sich nach objektiven Kriterien. Eine Leistung ist im Sinne des § 13 Abs. 3 SGB V unaufschiebbar, wenn sie im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs bis zu einer Entscheidung des Leistungsträgers mehr besteht. Dabei kann eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung unaufschiebbar werden, wenn mit der Ausführung so lange gewartet wird, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss. Ein Zuwarten ist dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar, wenn der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z. B. wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist (BSG, Urteil vom 25. September 2000 - B 1 KR 5/99 R – juris Rn. 16; Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 8/06 R – juris Rn. 23; Urteil vom 8. September 2015 – B 1 KR 14/14 R – juris Rn. 15). Die medizinische Dringlichkeit ist indes allein nicht ausschlaggebend. Denn für die Fallgruppe des § 13 Abs. 1 S. 1 1. Alt. SGB V wird neben der Unaufschiebbarkeit vorausgesetzt, dass die Krankenkasse die in Rede stehenden Leistungen nicht rechtzeitig erbringen konnte. Im Regelfall kann hiervon erst ausgegangen werden, wenn die Krankenkasse mit dem Leistungsbegehren konfrontiert war und sich dabei ihr Unvermögen herausgestellt hat (BSG, Urteil vom 25. September 2000 – B 1 KR 5/99 R – juris Rn. 16; Urteil vom 2. November 2007 – B 1 KR 14/07 R – juris Rn. 28). Wann eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht werden kann, lässt sich nicht verallgemeinern. Maßgebend sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls. Bei Vorliegen einer akuten und schwerwiegenden psychischen Erkrankung dürften nur verhältnismäßig geringe Wartezeiten zumutbar sein, während im Normalfall für eine Richtlinien-Psychotherapie ein Zeitraum von ein bis zu drei Monaten noch vertretbar erscheint (SG Berlin, Urteil vom 9. April 2018 - S 81 KR 1002/17 – juris Rn. 34; Hessisches Landessozialgericht [LSG], Urteil vom 18. April 2019 - L 1 KR 360/18 - juris)

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe konnte die Beklagte die Klägerin nicht rechtzeitig mit einer vertraglichen Psychotherapie versorgen. Die Klägerin hatte als versichertes Mitglied der Beklagten unbestritten einen Anspruch auf eine psychotherapeutische Behandlung. Die psychotherapeutische Behandlung der Klägerin war, was von der Beklagten nicht in Abrede gestellt wird, ausweislich der ärztlichen Notwendigkeitsbescheinigung zur Vermeidung einer psychischen Dekompensation und zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme auch dringend notwendig. Eine Psychotherapie durch eine zugelassene Psychotherapeutin bzw. einen zugelassenen Psychotherapeuten war nicht rechtzeitig zu erbringen. Die Klägerin hat sich im Vorfeld des Beginns der Therapie bei Dipl.-Psych. L um eine vertragstherapeutische Versorgung bemüht. Sie hat im Umkreis ihres Wohnsitzes und ihrer Arbeitsstelle zwölf Therapeutinnen und Therapeuten kontaktiert, von denen neun keine freien Plätze und drei nicht geantwortet hatten. Eine konkrete zeitliche Perspektive für einen freien Therapieplatz hatte sich aus den Kontakten nicht ergeben. Hiermit hat sie die Beklagte in ihrem Leistungsantrag vom 30. Januar 2017 auch konfrontiert und die Beklagte im Widerspruchsverfahren noch vor Beginn der Psychotherapie am 28. März 2017 auf die Unzumutbarkeit der Wegstrecke zu den von der Beklagten benannten Therapeutin V und der Therapeutin  A, mit jeweiligem Praxissitz in B hingewiesen. Die Wegstrecke zu diesen beiden Therapeuten war für die Klägerin - worauf bereits das Sozialgericht zutreffend abgestellt hat - unter Berücksichtigung der Symptomatik ihrer Morbus Crohn Erkrankung nach Überzeugung des Senats unzumutbar. Zwar ist die Bewältigung einer einfachen Wegstrecke von bis zu einer Stunde nicht grundsätzlich unzumutbar (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. Juni 2010 - B 6 KA 22/09 R - juris zur Sonderbedarfszulassung und einem Versorgungsgebiet mit einem Radius von 25 km; vgl. auch BSG, Urteil vom 17. März 2021 - B 6 KA 2/20 R - juris Rn. 34; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2014 - L 9 KR 394/13 B ER - nicht veröffentlicht, wonach Berliner Versicherten grundsätzlich Psychotherapeuten im gesamten Stadtgebiet zumutbar seien). Vorliegend war aber für die Frage der Unzumutbarkeit der jeweils etwas 50 minütigen Anreisezeit mit dem Auto von der Wohnanschrift der Klägerin zu dem Vertragstherapeuten V und der Vertragstherapeutin  A im Verhältnis zur Wegstrecke von etwa 20 Minuten zu Dipl.-Psych. L die außergewöhnliche Belastungssituation durch die Symptomatik der nicht streitigen Morbus Crohn Erkrankung mit häufigem Stuhldrang maßgebend. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf eingehende Befragung glaubhaft dargelegt, dass die räumliche Entfernung zu dem Dipl.-Psych. V und der Dipl.-Psych.  A sowohl von ihrer Arbeit am  als auch von ihrer Wohnung nicht die Gewähr dafür boten, rasch eine Toilette aufsuchen zu können, was in der Situation der Klägerin jedoch erforderlich war. Sie hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit glaubhaft vorgetragen, dass die Zahl der Stuhlgänge, wie im Bericht der -Klinik W dargelegt, nicht nur drei- bis viermal täglich, sondern je nach Schubsymptomatik deutlich höher war. Der Senat hatte aufgrund der weiteren Angaben der Klägerin zum Umgang mit der Morbus Crohn Symptomatik keine Zweifel daran, dass sie in der Zeit der hier streitigen Behandlung ihren gesamten Alltag auf den Umgang mit der beschriebenen Symptomatik ausrichten musste. So hat sie überzeugend ausgeführt, dass sie ihren damaligen Berufsalltag ohne Arbeitsunfähigkeitszeiten nur dadurch bewältigen konnte, dass sie mit dem Auto zur Arbeit fuhr, also aufgrund der Symptomatik gar keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen konnte und auf ihrer Arbeitsstelle half, dass sich die Toilette räumlich direkt neben ihrem Büro befand. Soweit die Beklagte eingewandt hat, dass die Klägerin aufgrund des fehlenden Hinweises auf die Morbus Cohn Symptomatik im Verwaltungsverfahren und die dadurch besonderen Anforderungen an die Wegstrecke zur Therapie ihren Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I mit der Verpflichtung zur Angabe aller leistungserheblichen Tatsachen nicht nachgekommen sei, überzeugt dies nicht. Mit der Vorlage des Berichts der Klinik W wirkte die Klägerin bei der Ermittlung des Sachverhalts mit (vgl. § 21 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch [SGB X]). Der Beklagten war der Bericht der Klinik W bereits im Widerspruchsverfahren bekannt, ohne dass dies weitere Nachfragen oder gar Ermittlungen ausgelöst hätte. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zur Erklärung ihrer erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht geschilderten heftigen Symptomatik der Morbus Crohn Erkrankung plausibel vorgetragen, dass dies für sie sehr schambehaftet gewesen sei. Die Beklagte hat die ablehnende Entscheidung zudem nicht auf eine fehlende Mitwirkung der Klägerin nach § 66 Abs. 1 SGB I gestützt. Da vorliegend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz unter Berücksichtigung der materiellen Rechtslage im streitigen Zeitraum maßgebend war, sind sämtliche im Verfahren glaubhaft getätigten Angaben der Klägerin zu der heftigen Symptomatik der Morbus Crohn Erkrankung zu berücksichtigen gewesen.

 

Anderweitige Behandlungsmöglichkeiten als bei Dipl.-Psych. L bestanden für die Klägerin aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls, auf die das Sozialgericht zutreffend abgestellt hat, nicht. Bei der wohnortnäheren Therapeutin F meldete  sich die Klägerin noch vor Aufnahme der Therapie bei Dipl.-Psych. L nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht und dem erkennenden Senat telefonisch und erhielt keine Antwort. Zu dem Schreiben der Beklagten vom 8. August 2017 mit dem Angebot eines wohnortnäheren Therapieplatzes bei Dipl.-Psych.  S hat die Klägerin vorgetragen, dieses erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht zur Kenntnis erhalten zu haben. Ungeachtet dessen wäre dieses Therapieangebot mehr als ein halbes Jahr nach Antragstellung im Hinblick auf die Dringlichkeit der Psychotherapie mit einer unzumutbaren Wartezeit verbunden gewesen und damit nicht mehr rechtzeitig erfolgt.

 

Auch Hinweise auf eine anspruchsschädliche Vorfestlegung der Klägerin auf die Therapeutin Dipl.-Psych. L als Behandlerin bestehen nicht. Eine Vorfestlegung liegt vor, wenn der Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt hat, wenn er also fest entschlossen ist, sich die Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte. Bei einer Vorfestlegung fehlt es an der Ursächlichkeit zwischen der Leistungsbeschaffung und der verspäteten Entscheidung der Krankenkasse. Die Vorfestlegung des Versicherten ist dann ursächlich für die dem Versicherten entstandenen Kosten und der Anwendungsbereich für ein Systemversagen nicht eröffnet (BSG, Urteil vom 25. März 2021 - B 1 KR 22/20 R - juris Rn. 19; Urteil vom 27. Oktober 2020 - B 1 KR 3/20 R - juris Rn. 15/22). Dies ist vorliegend indes nicht der Fall. Auch wenn die Klägerin konkret eine Psychotherapie bei Dipl.-Psych. L beantragte, war sie auf diese Therapeutin nicht im Voraus festgelegt. Die Klägerin beteiligte sich selbst aktiv an der Suche nach einem alternativen Therapieplatz, indem sie noch vor der Antragstellung zwölf zugelassene Therapeutinnen und Therapeuten sowie danach die von der Beklagten vorgeschlagene wohnortnahe Dipl.-Psych. F kontaktierte. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sie zum Zeitpunkt der Antragstellung oder der Bekanntgabe des ablehnenden Bescheides vom 9. Februar 2017 bereits erste Termine mit Dipl.-Psych. L vereinbart hatte. Es bestand der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen der Leistungsablehnung und der Inanspruchnahme der außervertraglichen Therapie. Die Therapie begann erst am 28. März 2017 und damit zu einem Zeitpunkt, als die Beklagte den Antrag bereits abgelehnt hatte. Die Beklagte ihrerseits war aufgrund des Antrags der Klägerin mit der Frage der Leistungsgewährung befasst und hatte noch vor der tatsächlichen Aufnahme der Behandlung im März 2017 – abschlägig – entschieden.

 

Ein längeres Zuwarten auf ein Angebot der vertraglichen Psychotherapie war der Klägerin zum Zeitpunkt der Aufnahme der Therapie mehr als sechs Wochen nach der Antragstellung wegen der Dringlichkeit der Behandlung und unter Berücksichtigung dessen, dass sie ihre Arbeitsfähigkeit erhalten wollte, nicht mehr zumutbar. Gegen eine längere Wartezeit spricht auch, dass sie die Psychotherapie erst zu einem Zeitpunkt in Anspruch genommen hat, als seitens der Beklagten keine weitere Unterstützung bei der Suche nach einer Vertragstherapeutin/einem Vertragstherapeuten in Aussicht war. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die Beklagte der Klägerin nach deren Hinweis auf die ihres Erachtens unzumutbaren Fahrtstrecken zu dem Therapeuten Vund der Therapeutin  A im Weiteren mit Schreiben vom 11. April 2017 lediglich die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer psychotherapeutischen Sprechstunde über die Terminservicestelle aufzeigte. Aufgabe der Terminservicestelle nach § 75 Abs. 1a SGB V ist es, gesetzlich Versicherte innerhalb einer Woche einen Termin bei einem zugelassenen Vertragsarzt des gesuchten fachärztlichen Gebiets, einem Medizinischen Versorgungszentrum oder einem ermächtigten Arzt bzw. einer ermächtigten Einrichtung zu vermitteln (§ 75 Abs. 1a S. 3 SGB V), was seit Inkrafttreten der Änderungen der Psychotherapie-Richtlinie des GBA nach § 92 Abs. 6a Satz 3 SGB V in der bis zum 10. Mai 2019 geltenden Fassung gemäß § 75 Abs. 1a S. 12, 13 SGB V in der bis zum 10. Mai 2019 geltenden Fassung zum 1. April 2017 auch für den Termin für ein Erstgespräch in einer psychotherapeutischen Sprechstunde oder für eine Akutbehandlung gilt. Die Einrichtung einer psychotherapeutischen Sprechstunde gemäß  § 11 Abs. 1 S. 1 Psychotherapie-Richtlinie bestimmt einen Anspruch auf eine solche Sprechstunde als zeitnahen niedrigschwelligen Zugang zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Die Sprechstunde dient der Abklärung, ob der Verdacht auf eine krankheitswertige Störung vorliegt und weitere fachspezifische Hilfen im System der gesetzlichen Krankenversicherung notwendig sind. Vor einer Behandlung nach §§ 12, 13, 14 Psychotherapie-Richtlinie, also u.a. vor probatorischen Sitzungen, haben Patientinnen und Patienten eine psychotherapeutische Sprechstunde in Anspruch zu nehmen. Aufgrund des Beschlusses des GBA vom 16. Juni 2016 in der Fassung des Änderungsbeschlusses vom 24. November 2016 zur Änderung der Psychotherapie-Richtlinie war die Wahrnehmung einer psychotherapeutischen Sprechstunde als Voraussetzung einer Behandlung nach §§ 12, 13, 14 Psychotherapie-Richtlinie nach § 11 Abs. 1 S. 4 Psychotherapie-Richtlinie jedoch bis zum 31. März 2018 ausgesetzt (vgl. hierzu SG Berlin, Urteil vom 9. April 2018 - S 81 KR 1002/17 – juris Rn. 36; SG Leipzig, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - S 8 KR 1773/19 ER – juris Rn. 38). Ungeachtet dessen, ob sich die Klägerin, deren Anspruch auf eine psychotherapeutische Behandlung nicht zweifelhaft war, unter diesen Voraussetzungen überhaupt an eine Terminservicestelle wenden musste, ist sie der Aufforderung der Beklagten nachgekommen und hat sich dort unwidersprochen ohne Erfolg gemeldet. Auch dieser Umstand spricht gegen eine fehlende Mitwirkung der Klägerin.

 

Der Umfang des Anspruchs nach § 13 Abs. 3 SGB V bestimmt sich nach dessen Rechtsfolge. Dementsprechend sind die für eine selbst beschaffte, notwendig gewesene Leistung entstandenen Kosten zu erstatten. Eine Begrenzung auf die sog. „Kassensätze“ scheidet aus (BSG, Urteil vom 24. Mai 2007 - B 1 KR 18/06 R - juris Rn. 36 m.w.N.). Dem Leistungsberechtigten sind nur durch die Selbstbeschaffung entstandene Kosten zu erstatten. Er muss also entweder tatsächlich mit Kosten belastet oder zumindest einer wirksamen Honorarforderung des Leistungserbringers ausgesetzt sein. Erstattungsfähig können nur Kosten sein, denen ein rechtswirksamer Vergütungsanspruch zu Grunde liegt (BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 - B 1 KR 33/17 R - juris Rn. 45; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. April 2021 - L 9 KR 312/20 - juris Rn. 36). Danach scheitert der Kostenerstattungsanspruch auch nicht daran, dass die Klägerin keiner wirksamen Forderung aus dem Behandlungsvertrag (§ 630a Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) mit Dipl.-Psych. L ausgesetzt war. Diese hat ihre Rechnungen ordnungsgemäß nach der Gebührenordnung für Psychotherapeutinnen und –therapeuten (GOP) erstellt und die im Einzelnen erbrachten Leistungen den vorgesehenen Gebührenziffern zugeordnet. Die Klägerin hat die Rechnungen auch beglichen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

 

Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Zulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 SGG nicht besteht.

 

Rechtskraft
Aus
Saved