L 14 AS 530/21 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 55 AS 1027/21
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 530/21 B PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Würde Prozesskostenhilfe im Fall der Erledigung der Hauptsa-che trotz Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags und trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt, stünden Unbemittelte stets vor dem Risiko, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen (Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 16. April 2019 – 1 BvR 2111/17). 2. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist die Bewilligungsreife für ei-nen Antrag auf Prozesskostenhilfe daher nicht regelmäßig von einer Stellungnahme der Gegenseite (bzw. der Gelegenheit hierzu) abhän-gig.

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. April 2021 aufgehoben.

 

Dem Kläger wird ab Antragstellung Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren S 55 AS 1027/21 vor dem Sozialgericht Berlin bewilligt und sein Prozessbevollmächtigter beigeordnet.

Raten oder Beträge aus dem Vermögen sind nicht zu zahlen.

 

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

 

 

Die am 28. April 2021 eingelegte Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. April 2021, mit dem dieses seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt hat, ist zulässig und begründet.

 

A. Der Beklagte bewilligte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit von Februar 2020 bis Januar 2021 i.H.v. 930.- € monatlich (Bescheid vom 7. Februar 2020). In der Annahme, der Kläger beziehe Einkünfte aus Untervermietung, stellte der Beklagte die Zahlungen an ihn vorläufig ein. Zugleich wies er darauf hin, dass die vorläufig eingestellten laufenden Leistungen unverzüglich nachgezahlt würden, soweit der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergebe, zwei Monate nach der vorläufigen Einstellung der Zahlung nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werde (Schreiben vom 2. Juli 2020). Nachdem der Vermieter des Klägers Räumungsklage erhoben hatte, machte der Kläger am 12. Februar 2021 klageweise (S 55 AS 1027/21) und im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes (S 55 AS 999/21) die Zahlung der Leistungen für August 2020 bis Januar 2021, insgesamt 5.580.- €, gegenüber dem Beklagten geltend und gab an, keine Einkünfte aus Untervermietung erzielt zu haben. Gleichzeitig beantragte für beide Verfahren PKH.

 

Das Sozialgericht bat den Beklagten um Stellungnahme binnen einer Woche (im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes) bzw. binnen eines Monats (im Klageverfahren). Daraufhin teilte der Beklagte dem Kläger mit, die Leistungen für den Zeitraum August 2020 bis Januar 2021 (sowie eine Erhöhung des Regelbedarfs um 14.- € für Januar 2021) würden angewiesen. Das diesbezügliche Schreiben vom 17. Februar 2021 übersandte der Beklagte am Folgetag dem Sozialgericht und gab ein Kostengrundanerkenntnis (Schriftsatz vom 25. Februar 2021), jeweils im Verfahren S 55 AS 999/21 ER, ab. Diesen Rechtsstreit erklärte der Kläger in der Hauptsache für erledigt (Schriftsatz vom 23. Februar 2021), nahm das Kostengrundanerkenntnis des Beklagten an und den PKH-Antrag zurück (Schriftsatz vom 1. März 2021).

 

Im Klageverfahren nahm der Kläger „das Anerkenntnis des Beklagten“ an, erklärte das Verfahren in der Hauptsache für erledigt, beantragte, dem Beklagten „die Kosten des Verfahrens durch Beschluss aufzuerlegen“ und erinnerte an seinen PKH-Antrag (Schriftsatz vom 23. Februar 2021). Bereits zuvor hatte der Beklagte die Übernahme der außergerichtlichen Kosten des Klägers abgelehnt.

 

Das Sozialgericht hat die Bewilligung von PKH für das Klageverfahren abgelehnt, weil Entscheidungsreife frühestens mit der Erklärung des Beklagten vom 18. Februar 2021 eingetreten, das Rechtsschutzbedürfnis und somit auch die Erfolgsaussicht für die Klage jedoch unmittelbar mit dem Anerkenntnis des Beklagten entfallen sei.

 

I. Für die Bewilligung von PKH im sozialgerichtlichen Verfahren gelten nach § 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die PKH (mit Ausnahme von § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO) entsprechend. Gemäß § 114 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Bei der Prüfung der Erfolgsaussicht ist zu berücksichtigen, dass die Anwendung des § 114 ZPO dem aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz abzuleitenden verfassungsrechtlichen Gebot entsprechen soll, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen. Daher dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden; hinreichende Erfolgsaussicht ist z.B. zu bejahen, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der die PKH begehrenden Partei ausgehen wird (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 29. September 2004 - 1 BvR 1281/04 -, vom 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 - und vom 12. Januar 1993 - 2 BvR 1584/92 -; alle juris).

 

II. Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschluss vom 08. Mai 2020 - L 14 AS 530/20 B PKH -, juris) setzt ein bewilligungsreifer PKH-Antrag – neben der (hier ordnungsgemäß abgegebenen, mit Belegen versehenen) Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§ 117 Abs. 2 ZPO) – u.a. die Darstellung des Streitverhältnisses unter Angabe der Beweismittel voraus (§ 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Der Rechtschutzsuchende muss wenigstens im Kern deutlich machen, auf welche rechtliche Beanstandung er seine Klage stützt, weil nur so das Gericht die Erfolgsaussichten prüfen kann (BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 - 1 BvR 362/10 -, juris, m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die klägerische Begründung seines PKH-Antrags.  

 

Die hiervon abweichende Ansicht des Sozialgerichts (ebenso Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - LSG -, Beschluss vom 26. September 2017 - L 6 AS 197/17 B PKH -, juris) teilt der Senat nicht. Sie berücksichtigt nicht hinreichend, dass die Vorschriften der ZPO über die PKH gem. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG nur entsprechend gelten. Die Auffassung, vor einer schlüssigen Begründung des PKH-Antrags sowie einer Stellungnahme der Gegenseite (oder zumindest der Gelegenheit hierzu) könne das Gericht die Erfolgsaussichten nicht prüfen, mag für das Zivilprozessrecht zutreffen, weil dem Zivilgericht typischerweise außer den Schriftsätzen der Parteien keine weiteren Informationsquellen zur Beurteilung der Erfolgsaussicht zur Verfügung stehen. Die typische (und bei weitem häufigste) Konstellation im sozialgerichtlichen Verfahren ist demgegenüber durch ein zunächst durchzuführendes Verwaltungsverfahren (vgl. zur Erforderlichkeit eines Vorverfahrens §§ 78 ff SGG) und die gerichtliche Anforderung der hierfür angelegten Verwaltungsakte (§ 104 Satz 5 SGG) in einem sehr frühen Verfahrensstadium geprägt. Den zur Beurteilung der Erfolgsaussicht relevanten Sachverhalt können – und ggf. müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 08. Mai 2020 - L 14 AS 530/20 B PKH -, juris) – die Sozialgerichte somit auch der Verwaltungsakte entnehmen, ohne auf eine Stellungnahme des beklagten Sozialleistungsträgers angewiesen zu sein.

 

III. Zu Unrecht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, zu dem von ihm angenommenen Zeitpunkt der Entscheidungsreife habe keine Erfolgsaussicht mehr bestanden.

 

1. Erledigt sich das Verfahren, bevor über den Prozesskostenhilfeantrag entschieden wurde, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht der Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs. Durch die Gewährung von Prozesskostenhilfe soll die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend angeglichen werden. Dem liefe es zuwider, wenn im Fall eines bewilligungsreifen Prozesskostenhilfeantrags bei der Prüfung der Erfolgsaussichten des Verfahrens eine Erledigung ohne Weiteres zulasten der Antragsteller berücksichtigt würde. Kostenerstattungsansprüche vermögen dieses Risiko nicht hinreichend zuverlässig auszuschließen. Dieses Kostenrisiko erschwerte Unbemittelten im Vergleich zu Bemittelten den Zugang zum Rechtsschutz und verstieße gegen die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutzgleichheit (BVerfG, Beschluss vom 16. April 2019 – 1 BvR 2111/17 –, Rn. 25, juris, m.w.N.).

 

2. Dementsprechend steht es der Bewilligung von PKH trotz erledigter Hauptsache nicht entgegen, wenn um PKH nachsuchende Beteiligte alles ihnen Zumutbare getan haben und das Gericht über den PKH-Antrag nicht rechtzeitig entschieden hat (Meyer-Lade­wig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13.A., § 73a, Rn. 11a, m.w.N.). Das (o.g.) Risiko Unbemittelter, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen, kann sich aber nicht nur bei Säumnis des Gerichts verwirklichen, sondern ebenso, wenn der Prozessgegner die ihm nach § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO ermöglichte Stellungnahme (ggf. sogar mutwillig) hinauszögert. Aus diesem Grund und weil die Vorschriften der ZPO gem. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin nur „entsprechend“ gelten, steht der Entscheidungsreife eine ggf. noch ausstehende Äußerung der Gegenseite oder eine noch nicht verstrichene Äußerungsfrist nicht zwangsläufig entgegen.

 

Das o.g. Risiko würde sich darüber hinaus stets und im Widerspruch zur verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzgleichheit verwirklichen, sähe man – wie das Sozialgericht – mit dem Nachgeben der Gegenseite (z.B. in Gestalt eines Anerkenntnisses) das Rechtsschutzbedürfnis und zugleich die Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs als entfallen an.

 

3. Der Erfolgsaussicht der Klage lässt sich auch nicht entgegenhalten, neben dem Antrag im Eilrechtsschutz hätte es in der vorliegenden Konstellation der bewilligten, aber nicht ausgezahlten Leistungen eines zusätzlichen Klageverfahrens nicht bedurft (so wohl Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 5. Mai 2014 – L 6 AS 269/13 B PKH –, juris, unter Berufung auf eine offensichtlich unveröffentlichte Entscheidung desselben Senats). Aus Sicht des Senats können Leistungsempfänger im Falle einer – wie hier – bestandskräftigen Bewilligung von Leistungen nicht auf eine nur vorläufige Befriedigung verwiesen werden. Denn sie liefen andernfalls Gefahr, dass der Sozialleistungsträger ihnen die im Eilrechtsschutz geltend gemachten, aber bereits bewilligten Leistungen – entsprechend dessen Charakters – nur vorläufig gewährt, obwohl ihnen aufgrund der bestandskräftigen Leistungsbewilligung ein dauerhafter Behaltensgrund zur Seite steht.

 

IV. Der Kläger war nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung ganz, nur zum Teil oder nur in Raten aufzubringen.

 

V. Das Sozialgericht wird noch über den von beiden Beteiligten gestellten Antrag nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG zu entscheiden haben.

 

VI. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

 

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden.

 

Rechtskraft
Aus
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