L 37 SF 266/19 EK AS

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungsklage bei überlanger Verfahrensdauer
Abteilung
37
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 37 SF 266/19 EK AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 ÜG 5/22 BH
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Ver-fahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vor-lag, fallen zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts und sind somit dem Staat zuzurechnen. 2. Das Verhalten der Beteiligten, das ggf. darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, ent-bindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfah-ren sicherzustellen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.08.2013 – 1 BvR 2965/10 – juris Rn. 25; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 – 20027/02 – juris Rn. 78). 3. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßi-ge Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Weg-fall folgenden Monat. 4. Der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfah-rens beigetragen haben, weil sie – obwohl ihnen der Wegfall des Ruhens-grundes bekannt war – das Gericht hierüber nicht informiert haben, kann bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetre-tenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG in Betracht kommt. 5. Rechtlich begegnet es keinen Bedenken, für bestimmte Phasen der Verzöge-rung des Ausgangsverfahrens eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG als ausreichend zu betrachten, während für andere Phasen desselben Ausgangsverfahrens ein Anspruch auf eine Entschädigung in Geld zuerkannt wird (vgl. BFH, Urteil vom 04.06.2014 – X K 12/13 – juris Rn. 37).

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht P zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1946/11 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 24 AS 2030/18 WA geführten Klageverfahrens eine Entschädigung in Höhe von weiteren 200,- € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25.02.2021 zu zahlen. Im Übrigen wird festgestellt, dass das genannte Klageverfahren eine unangemessene Dauer aufgewiesen hat.

 

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

 

Der Beklagte trägt 40 %, der Kläger 60 % der Kosten des Verfahrens.

 

 Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) P zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1946/11 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 24 AS 2030/18 WA geführten Verfahrens.

 

Der Kläger ist Volljurist und bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Zwischen 2009 und 2019 führte er eine Vielzahl von sozialgerichtlichen Verfahren gegen das Jobcenter (JC) Landeshauptstadt Potsdam.

 

In dem Ausgangsverfahren wurde über die Höhe der Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von März bis April 2011 gestritten, u. a. im Hinblick auf die Berücksichtigung von Einnahmen aus Untermietverhältnissen als Einkommen.

 

Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

18.07.2011

Eingang der Klageschrift vom 15.07.2011; Klage gerichtet auf Aufhebung des Bescheids des JC vom 26.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.07.2011 und des Bescheids vom 26.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.07.2011 sowie Verurteilung des JC zur „Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts“

04.08.2011

  • Registrierung der Klage unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1946/11
  • Eingangsbestätigung
  • Aufforderung an JC zur Klageerwiderung binnen 6 Wochen
  • interne Wiedervorlage (WV): 8 Wochen

01.09.2011

Abgabe des Verfahrens an die 35. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 06/2011; neues Aktenzeichen: S 35 AS 1946/11

17.10.2011

  • Mitteilung des neuen Aktenzeichens an Beteiligte
  • Aufforderung an Kläger, innerhalb von 4 Wochen die streitgegenständlichen Bescheide nebst Anlagen einzureichen und die Klage zu begründen

27.10.2011

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom 25.10.2011 mit Hinweis, dass sich die streitgegenständlichen Bescheide in den Verwaltungsakten befinden würden

02.11.2011

  • Weiterleitung des Schriftsatzes an JC
  • Erstellung Aktenvermerk, wonach Verwaltungsakte in anderem Klageverfahren angefordert wurde

05.12.2011

  • Erneute Aufforderung an Kläger, die streitgegenständlichen Bescheide nebst Berechnungsbögen zu übersenden mit Erläuterung, weshalb diese unabhängig von der Beiziehung der Verwaltungsakten benötigt würden, Frist 3 Wochen
  • Ladung zum Erörterungstermin (EÖT) auf den 11.01.2012

03.01.2012

Eingang der Klageerwiderung vom 02.01.2012 mit Bezugnahme auf den Inhalt des Vorgangs und die Ausführungen im Widerspruchsbescheid

09.01.2012

Weiterleitung an Kläger per Fax

11.01.2012

EÖT: Auflage an Kläger, innerhalb von 4 Wochen nachzuweisen, wann Gehalt für März und April 2011 auf seinem bzw. dem Konto seiner Mutter eingegangen ist; Auflage an JC, innerhalb von 4 Wochen Überweisungsbelege für die genannten Monate vorzulegen

01.02.2012

Eingang des Schriftsatzes des JC vom 31.01.2012: Übersendung der Auszahlungsübersicht für die Zeit vom 10.12.2010 bis 30.09.2011

06.02.2012

Weiterleitung an Kläger zur Kenntnisnahme

03.02.2012

Eingang der Stellungnahme des Klägers vom selben Tag nebst diverser Anlagen (Kontoauszug Sparkasse für die Zeit von 04/2011 bis 08/2011, Mitteilung der Zentralen Bezügestelle des Landes Brandenburg vom 19.01.2012 über Gehaltsauszahlungen von 04/2011 bis 08/2011 und Kontoauszug Erste Bank für die Zeit von 06/2011 bis 08/2011)

08.02.2012

Weiterleitung an JC zur Stellungnahme innerhalb von 3 Wochen sowie mit der Bitte um Prüfung, ob in Bezug auf den Monat März 2011 ein Teilanerkenntnis abgegeben werden könne

09.02.2012

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom selben Tag (2 Seiten mit 9 Seiten Anlagen)

13.02.2012

Weiterleitung an JC zur Stellungnahme

13.02.2012

Antrag des Klägers, „alle Verfahren die Bewilligung und Höhe der Grundsicherung betreffend“ zu verbinden, insbesondere die folgenden Verfahren:

S 35 AS 2934/11

S 35 AS 1946/11

S 35 AS 3780/10

S 35 AS 2761/10

S 35 AS 1262/09

S 35 AS 276/10

16.02.2012

Weiterleitung an JC zur Kenntnisnahme sowie mit der Bitte um Mitteilung, auf welches Konto des Klägers Auszahlungen erfolgt seien

26.03.2012

Eingang des Schriftsatzes des JC vom 23.03.2012 mit kurzer Stellungnahme zur gerichtlichen Anfrage und zu Schriftsätzen des Klägers

30.03.2012

Weiterleitung an Kläger zur Stellungnahme

10.04.2012

Eingang der Stellungnahme des Klägers vom 04.04.2012

16.04.2012

  • Weiterleitung an JC zur Kenntnisnahme sowie mit der Bitte um Erledigung des gerichtlichen Schreibens vom „08.03.“ (gemeint wohl: 08.02.) 2012
  • Aufforderung an Kläger, innerhalb von 3 Wochen Kontoauszüge für die Zeit vom 01.02 bis 31.03.2011 zu übersenden

10.05.2012

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom selben Tag mit Hinweis auf Vorlagebeschluss des SG Berlin zum Aktenzeichen S 55 AS 9238/12 und Gutachten zur Regelbedarfshöhe sowie mit Vortrag, dass „zum dritten Mal auf die mittlerweile überlange Verfahrensdauer hingewiesen“ werde

11.05.2012

  • Weiterleitung an JC zur Kenntnisnahme
  • WV: „KV“

18.07.2012

Verfristung um 8 Wochen „nach Rückspr. mit KV“

21.12.2012

Verfügung ins Sitzungsfach

22.02.2013

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom selben Tag mit Liste der Ausgaben, die er im Zeitraum von 2010 bis 2012 für die Wohnung hatte, sowie mit weiterem Vortrag (3 Seiten)

25.02.2013

Weiterleitung an JC zur Kenntnisnahme

15.07.2013

Abgabe des Verfahrens an die 41. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 09/2013; neues Aktenzeichen: S 41 AS 1946/11

25.07.2013

Mitteilung des neuen Aktenzeichens an Beteiligte

05.08.2013

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom 04.08.2013 ohne gerichtliches Aktenzeichen im Betreff („ML ./. JC Landeshauptstadt Potsdam in Sachen 039 04 BG 002 0135“); Vortrag: Die dem Verfahren S 41 AS 450/13 zugeordnete Verzögerungsrüge vom 31.07.2013 beziehe sich auf „alle anhängigen Verfahren, also insbesondere auf die Verfahren mit den Aktenzeichen […] S 41 AS 1946/11 […]“

10.02.2014

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom selben Tag ohne gerichtliches Aktenzeichen im Betreff („M L ./. JC Landeshauptstadt Potsdam in Sachen 039 04 BG 002 0135“); Vortrag: Es werde erneut die lange Verfahrensdauer „in den anhängigen Verfahren“ gerügt. Die Verzögerungsrüge sei „für alle anhängigen Verfahren“ gedacht.

13.02.2014

Ladung zur mündlichen Verhandlung auf den 10.04.2014 mit 5 weiteren Verfahren

10.04.2014

Mündliche Verhandlung

  • Beschluss: Verbindung des Ausgangsverfahrens zum Verfahren mit dem Aktenzeichen S 41 AS 2761/10; Fortführung unter eben diesem Aktenzeichen
  • Die Beteiligten beantragen mit „Blick auf die vom LSG erwarteten Entscheidungen zu der hier u.a. streitgegenständlichen Rechtsfrage der Anrechenbarkeit von Einkommen aus den Untermietverträgen übereinstimmend das Ruhen des Verfahrens“
  • Dem JC wird aufgegeben, sämtliche Bescheide betreffend den Zeitraum 03.08.2010 bis einschließlich Januar 2012 zu übersenden

10.04.2014

Beschluss: Anordnung des Ruhens des Verfahrens, da „anzunehmen ist, dass diese Anordnung aus wichtigem Grund (hier: Abwarten der Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg zur Frage der u. a. maßgeblichen Anrechnung von Einkommen aus dem Untermietvertrag) zweckmäßig ist.“

06.11.2018

Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens durch das JC vom 05.11.2018

11.12.2018

  • Vergabe eines neuen Aktenzeichens (S 27 AS 2030/18 WA)
  • Hinweis auf Fortführung des Verfahrens und Mitteilung des neuen Aktenzeichens an Beteiligte
  • Bitte an JC um Aktenübersendung binnen 4 Wochen
  • Bitte an Kläger um Stellungnahme zum Fortgang des Verfahrens binnen 4 Wochen
  • interne WV: 8 Wochen

17.12.2018

Rücklauf des an den Kläger gerichteten Schreibens

17.12.2018

Eingang der Mitteilung des JC vom 14.12.2018, dass alle Akten bei der 24. Kammer seien

18.12.2018

nochmalige Übersendung des gerichtlichen Schreibens an den Kläger unter der neuen – seit Oktober 2014 gültigen – Adresse nach Einholung einer Einwohnermeldeauskunft

08.01.2019

Übernahme des Verfahrens durch 24. Kammer; neues Aktenzeichen: S 24 AS 2030/18 WA

05.02.2019

  • gerichtliche Anfrage an Kläger, ob das Verfahren weiterverfolgt werden solle: „Was war das Ergebnis beim LSG?“; Frist 10 Tage
  • interne WV: 2 Wochen

08.02.2019

Eingang der Verzögerungsrüge des Klägers vom selben Tag

08.05.2019

Durchführung einer mündlichen Verhandlung in anderen Sachen des Klägers bei der 24. Kammer, in deren Rahmen auch das Ausgangsverfahren erörtert wurde: Der Kläger wird gebeten, sich binnen 2 Wochen zu äußern, ob das Verfahren fortgeführt werden soll

18.05.2019

Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom selben Tag: Verweis auf eine CD-ROM mit dem gesamten E-Mail-Verkehr zwischen ihm und dem JC

19.05.2019

Eingang eines weiteren Schriftsatzes des Klägers vom Vortag: Er habe keine Unterlagen aus anderen Verfahren gefunden; Fortführung der Rechtsstreits unter Vortrag zum Einkommen aus Untervermietung

21.05.2019

Weiterleitung an das JC zur Kenntnisnahme mit Bitte um Mitteilung binnen 10 Tagen, zu welchen Aktenzeichen die vormalige Kammervorsitzende bereits zu den maßgeblichen Fragen entschieden habe

04.06.2019

Ladung zur mündlichen Verhandlung auf den 13.08.2019

13.08.2019

Durchführung der mündlichen Verhandlung: Beendigung durch Vergleich

 

Der Beklagte zahlte dem Kläger wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens eine Entschädigung in Höhe von 500,- €. Mit Schreiben vom 30.10.2019 führte er aus, dass gerichtliche Inaktivität von Juli 2012 bis Januar 2013 sowie von April 2013 bis Januar 2014, insgesamt also 17 Kalendermonate, vorgelegen habe. Abzüglich einer den Gerichten regelmäßig je Instanz zustehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit im Umfang von 12 Monaten sei von 5 Monaten entschädigungsrelevanter Verzögerung auszugehen.

 

Am 09.11.2019 hat der Kläger beim LSG Berlin-Brandenburg Prozesskostenhilfe in Vorbereitung einer Entschädigungsklage wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens beantragt. Der Senat hat dem Kläger unter Berücksichtigung der ihm bereits gezahlten Entschädigung Prozesskostenhilfe hinsichtlich eines Entschädigungsanspruchs in Höhe von weiteren 2.400,- € bewilligt (Beschluss vom 01.02.2021, dem Kläger zugestellt am 11.02.2021).

 

Am 13.02.2021 hat der Kläger die Entschädigungsklage beim LSG „in dem von der Prozesskostenhilfebewilligung abgedeckten Umfang“ eingereicht. Die Klage ist dem Beklagten am 24.02.2021 zugestellt worden.

 

Der Kläger meint, die Zeit des Ruhens des Ausgangsverfahrens sei als entschädigungspflichtige Verzögerung zu werten. Zur Begründung dieser Auffassung trägt er vor:  

 

Der Ruhensbeschluss des SG vom 10.04.2014 sei rechtswidrig gewesen. Das Ausgangsverfahren sei zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses dem Grunde nach entscheidungsreif gewesen. Das SG sei nicht gezwungen gewesen, die Entscheidung des LSG abzuwarten. In den seinerzeit beim LSG anhängigen Verfahren (Aktenzeichen u. a. L 18 AS 724/13) seien andere Bewilligungszeiträume streitig gewesen, sodass die dort noch ausstehenden Entscheidungen keine unmittelbare Wirkung für die vom SG zu treffende Entscheidung gehabt hätten. Das SG hätte die Entscheidung des LSG auch nicht abwarten dürfen. In Deutschland seien Richter an die Rechtsprechung der Gerichte höherer Instanzen nicht gebunden, weshalb das SG selbst im Falle einer Entscheidung des LSG nicht umhingekommen wäre, über den Ausgangsrechtsstreit einzig und allein nach seiner eigenen Auffassung zu entscheiden. Einen Grund, weshalb es am 10.04.2014 nicht habe entscheiden können und weshalb das Verfahren ruhen solle, habe das SG nicht genannt. Außerdem fehle dem Beschluss die vom Gesetz geforderte Abwägung. Bevor das Gericht das Ruhen des Verfahrens anordne, müsse es nach § 251 Zivilprozessordnung (ZPO) prüfen, ob ein „wichtiger“ Grund vorliege und ob die Anordnung „zweckmäßig“ sei. Hierbei komme dem Ausgangsgericht zwar ein – vom Entschädigungsgericht zu respektierender – Beurteilungs- bzw. Ermessensspielraum zu; im vorliegenden Fall sei dem Ruhensbeschluss jedoch nicht zu entnehmen, dass das SG die Tatbestandsmerkmale des § 251 ZPO überhaupt geprüft habe, weshalb von einem Beurteilungs- / Ermessensfehler auszugehen sei, der dazu führe, dass die Phase des Ruhens des Ausgangsverfahrens eine entschädigungspflichtige Verzögerung darstelle. Auch wenn das Ruhen des Ausgangsverfahrens dem Sitzungsprotokoll zufolge von den Beteiligten übereinstimmend beantragt worden sei, so sei dieser Antrag nicht wirklich freiwillig gewesen. Der Ruhensantrag sei vielmehr auf „Anregung“ des SG gestellt worden, da dieses deutlich gemacht habe, dass es ohnehin die Entscheidung des LSG abwarten würde. Unabhängig hiervon habe das SG seine prozessuale Fürsorgepflicht verletzt, weil es das Ruhen des Verfahrens angeordnet habe, ohne das tatsächliche Begehren der Beteiligten zu ermitteln. Auch wenn er (der Kläger) schon seinerzeit über eine juristische Ausbildung verfügt habe, sei dem SG bekannt gewesen, dass er über keine einschlägige Berufs- und keine Prozesserfahrung verfügt habe. Deshalb habe das SG nicht erwarten können, dass er in der mündlichen Verhandlung spontan den Unterschied zwischen einer Aussetzung und einem Ruhen des Verfahrens kenne und überblicken könne, was es bedeute, wenn das Ruhen des Verfahrens angeordnet werde, und ob dies tatsächlich notwendig sei. Hätte das SG das den Ruhensanträgen zugrunde liegende Begehren ermittelt, so hätte es erfahren, dass jedenfalls er davon ausgegangen sei, dass das LSG in angemessener Zeit entscheiden würde. Insofern sei zu beachten, dass er zwar dem Ruhen des Verfahrens zugestimmt habe, nicht aber einem „ewigen Ruhen“.

Selbst wenn man von der anfänglichen Rechtmäßigkeit des Ruhensbeschlusses ausgehen wollte, habe das SG jedenfalls dadurch rechtswidrig gehandelt, dass es kein einziges Mal geprüft habe, ob das Verfahren fortzusetzen sei. Insbesondere habe es niemals geprüft, ob es in Anbetracht der Verzögerungen noch „wichtig“ und „zweckmäßig“ sein könne, das Verfahren mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz weiter ruhen zu lassen. Je länger das Verfahren ruhe, desto wahrscheinlicher werde es, dass die Beteiligten nicht mehr an das Verfahren dächten und sich ihr ursprünglich erklärtes Einverständnis überholt habe. Je länger das Verfahren insgesamt dauere, desto mehr verdichte sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen. Bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung, ob das Verfahren weiter ruhen solle, komme dem Ausgangsgericht zwar wiederum ein Beurteilungs- bzw. Ermessenspielraum zu. Wenn es – wie hier – eine solche Prüfung aber gar nicht vornehme, liege ein Beurteilungs- und

Ermessensausfall vor, der dazu führe, dass die Ruhensphase entschädigt werden müsse.

Spätestens im Februar 2017 hätte das SG das Verfahren fortsetzen müssen. Zu diesem Zeitpunkt habe der Ruhensbeschluss seine Wirkung verloren, da alle beim LSG anhängigen Verfahren von ihm im Januar 2017 abgeschlossen worden seien.

Schließlich sei zu beachten, dass die beim LSG anhängigen Verfahren ihrerseits spätestens ab Januar 2015 verzögert gewesen seien, wodurch es zu einer entschädigungspflichtigen Verzögerung auch im Ausgangsverfahren gekommen sei. Zwar habe er für die unangemessene Dauer des zuletzt beim LSG geführten Rechtsstreits bereits eine Entschädigung erhalten, diese sei aber für die Überlänge eben dieses Verfahrens gezahlt worden und nicht für Verzögerungen im – eigenständig zu entschädigenden – streitgegenständlichen Ausgangsverfahren.

 

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht P zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1946/11 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 24 AS 2030/18 WA geführten Klageverfahrens eine Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gelegt wird, die aber nicht weniger als 2.399,- € betragen soll, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.

 

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Er ist der Auffassung, dass dem Kläger über die bereits gezahlte Entschädigung hinaus kein weitergehender Anspruch zustehe. Die Zeit des förmlichen Ruhens des Ausgangsverfahrens sei keine Zeit einer entschädigungspflichtigen gerichtlichen Inaktivität. Der Kläger habe bewusst und ausdrücklich das Ruhen des Ausgangsverfahrens beantragt. Als Volljurist, der eine Vielzahl von Gerichtsverfahren führe, sei dem Kläger auch ohne besonderen richterlichen Hinweis bekannt gewesen, dass er das Ruhen des Verfahrens mit einer einfachen Mitteilung gegenüber dem Gericht hätte beenden können. Dies habe er jedoch unterlassen, sodass die Zeit des Ruhens ausschließlich ihm zuzurechnen sei. Ein „Dulde und Liquidiere“ solle nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers durch die Entschädigungsregelungen gerade nicht ermöglicht werden. Bei den am LSG Berlin-Brandenburg geführten Verfahren zu den Aktenzeichen L 18 AS 13/15, L 18 AS 724/13 und L 18 AS 676/13 habe es sich um eigene Verfahren des Klägers gehandelt, sodass dieser im Januar 2017 Kenntnis von den dort ergangenen Entscheidungen gehabt habe und selbst zeitnah die Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens hätte beantragen können.

 

Die Beteiligten haben sich unter dem 06.01.2022 (Beklagter) bzw. dem 08.01.2022 (Kläger) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Akten des Ausgangsverfahrens verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der nach § 201 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) sowie § 202 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), jeweils in der Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV) vom 24.11.2011 (BGBl. I, S. 2302) und des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06.12.2011 (BGBl. I, S. 2554) für die Entscheidung über die Entschädigungsklage zuständige Senat konnte über diese nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i. V. m. §§ 202 Satz 2, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu unter dem 06. bzw. 08.01.2022 ihr Einverständnis erteilt hatten.

 

Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.

 

I. Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Dass der Kläger die Klagefrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht eingehalten hat, kann ihm nicht entgegengehalten werden. Zwar bestimmt § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ausdrücklich, dass die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Ausgangsverfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Ausgangsverfahrens erhoben werden muss. Die Versäumung dieser Frist ist jedoch unbeachtlich, wenn der Kläger – wie hier – noch vor Ablauf der Klagefrist einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt hat und sodann – ebenfalls wie hier – unmittelbar nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe Klage erhebt. Einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedarf es in diesen Fällen nicht (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 10.07.2014 – B 10 ÜG 8/13 R – juris Rn. 12).

 

II. In der Sache hat die Klage nur teilweise Erfolg. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf eine Entschädigung in Geld in Höhe von weiteren 200,- €. Im Übrigen ist eine Wiedergutmachung des erlittenen immateriellen Nachteils auf andere Weise, nämlich durch die Feststellung des Senats, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ausreichend.

 

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge).

 

1. Der Kläger hat die Dauer des Ausgangsverfahrens jedenfalls mit Schriftsatz vom 04.08.2013 ordnungsgemäß gerügt. Der Wirksamkeit der Verzögerungsrüge steht Art. 23 Satz 2 des GRüGV nicht entgegen. Diese Vorschrift bestimmt, dass § 198 Abs. 3 GVG für Verfahren, die bei Inkrafttreten des GRüGV am 03.12.2011 bereits verzögert waren, mit der Maßgabe gilt, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss. Das Ausgangsverfahren, dass durch die im Juli 2011 erfolgte Klageerhebung anhängig geworden war, fällt nicht hierunter, denn es war Anfang Dezember 2011 noch nicht verzögert. Deshalb findet die Übergangsregelung des Art. 23 Satz 2 GRüGV vorliegend keine Anwendung und entfällt das Erfordernis einer unverzüglich erhobenen Verzögerungsrüge.

 

2. Die Dauer des Ausgangsverfahrens war im Umfang von 29 Monaten unangemessen.

 

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

 

a) Den Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss. Das streitgegenständliche Ausgangsverfahren wurde mit Erhebung der Klage am 18.07.2011 eingeleitet und fand seine Erledigung durch den Abschluss eines Vergleichs am 13.08.2019. Es erstreckte sich mithin über rund 8 Jahre.

 

b) Das Verfahren wies eine durchschnittliche Bedeutung sowie eine durchschnittliche Schwierigkeit auf. Zugleich war es überdurchschnittlich komplex.

 

Die Bedeutung des Verfahrens ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten. Entscheidend ist zudem, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition eines Klägers und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 29). Der Kläger begehrte höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Monate März und April 2011. Durch den Zeitablauf drohten ihm keine weitergehenden Nachteile. Es war eines von vielen Verfahren, die er gegen das JC führte. Eine mehr als durchschnittliche Bedeutung kann dem Ausgangsverfahren bei einer solchen Sachlage nicht beigemessen werden.

 

Das Verfahren war durchschnittlich schwierig. Angesichts der Vielzahl der weiteren vom Kläger geführten Rechtsstreitigkeiten und der damit einhergehenden Probleme, insbesondere die einzelnen Verfahren in sinnvollen Zusammenhängen zu verhandeln und zu entscheiden, war die Verfahrensführung jedoch erheblich erschwert und hatte eine überdurchschnittliche Komplexität des Verfahrens zur Folge.

 

c) Über die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausdrücklich genannten Kriterien hinaus hängt die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wesentlich davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Gerichts zur Überlänge des Verfahrens geführt haben. Maßgeblich sind Verzögerungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (ständige Rechtsprechung, siehe z. B. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 34 bzw. Rn. 41, vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 35 und vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 38, jeweils zitiert nach juris).

 

Für die Beurteilung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind aktive und inaktive Zeiten der Bearbeitung gegenüberzustellen, wobei kleinste relevante Zeiteinheit zur Berechnung der Überlänge stets der Monat im Sinne des Kalendermonats ist (BSG, Urteile vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – Rn. 34 und 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris). Dabei sind dem Ausgangsgericht gewisse Vorbereitungs- und Bedenkzeiten, die regelmäßig je Instanz 12 Monate betragen, als angemessen zuzugestehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte als begründet und gerechtfertigt angesehen werden können (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 46). Angemessen bleibt die Gesamtverfahrensdauer in Hauptsacheverfahren regelmäßig zudem dann, wenn sie den genannten Zeitraum überschreitet, aber insoweit auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht oder durch Verhalten des Klägers oder Dritter verursacht wird, die das Gericht nicht zu vertreten hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 27 und 47). Dabei ist zu beachten, dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht auslösen, die mit einem Monat zu Buche schlägt (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R – juris Rn. 57). Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Übersendung eines Schriftsatzes, z. B. eines Gutachtens, einer gutachtlichen Stellungnahme oder auch der Berufungserwiderung an die Beteiligten zur Kenntnis stets die Möglichkeit zur Stellungnahme beinhaltet. Die Entscheidung des Gerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst nicht weitere Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative und ist – mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher Wartezeiten – durch das Entschädigungsgericht nicht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 43).

 

Das Entschädigungsverfahren eröffnet keine weitere Instanz, um das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Bei der Beurteilung der Prozessleitung des Ausgangsgerichts hat das Entschädigungsgericht vielmehr die materiell-rechtlichen Annahmen, die das Ausgangsgericht seiner Verfahrensleitung und -gestaltung zugrunde legt, nicht infrage zu stellen, soweit sie nicht geradezu willkürlich erscheinen. Zudem räumt die Prozessordnung dem Ausgangsgericht ein weites Ermessen bei seiner Entscheidung darüber ein, wie es das Verfahren gestaltet und leitet. Die richtige Ausübung dieses Ermessens ist vom Entschädigungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. des Grundrechts Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – Rn. 36).

 

Mit Blick auf den Ablauf des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens ist festzustellen, dass das Klageverfahren nach Eingang der Klage im Juli 2011 zunächst engmaschig bearbeitet bzw. durch diverse Schriftsätze des Klägers, die jeweils eine mit einem Monat zu Buche schlagende Überlegungs- und Bearbeitungszeit auslösten, unterhalten worden ist; das gilt namentlich für den im Mai 2012 bei Gericht eingegangen Schriftsatz des Klägers vom 10.05.2012, der bewirkt, dass auch der Monat Juni 2012 noch als Aktivitätsmonat anzusehen ist. Zu einer Verzögerung ist es erstmals von Juli 2012 bis Januar 2013 (7 Kalendermonate) gekommen. Am 22.02.2013 ist sodann ein (weiterer) Schriftsatz des Klägers eingegangen, welcher nunmehr eine in den Monat März 2013 hineinragende Überlegungs- und Bearbeitungszeit freisetzte, weshalb die Monate Februar und März 2013 nicht als Monate gerichtlicher Inaktivität anzusehen sind. Anschließend ist von April 2013 bis Januar 2014 (10 Kalendermonate) erneut eine Verzögerung eingetreten. Der in diesen Zeitraum fallende Zuständigkeitswechsel (Übergang des Verfahrens von der 35. auf die 41. Kammer im Juli 2013) ist nicht als aktive Verfahrensförderung einzustufen (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 1/13 R – juris Rn. 31). Anschließend hat das SG dem Verfahren abermals Fortgang gegeben, indem es im Februar 2014 Ladungen versandt und im April 2014 eine mündliche Verhandlung durchgeführt hat. Hierbei ist neben dem Monat, in dem die Ladung erfolgt ist und dem Monat, in dem die Verhandlung stattgefunden hat, auch der dazwischen liegende Monat – März 2014 – als Aktivitätsmonat zu bewerten (vgl. Senatsurteil vom 25.02.2016 – L 37 SF 128/14 EK AL – juris Rn. 52).

 

Mit Beschluss vom 10.04.2014 hat das SG das Ruhen des Ausgangsverfahrens angeordnet, worauf das Verfahren von Mai 2014 bis einschließlich November 2018 nicht bearbeitet wurde, bis es im Dezember 2018 wieder aufgenommen wurde. Diese Verfahrensruhe ist teilweise, nämlich in Bezug auf die Phase von Mai 2014 bis Januar 2017, als sachlich gerechtfertigt anzusehen. Demgegenüber ist die Phase von Februar 2017 bis November 2018 (22 Kalendermonate) als dem Staat zurechenbare Untätigkeit des Gerichts zu werten.

 

Grundsätzlich stellen Zeiten, in denen das Ausgangsverfahren förmlich ruht, keine entschädigungsrelevanten Verzögerungen dar, unabhängig davon, ob der Ruhensantrag auf eine gerichtliche Anregung oder auf die Initiative der Beteiligten zurückgeht (Senatsurteil vom 06.12.2013 – L 37 SF 69/12 EK KA – juris Rn. 76; ebenso LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.05.2013 – L 2 SF 1534/12 EK – juris Rn. 59 sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.09.2018 – L 11 SF 362/17 EK KR – juris Rn. 40). Gemäß § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO ist die Anordnung des Ruhens nur auf Antrag der Beteiligten möglich. Derartige Anträge haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 10.04.2014 gestellt. Durch die notwendigen Anträge der Beteiligten wird klargestellt, dass der Stillstand des Verfahrens – im Gegensatz zum Falle des bloßen „Liegenlassens der Akten“ durch das Gericht – vom Willen der Beteiligten getragen wird.

 

Neben entsprechenden Anträgen der Beteiligten setzt die Anordnung des Ruhens des Verfahrens gemäß § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO allerdings voraus, dass diese Anordnung wegen des Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen zweckmäßig ist. Insofern steht es nicht alleine zur Disposition der Beteiligten, das Verfahren zum Ruhen zu bringen. Vielmehr hat das Gericht die Zweckmäßigkeit der Verfahrensruhe im Hinblick auf den jeweiligen Ruhensgrund zu prüfen. Liegen die Voraussetzungen für eine Ruhensanordnung vor, steht diese nicht im Ermessen des Gerichts. Das Gericht „hat“ das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn es zweckmäßig und übereinstimmend beantragt worden ist, sodass es sich hierbei um eine gebundene Entscheidung handelt (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.03.2011 – OVG 2 L 7.11 – juris Rn. 7). Lediglich die Prüfung der Zweckmäßigkeit eröffnet einen Einschätzungsspielraum (BSG, Beschluss vom 17.12.2015 – B 2 U 132/15 B – juris Rn. 9). Das Gericht kann in Konsequenz das Verfahren jederzeit von Amts wegen fortsetzen; dies geschieht, wenn die Fortdauer des Ruhens nicht mehr zweckmäßig ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Vor § 114 Rn. 4).

 

Aus dem zuvor Gesagten folgt zugleich, dass Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Verfahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vorlag, zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts fallen und somit dem Staat zuzurechnen sind (vgl. zu Verzögerungen infolge von Aussetzungsentscheidungen BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 40 ff.). Das Verhalten der Beteiligten, das ggf. darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, entbindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfahren sicherzustellen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.08.2013 – 1 BvR 2965/10 – juris Rn. 25; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 – 20027/02 – juris Rn. 78). Wohl aber kann der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben, weil sie – obwohl ihnen der Wegfall des Ruhensgrundes bekannt war – das Gericht hierüber nicht informiert haben, bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetretenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG in Betracht kommt (dazu weiter unten).

 

Angesichts des aufgezeigten weiten prozessualen Gestaltungsspielraums des Ausgangsgerichts ist der Zeitraum des Ruhens des Verfahrens, soweit es um die Phase von Mai 2014 bis einschließlich Januar 2017 geht, als sachlich gerechtfertigt anzusehen. Der vom SG beschlossenen Verfahrensruhe lag die Überlegung zugrunde, dass die Ergebnisse der seinerzeit beim LSG Berlin-Brandenburg anhängigen, vom Kläger geführten Parallelverfahren nach deren Abschluss für das streitgegenständliche Ausgangsverfahren fruchtbar gemacht werden können. Gestützt auf diese prozessökonomische Erwägung durfte das SG den Ausgang der anderen Verfahren abwarten. Selbst in Fällen, in denen eine förmliche Ruhensanordnung nicht ergeht, kann ein Zuwarten auf Ergebnisse oder Ermittlungen in einem parallelen Verfahren als Zeit der aktiven Bearbeitung anzusehen sein, wenn zu erwarten ist, dass in einem solchen Verfahren Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für das Ausgangsverfahren relevant sind, oder wenn die Beteiligten diesem Vorgehen ausdrücklich zustimmen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R –, juris Rn. 47; Senatsurteil vom 25.02.2016 – L 37 SF 128/14 EK AL – juris Rn. 44). Erst recht muss dies gelten, wenn das Ausgangsgericht auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO beschließt und damit eine rechtliche Basis dafür schafft, dass es zunächst nicht weiter tätig wird.

 

Der Senat hat nicht zu prüfen, ob der Ruhensbeschluss rechtswidrig war. Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens haben von der seinerzeit bestehenden Möglichkeit, gegen den Beschluss Beschwerde einzulegen oder sofort die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, keinen Gebrauch gemacht. Wie bereits ausgeführt, ist es nicht Aufgabe des Entschädigungsgerichts, das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Dem Beschluss vom 10.04.2014 ist eindeutig zu entnehmen, welcher Grund der Anordnung des Ruhens des Verfahrens zugrunde lag. Allein dies ist maßgebend, weil der Senat hierdurch in die Lage versetzt wird, den Ablauf des Ausgangsverfahrens in entschädigungsrechtlicher Hinsicht zu würdigen.

 

Die Anordnung des Ruhens des Verfahrens war nicht willkürlich. Der Senat teilt insoweit nicht die Befürchtung des Klägers, dass das SG das Ruhen des Verfahrens angeordnet haben könnte, ohne die Tatbestandsmerkmale des § 251 Satz 1 ZPO zu prüfen. Aus dem Ruhensbeschluss vom 10.04.2014 ergibt sich, aus welchem Grund das SG die Zweckmäßigkeit der Verfahrensruhe bejaht hat. Es obliegt auch nicht dem Senat, aufgrund einer eigenen materiell-rechtlichen Prüfung zu bewerten, ob das Ausgangsverfahren bereits im April 2014 entscheidungsreif war.

 

Anders als der Kläger meint, steht der Vertretbarkeit der Ruhensanordnung nicht entgegen, dass in den beim LSG anhängigen Verfahren andere Bewilligungszeiträume als im Ausgangsverfahren im Streit standen. Im Gegenteil wären Zweifel an der Zweckmäßigkeit einer Verfahrensruhe gerade bei identischen Bewilligungszeiträumen angebracht, weil in solchen Fällen regelmäßig eine doppelte Rechtshängigkeit in Betracht zu ziehen ist, weshalb es geboten sein kann, die Klage sogleich als unzulässig abzuweisen.

 

Die Ruhensanordnung bewegte sich auch nicht deshalb außerhalb des prozessualen Gestaltungsspielraums das SG, weil von den in den Parallelverfahren zu erwartenden Entscheidungen keine rechtliche Bindungswirkung für das Ausgangsverfahren ausging. Die Verfahrensruhe nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO setzt Derartiges nicht voraus. Anders als bei der Aussetzung (§ 114 SGG) muss auch keine Vorgreiflichkeit vorliegen.

 

Keine andere Bewertung lässt die Behauptung des Klägers zu, er habe den Antrag auf Ruhen des Verfahrens im April 2014 „nicht wirklich freiwillig“ gestellt. Etwaige Willensmängel wären entschädigungsrechtlich allenfalls dann beachtlich, wenn sie zur Unwirksamkeit bzw. Anfechtbarkeit der in Frage stehenden Prozesshandlung führen würden. Hierfür ist jedoch nichts ersichtlich. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das SG den Ruhensantrag des Klägers falsch ausgelegt oder die prozessuale Fürsorgepflicht verletzt haben könnte. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass der Kläger, der schon damals über eine abgeschlossene juristische Ausbildung verfügte, Bedeutung und Tragweite der von ihm im Ausgangsverfahren gestellten Anträge erfasst hat.

 

Auch unter dem Gesichtspunkt, dass sich mit zunehmender Dauer des Verfahrens die aus dem Justizgewährleistungsanspruch resultierende Pflicht des Ausgangsgerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen, verdichtet (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 37 m. w. N.), war die fortdauernde Verfahrensruhe in Bezug auf die Phase von Mai 2014 bis einschließlich Januar 2017 noch von dem prozessualen Gestaltungsspielraum des Ausgangsgerichts gedeckt. Das streitgegenständliche Ausgangsverfahren wies im Januar 2017 eine Dauer von rund fünfeinhalb Jahren auf. Das SG hatte bereits beachtliche Anstrengungen unternommen, um das Verfahren zum Abschluss zu bringen, u. a. hatte es im Januar 2012 einen Erörterungstermin und im April 2014 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Dass die beim LSG anhängigen Parallelverfahren, deren Ausgang das SG abgewartet hat, ihrerseits eine überlange Dauer aufwiesen, ändert nichts daran, dass das SG die Verfahrensruhe im Ausgangsverfahren anordnen und aufrechterhalten durfte. Das Ausgangsverfahren ist entschädigungsrechtlich eigenständig zu bewerten. Im Übrigen kann gerade die fortgeschrittene Verfahrensdauer eines Parallelverfahrens Grund für die Annahme bieten, dass dieses bald abgeschlossen sein werde.

 

Für die von Februar 2017 bis November 2018 andauernde Ruhensphase ist demgegenüber keine sachliche Rechtfertigung mehr gegeben, weshalb insoweit eine entschädigungsrelevante gerichtliche Untätigkeit festzustellen ist. Nachdem durch Beschluss vom 03.01.2017 das unter dem Aktenzeichen L 18 AS 676/13 NZB vom Kläger geführte Beschwerdeverfahren und durch einen weiteren Beschluss vom 16.01.2017 das unter dem Aktenzeichen L 18 AS 724/13 vom Kläger geführte Berufungsverfahren beendet worden waren, waren beim LSG keine Parallelverfahren mehr anhängig. Mit Erlass dieser Entscheidungen konnte das SG nicht mehr vertretbar von der Zweckmäßigkeit des Ruhens nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 SGG ausgehen. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt nach Auffassung des Senats jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht – wie hier – keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßige Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Wegfall folgenden Monat, hier also im Februar 2017.

 

Nach der Wiederaufnahme des Verfahrens durch das SG im Dezember 2018 ist es im März 2019 (Monat nach der gerichtlichen Anfrage vom 05.02.2019) und April 2019 (Monat vor der Erörterung der Rechtssache im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 08.05.2019), also in 2 Kalendermonaten, zu einer letzten, dem Beklagten zuzurechnenden Verzögerung gekommen.

 

Mithin ist es im Ausgangsverfahren zu Zeiten einer gerichtlichen Inaktivität im Umfang von insgesamt 41 Kalendermonaten gekommen.

 

d) Dies bedeutet indes nicht, dass von einer Unangemessenheit der Verfahrensdauer im Umfang von 41 Kalendermonaten auszugehen ist. Denn erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ergibt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 33). Dabei ist zu beachten, dass den Gerichten – über die Phasen der aktiven Verfahrensförderung hinaus – Vorbereitungs- und Bedenkzeiten von in der Regel 12 Monaten je Instanz als angemessen zuzugestehen sind, falls sich nicht aus dem Vortrag eines Klägers oder aus den Akten besondere Umstände ergeben, die vor allem mit Blick auf die Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG im Einzelfall zu einer anderen Bewertung führen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 48).

 

Im vorliegenden Fall besteht zur Überzeugung des Senats kein Anlass, von der im Regelfall anzusetzenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten abzuweichen, sodass von einer grundsätzlich entschädigungspflichtigen Verzögerung von 29 Kalendermonaten auszugehen ist.

 

3. Der Kläger hat durch die unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens auch einen Nachteil erlitten. Dies folgt bereits aus § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Umstände, die diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen geeignet wären, sind hier nicht erkennbar und auch von dem Beklagten nicht vorgebracht worden.

 

4. Obgleich die Dauer des Ausgangsverfahrens nach dem oben Gesagten im Umfang von 29 Monaten unangemessen war, steht dem Kläger ein Anspruch auf eine Geldentschädigung nur für einen Zeitraum von 7 Monaten zu (dazu sogleich unter 5.). Für die verbliebene Zeit von 22 Monaten ist nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falls zur Überzeugung des Senats demgegenüber eine Wiedergutmachung des erlittenen immateriellen Nachteils auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG ausreichend, und zwar durch die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war.

 

Rechtlich begegnet es keinen Bedenken, für bestimmte Phasen der Verzögerung des Ausgangsverfahrens (hier: die auf die Zeit des Ruhens des Verfahrens fallende Verzögerung im Umfang von 22 Monaten) eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG als ausreichend zu betrachten, während für andere Phasen desselben Ausgangsverfahrens ein Anspruch auf eine Entschädigung in Geld zuerkannt wird (vgl. BFH, Urteil vom 04.06.2014 – X K 12/13 – juris Rn. 37).

 

Ob die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ausreichend im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. In diese ist regelmäßig einzustellen, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Bedeutung hatte, ob dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat oder ob die Überlänge den einzigen Nachteil darstellt (BT-Drucks. 17/3802 S. 20; BSG, Urteile vom 12.12.2019 – B 10 ÜG 3/19 R –, juris Rn. 40, vom 05.05.2015 – B 10 ÜG 8/14 R –, juris Rn. 30 und vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris Rn. 36). Darüber hinaus kann es darauf ankommen, wie lange das Verfahren sich verzögert hat, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich entfallen war (BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 – 5 C 23/12 D – juris Rn. 57). Bedeutung erlangen können auch durch die überlange Verfahrensdauer erlangte Vorteile, die das Gewicht der erlittenen Nachteile aufwiegen (BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 – 2 WA 1/17 D – juris Rn. 36).

 

Die Umstände des Einzelfalls sind vorliegend dadurch geprägt, dass das Ausgangsverfahren weder eine besondere Bedeutung hatte noch eine besondere Dringlichkeit aufwies und darüber hinaus für den Kläger selbst eine zügige Verfahrenserledigung lange Zeit nicht im Vordergrund stand. Obwohl der Kläger wusste, dass der Grund, der im April 2014 zur Anordnung des Ruhens des Verfahrens geführt hatte, im Januar 2017 weggefallen war, informierte er das SG hierüber nicht. Dies führte dazu, dass das Verfahren erst rund zwei Jahre später, nämlich im Dezember 2018, fortgesetzt wurde, nachdem ein entsprechender Wiederaufnahmeantrag von der Gegenseite endlich gestellt worden war. Durch sein Verhalten, konkret durch sein „Stillhalten“ nach Wegfall des Ruhensgrundes, hat der Kläger ganz erheblich zur Verzögerung des Ausgangsverfahrens beigetragen. Hierdurch ist es ihm „gelungen“, weitere Monate gerichtlicher Untätigkeit zu „sammeln“. Würde man bei einem auf diese Weise in die Länge gezogenen Verfahren einen Anspruch auf eine Geldentschädigung zuerkennen, liefe dies auf die Möglichkeit eines „Dulde und Liquidiere“ hinaus, die nach dem Willen des Gesetzgebers aber gerade ausgeschlossen werden sollte (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 20). Aufgrund einer Abwägung all dieser Umstände erscheint dem Senat die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, anstelle einer Geldentschädigung ausreichend.

 

5. Für die verbleibende Überlänge von 7 Monaten, für die nach dem zuvor Gesagten ein Anspruch auf eine Entschädigung in Geld besteht, beläuft sich der Anspruch des Klägers auf einen Betrag von 700,- €. Der Senat legt hierbei den in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG geregelten Richtwert zugrunde, wonach die Entschädigung 1.200,- € für jedes Jahr der Verzögerung beträgt. Gründe, die den Ansatz des gesetzlich vorgesehenen Pauschalbetrags unbillig und daher eine abweichende Festsetzung notwendig erscheinen lassen könnten (vgl. § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG), sind nicht ersichtlich und von den Beteiligten auch nicht vorgetragen. Zu beachten ist allerdings, dass der Beklagte auf den Anspruch des Klägers vorprozessual bereits eine Zahlung in Höhe von 500,- € geleistet hat, sodass der Anspruch insoweit durch Erfüllung erloschen ist (vgl. § 362 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB). Zu zahlen sind daher noch weitere 200,- €.

 

6. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Prozesszinsen ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 288 Abs. 1, 291 Satz 1 BGB. Diese Vorschriften sind im Rahmen von Entschädigungsklagen (auch) in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten anwendbar, weil Spezialregelungen, die den allgemeinen Anspruch auf Prozesszinsen verdrängen könnten, nicht bestehen (BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 9/13 R – Rn. 52, – B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 61, – B 10 ÜG 2/14 R – Rn. 54, jeweils zitiert nach juris). Die Zinsen sind ab Rechtshängigkeit, d. h. nach § 94 Satz 2 SGG ab Zustellung der Klage zu zahlen. Die Zinspflicht beginnt mit dem Folgetag der Rechtshängigkeit (Grüneberg, in: Palandt, BGB, § 291 Rn. 6 unter Hinweis auf § 187 Abs. 1 BGB), hier also am 25.02.2021.  

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 6, 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 201 Abs. 4 GVG. Soweit dem Kläger kein Anspruch auf Entschädigung in Geld zusteht, aber die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festzustellen ist, entspricht es nach Auffassung des Senats billigem Ermessen im Sinne von § 201 Abs. 4 GVG, den Beklagten mit einem Kostenanteil von einem Drittel und den Kläger mit einem solchen von zwei Dritteln zu belasten. Daneben ist zu berücksichtigen, dass dem Kläger die geltend gemachte Geldentschädigung teilweise, nämlich in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang, zusteht. 

 

IV. Die Revision war nicht zuzulassen, weil keine Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG (i. V. m. § 202 Satz 2 SGG und § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG) vorliegen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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