Zum Anspruch auf Zahlung einer Aufwandspauschale nach Einfügung von Satz 4 in § 275 Abs. 1c SGB V zum 01.01.2016

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 1 KR 2269/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Auch nach Einfügung von Satz 4 in § 275 Abs. 1c SGB V zum 01.01.2016 besteht kein Anspruch eines Krankenhausträgers auf Zahlung einer Aufwandspauschale, wenn eine nachweislich fehlerhafte Abrechnung die Krankenkasse zur Prüfung der Abrechnung durch den Medizinischen Dienst veranlasst hat, auch wenn die Prüfung zu keiner Minderung des Abrechnungsbetrages geführt hat.

 

  1. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (Urteil vom 22.06.2010 – B 1 KR 1/10 R) findet entgegen der von mehreren Sozialgerichten vertretenen Auffassung auch ab dem 01.01.2016 weiterhin Anwendung.

 

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
  3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Vorliegend begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung einer Aufwandspauschale (AWP) i.H.v. 300 € nebst Zinsen hieraus.

 

Der im ……. geborene, bei der Beklagten krankenversicherte ….. wurde vom 23.05. bis 04.06.2018 wegen eines Verschlusses und einer Stenose der Arteria Carotis in der Klinik für Allgemeine Chirurgie der ……., deren Trägerin die Klägerin ist, stationär behandelt.

 

Die Klägerin stellte der Beklagten für diese vollstationäre Krankenhausbehandlung mit Rechnung vom 03.07.2018 einen Gesamtbetrag von 11.798,00 € (ohne Selbstbeteiligung) in Rechnung, der von der Beklagten zunächst auch in vollem Umfang gezahlt wurde. Hierbei hatte die Klägerin u.a. als Nebendiagnose (ND) den Kode J15.8. („Sonstige bakterielle Pneumonie“) in Ansatz gebracht und u.a. hierauf gestützt als Fallpauschale die Diagnosis Related Group (DRG) B04B („Beidseitige Eingriffe an den extrakraniellen Gefäßen ohne äußerst schwere CC oder mehrzeitige Eingriffe an den extrakraniellen Gefäßen oder äußerst schwere CC“) abgerechnet.

 

Auf Veranlassung der Beklagten überprüfte Dr. ….. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MD) diese Krankenhausabrechnung und gelangte in ihrem Gutachten vom 25.04.2019 zu dem Ergebnis, die ND J15.8 sei in J18.2 („Hydrostatische Pneumonie, nicht näher bezeichnet“) umzuwandeln. Gleichwohl sei die angesetzte Fallpauschale DRG B04B korrekt.

 

Daraufhin stellte die Klägerin der Beklagten mit Rechnung vom 31.07.2019 eine AWP i.H.v. 300,00 € in Rechnung.

 

Unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22.06.2010 (B 1 KR 1/10 R) lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 07.08.2019 eine Bezahlung ab.

 

Mit ihrer am 07.10.2021 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung einer AWP i.H.v. 300,00 € nebst Zinsen hieraus.

Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, die maßgebende Vorschrift des § 275c Abs. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) sei eindeutig formuliert. Es sei eine AWP zu zahlen, wenn eine von der Krankenkasse eingeleitete Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrages geführt habe. Auf die Veranlassung der Prüfeinleitung komme es nach der gesetzlichen Änderung des § 275 Abs. 1c SGB V seit dem 01.01.2016 nicht mehr an. Die Rechtsprechung des BSG lasse sich daher für die ab dem 01.01.2016 geltende Neufassung nicht mehr aufrechterhalten. Der Gesetzgeber habe in der Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 275 Abs. 1c SGB V den Zweck der Beschleunigung und die Planungssicherheit betont. Dieser Intention widerspräche eine Auslegung der Norm dahingehend, dass zu klären wäre, ob das Krankenhaus einen Anlass zur Prüfung gegeben habe und ob das Fehlverhalten auf dieser Seite zu bejahen sei. Auf mehrere Entscheidungen von Sozialgerichten werde verwiesen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Beklagte zu verurteilen, an sie 300,00 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Zur Begründung hat sie ausgeführt, es sei keine AWP zu zahlen, da die falsche Kodierung durch die Klägerin Anlass zur Prüfung durch den MD gegeben habe. Die Zahlung einer AWP sei dann abzulehnen, wenn das wesentliche Fehlverhalten des Krankenhauses ursächlich für die Entscheidung der Krankenkasse gewesen sei, den MD mit einer Begutachtung zu beauftragen. Dies sei hier der Fall gewesen.

 

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorgelegten Beklagtenakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

 

Vorliegend konnte die Kammer nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben.

 

Die beim sachlich und örtlich zuständigen SG von der Klägerin zu Recht erhobene (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z.B. BSGE 90, 1; 100, 164; 102, 172; 104, 15) auf Zahlung einer AWP ist zulässig. Vorliegend handelt es sich um einen sogenannten Beteiligtenstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen und keine Klagefrist zu beachten ist.

 

Allerdings ist die Klage unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer AWP i.H.v. 300,00 €.

 

Nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) sind die Krankenkassen in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere und Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MD) einzuholen.

 

Nach § 275 Abs. 1c SGB V in der hier maßgebenden, ab 01.01.2018 geltenden Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I, 3234) ist bei Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V eine Prüfung nach Absatz 1 Nr. 1 zeitnah durchzuführen. Die Prüfung nach Satz 1 ist spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der Krankenkasse einzuleiten und durch den MD dem Krankenhaus anzuzeigen. Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, hat die Krankenkasse dem Krankenhaus eine AWP i.H.v. 300 € zu entrichten. Als Prüfung nach Satz 1 ist jede Prüfung der Abrechnung eines Krankenhauses anzusehen, mit der die Krankenkasse den MD beauftragt und die eine Datenerhebung durch den MD beim Krankenhaus erfordert.

 

Die Grundvoraussetzungen eines Anspruchs der Klägerin auf Zahlung einer AWP nach § 275 Abs. 1c SGB V sind vorliegend erfüllt.

 

Die Beklagte hat vorliegend beim MD eine Prüfung der Krankenhausabrechnung der Klägerin zum stationären Aufenthalt des Patienten …. u.a. auf Grund ihrer Zweifel an der korrekten Abrechnung der ND J15.8 veranlasst. Diese Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit ist seit dem 01.01.2016 Gegenstand einer Prüfung nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, was durch den zu diesem Zeitpunkt eingefügten Satz 4 in § 275 Abs. 1c SGB V klargestellt wurde.

 

Auf das Schreiben des MD vom 27.07.2018 wurden daraufhin von der Klägerin die darin im einzelnen aufgeführten Unterlagen diesem zur Prüfung der Krankenhausabrechnung vorgelegt. Aufgrund der von der Beklagten eingeleiteten Prüfung ihrer Krankenhausabrechnung entstand somit der Klägerin ein tatsächlicher Aufwand für die Bereitstellung der vom MD angeforderten Unterlagen.

 

Nach Prüfung der Krankenhausabrechnung stellte Dr. …… in ihrem Gutachten vom 25.04.2019 fest, dass die ND J15.8 zu Unrecht von der Klägerin abgerechnet wurde und diese in die ND J18.2 umzuwandeln ist. Gleichwohl sei die angesetzte Fallpauschale DRG B04B – wie von der Klägerin abgerechnet – korrekt. Zu einer Minderung des Abrechnungsbetrages kam es daher nicht.

 

Gleichwohl besteht kein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Zahlung einer AWP, weil die Beklagte durch die nachweislich fehlerhafte Abrechnung der ND J15.8 durch die Klägerin veranlasst wurde, das Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V unter Beteiligung des MD einzuleiten.

 

Nach der Rechtsprechung des BSG löst in derartigen Fällen § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V keine AWP aus, selbst wenn sich der Gesamtabrechnungsbetrag für die Krankenhausbehandlung anschließend im Ergebnis nicht verringert (vgl. grundlegend hierzu BSG, Urteil vom 22.06.2010 – B 1 KR 1/10 R – sowie Urteile vom 23.06.2015 und vom 23.05.2017 - B 1 KR 24/14 R -, - B 1 KR 13/14 R – und B 1 KR 28/16 R – alle juris –). Nach Auffassung des BSG greife eine isoliert aus dem Wortlaut abgeleitete Auslegung, dass schon die „nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags“ führende MD-Prüfung einzige Voraussetzung für den Anspruch des Krankenhauses nach § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V sei, zu kurz. Das folge aus Sinn und Zweck der Regelung und ihrem funktionalen Zusammenspiel mit der Prüfpflicht nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V vor dem Hintergrund des gesamten Regelungszusammenhangs und werde letztlich auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Allein die Erfüllung der gesetzlichen Prüfpflicht des § 275 SGB V mit Hilfe der dazu bereichsspezifisch vorgesehenen Verfahren und Prüfsysteme könne nicht einseitige Zahlungsansprüche eines Krankenhauses zu Lasten einer Krankenkasse auslösen, seien sie auch in das Gewand einer AWP gekleidet. Die für Prüfverfahren entstehenden Kosten seien vielmehr grundsätzlich Teil der Kosten der Leistungserbringung selbst, d. h. schon in die Vergütung für die erbrachten Leistungen mit „eingepreist“ und könnten daher nur ausnahmsweise – unter eng umrissenen Voraussetzungen – den Krankenkassen zusätzlich und allein auferlegt werden. Schon zur Wahrung der Gleichgewichtigkeit der wechselseitigen Interessen von Krankenkassen und Krankenhäusern bedürfe § 275 Abs. 1c SGB V einer einschränkenden Auslegung. Die gänzliche Ausklammerung des Gesichtspunkts, dass ein Leistungserbringer wie das Krankenhaus selbst Gründe für die berechtigte Einleitung eines Prüfverfahrens gesetzt habe, widerspreche zudem in besonderem Maße den seit jeher bestehenden bereichsspezifischen Besonderheiten in Leistungsbeziehungen zwischen Krankenkasse und Krankenhaus, welche durch eine ständige professionelle Zusammenarbeit innerhalb eines dauerhaften Vertragsrahmens geprägt seien. Mit diesem, das Rechtsverhältnis zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern prägenden Prinzip wäre es unvereinbar, dass Krankenhäuser den Krankenkassen gegenüber ohne eigenes finanzielles Risiko fehlerhaft abrechnen könnten, während die zur Prüfung verpflichteten Krankenkassen selbst bei nachgewiesener Fehlerhaftigkeit der Abrechnung eines Leistungserbringers der Gefahr ausgesetzt wären, gleichwohl die AWP zahlen zu müssen. Es wäre gerade das Gegenteil des beschriebenen rücksichtsvollen Verhaltens, würde es das Gesetz ermöglichen, die AWP selbst dann zu beanspruchen, wenn eigenes Fehlverhalten des Krankenhauses – hier der Verstoß gegen die Pflicht zur korrekten Abrechnung – zu einer überflüssigen, nutzlosen Prüfung geführt habe, oder wenn sich sogar der Abrechnungsbetrag im Nachhinein noch zu Lasten der Krankenkasse erhöhe. § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V ziele vielmehr nur auf die Einschränkung von Prüfungen ab, die Krankenkassen ohne berechtigten Anlass, ggf. gar durch „missbräuchliche“ Prüfungsbegehren eingeleitet hätten, nicht aber auf Verfahren, zu denen es nur durch ein Fehlverhalten des Krankenhauses gekommen sei. Die Gesetzesmaterialien würden dieses Ergebnis bestätigen. Anlass zur Schaffung des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V habe ausweislich der Gesetzesbegründung der Umstand geboten, dass einzelne Krankenkassen die Prüfungsmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V „in unverhältnismäßiger und nicht sachgerechter Weise“ zur Einzelfallsteuerung genutzt hätten. Dies führe – so die Gesetzesbegründung – insbesondere bei nicht zeitnahen Prüfungen zu „unnötiger Bürokratie“, nämlich zu einer teilweise erheblichen Belastung der Abläufe in den Krankenhäusern mit zusätzlichem personellen und finanziellen Aufwand sowie zu in der Regel hohen nicht gerechtfertigten Außenständen und Liquiditätsproblemen mit Unsicherheiten bei Erlösausgleichen und Jahresabschlüssen. Um vor diesem Hintergrund „einer ungezielten und übermäßigen Einleitung von Begutachtungen entgegenzuwirken“, sei eine AWP von - zunächst – 100 € mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26.03.2007 (BGBl. I, 378) zum 01.04.2007 eingeführt worden.

 

Aus den Gesetzesmaterialien lasse sich dagegen nicht herleiten, dass eine Krankenkasse die AWP auch „unabhängig davon“ entrichten müsse, ob sie selbst oder das Krankenhaus die wesentlichen Gründe für die Einschaltung des MD gesetzt hatte. In den Materialien würden vielmehr auf der Grundlage der in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen erkennbar nur die typischen unbefriedigend verlaufenen Verfahren angesprochen und zum Regelungsgegenstand gemacht, in denen es aus der Initiative der Krankenkassen heraus zu einer übermäßig starken Inanspruchnahme der Prüfmöglichkeit gekommen sei. Während der Gesetzgeber bei missbräuchlichem Vorgehen von Krankenkassen bzw. bei nahezu routinemäßig erfolgender Prüfungseinleitung im Grenzbereich hin zum Rechtsmissbrauch die Zahlung einer AWP als gerechtfertigt angesehen habe, könne dies schon im Ansatz nicht gleichermaßen für die Sachverhaltskonstellation der hier vorliegenden Art angenommen werden.

 

Diese Auffassung des BSG, der sich die Kammer in vollem Umfang anschließt, ist entgegen der von der Klägerin vertretenen, auf mehrere Urteile von Sozialgerichten gestützten Auffassung durch die zum 01.01.2016 durch das Krankenhausstrukturgesetz vom 10.12.2015 (BGBl. I, 1229) erfolgte Einfügung des Satzes 4 in § 275 Abs. 1c SGB V nicht obsolet geworden. Mit dem zum 01.01.2016 eingefügten Satz 4 wurde klargestellt, dass als Prüfung nach § 275 Abs. 1c SGB V jede Prüfung der Abrechnung eines Krankenhauses anzusehen ist, mit der die Krankenkasse den MD beauftragt und die eine Datenerhebung durch den MD beim Krankenhaus erfordert. Ausweislich der Gesetzesbegründung hierzu (BT-Drucksache 18/6586, Seite 110) reagierte der Gesetzgeber hiermit auf das Urteil des BSG vom 01.07.2014 (B 1 KR 29/13 R), in dem eine rechtliche Differenzierung zwischen Auffälligkeitsprüfungen und Prüfungen auf sachlich-rechnerische Richtigkeit einer Krankenhausabrechnung vorgenommen wurde. Mit der Neuregelung des § 275 Abs. 1c Satz 4 werde nunmehr bestimmt, dass sich die Fristen- und Anzeigeregelung des Satzes 2 und die Regelung zur AWP in Satz 3 auf jede Prüfung der Abrechnung einer stationären Behandlung beziehen, mit der eine Krankenkasse den MD beauftragt und die eine Datenerhebung durch den MD beim Krankenhaus erfordert. Die Neuregelung hat ausweislich der Gesetzesbegründung zugleich zur Folge, dass Sachverhaltsermittlungen, die eine Einsichtnahme in Unterlagen des Krankenhauses und sonstige Datenanforderungen beim Krankenhaus erfordern, ausgeschlossen sind, wenn die Frist nach Satz 2 ungenutzt abgelaufen ist. Dies gilt unabhängig davon, ob sich meine Prüfung der sachlichen und rechnerischen Richtigkeit der Krankenhausabrechnung oder um eine Auffälligkeitsprüfung handelt. Dadurch sollen die bereits mit den Sätzen 2 und 3 verfolgten Zwecke der Beschleunigung und Planungssicherheit gestärkt werden.

 

Der hierauf gestützten Auffassung, damit, also mit der Einfügung des Satzes 4 in § 275 Abs. 1c SGB V, habe die Rechtsprechung des BSG zu der bis zum 31.12.2015 geltenden Rechtslage keine Gültigkeit mehr, kann sich die Kammer nicht anschließen.

 

In Teilen der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. Sozialgericht Hannover, Urteil vom 17.11.2017 – S 86 KR 305/17 – und Sozialgericht Duisburg, Urteil vom 22.10.2020 – S 17 KR 306/20 – beide juris -) wird die Auffassung vertreten, anlässlich der Neuregelung des Satzes 4 und in Kenntnis der Rechtsprechung des BSG, auf die in der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 18/6586, Seite 110) ausdrücklich Bezug genommen wird, hätte der Gesetzgeber bestimmte Konstellationen – wie hier beispielsweise eine vermeintliche Veranlassung der MD-Prüfung durch unzureichende Übermittlung der Daten durch das Krankenhaus – nach dem Veranlassungsprinzip von dem Anspruch auf Zahlung einer AWP ausnehmen können. Aus dem Umstand, dass § 275 Abs. 1c SGB V auch in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung eine entsprechende Einschränkung oder Klarstellung nicht enthalte, sei zu schließen, dass es nicht darauf ankomme, welche Umstände Anlass zur Einleitung des Prüfverfahrens gaben, sondern (nur) die fehlende Minderung des Abrechnungsbetrages entscheidend sei.

 

Hierbei wird jedoch übersehen, dass auch in der bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung des § 275 Abs. 1c SGB V das „Veranlassungsprinzip“ keinen Niederschlag im Wortlaut dieser Vorschrift fand. Gleichwohl hat das BSG - wie dargestellt – einen Anspruch auf Zahlung einer AWP dann verneint, wenn das Krankenhaus durch fehlerhafte Abrechnung das Prüfungsverfahren veranlasst hat. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber bei der Ergänzung des § 275 Abs. 1c SGB V um Satz 4 keine Veranlassung sah, auf diesen Gesichtspunkt einzugehen, kann entgegen der teilweise vertretenen sozialgerichtlichen Rechtsprechung sogar der Schluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber der Rechtsprechung des BSG weiterhin Geltung zumaß und insofern gerade keinen Regelungsbedarf sah. Dies gilt umso mehr, als - entgegen der von den genannten Sozialgerichten vertretenen Auffassung - in der Gesetzesbegründung gerade nicht auf das Urteil des BSG vom 26.06.2010 (a.a.O.), sondern vielmehr auf das Urteil des BSG vom 01.07.2014 (a.a.O.) Bezug genommen wird.

 

Sowohl das Sozialgericht Hannover als auch das Sozialgericht Duisburg (beide a.a.O.) weisen zwar zutreffend darauf hin, dass in der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 275 Abs. 1c SGB V der Gesetzgeber die Zwecke der Beschleunigung und Planungssicherheit ausdrücklich betont hat. So sollen diese Zwecke gestärkt werden. Allerdings wird aus der Gesetzesbegründung auch deutlich, dass diese Zwecke, nämlich die Beschleunigung und Planungssicherheit bereits zuvor mit den Sätzen 2 und 3 des § 275 Abs. 1c SGB V verfolgt werden sollten. Dies bestätigt die Gesetzesbegründung zu der zum 01.04.2007 eingefügten Regelung des § 275 Abs. 1c SGB V (BT-Drucksache 16/3100, S. 171). Mit dieser Regelung sollte einer ungezielten und übermäßigen Einleitung von Begutachtungen, die die Abläufe in den Krankenhäusern teils erheblich belasten, für zusätzlichen personellen und finanziellen Aufwand sorgen und in der Regel zu hohen, nicht gerechtfertigten Außenständen und Liquiditätsproblemen für, entgegengewirkt werden. Zudem seien zeitnahe Prüfungen nicht immer gewährleistet. Es sollten Anreize gesetzt werden, Prüfungen zukünftig zielorientierter und zügiger einzusetzen. Dieses Ziel, das Prüfverfahren zu beschleunigen und den Beteiligten Planungssicherheit zu geben, wurde also bereits mit der zum 01.04.2007 erfolgte Einfügung des § 275 Abs. 1c SGB V verfolgt. Trotz des damit verfolgten Zwecks der Beschleunigung des Prüfverfahrens sah sich das BSG in seinem Urteil vom 22.06.2010 (a.a.O.) nicht daran gehindert, die Zahlung einer AWP davon abhängig zu machen, ob das Prüfverfahren durch ein Fehlverhalten des Krankenhauses veranlasst wurde oder nicht.

 

Entgegen der teilweise in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Auffassung ergibt sich daher aus der Gesetzesbegründung zur Einfügung des Satzes 4 in § 275 Abs. 1c SGB V kein Anhaltspunkt dafür, dass die Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom 22.06.2010 (a.a.O.) obsolet geworden ist (so auch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.12.2021 – L 5 KR 302/21 NZB KH – juris –).

 

Nach Überzeugung der Kammer hat die Klägerin in ihrer Krankenhausabrechnung zu Unrecht als ND den Kode J15.8 angesetzt. Dies folgt aus den Ausführungen der Dr. …… in ihrem Gutachten vom 25.04.2019, gegen die von Klägerseite keine Einwände vorgebracht wurden.

Da somit vorliegend zwischen den Beteiligten Einigkeit über die Einschätzung der Kodierung der ND J15.8 zwischen dem MD und der Klägerin bestand, bedarf es hierzu keiner, unter Umständen, langwierigen Ermittlungen. Es bedarf hier somit keines Eingehens auf die in den Urteilen der Sozialgerichte Hannover und Duisburg (a.a.O.) angesprochenen Frage, ob die Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom 22.06.2010 auch dann weiterhin Gültigkeit haben kann, wenn bei Uneinigkeit zwischen den Beteiligten im Rahmen eines Klagverfahrens auf Zahlung einer AWP umfangreiche medizinische Ermittlungen zur zutreffenden, letztendlich aber für die Hauptforderung irrelevanten Kodierung durchgeführt werden müssen.

Hier hat die Klägerin durch ihre fehlerhafte Kodierung der ND Anlass für die Beklagte gegeben, ein Prüfverfahren unter Zuhilfenahme des MD einzuleiten. Der zutreffenden Rechtsprechung des BSG folgend hat sie daher keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer Aufwandspauschale i.H.v. 300,00 €.

 

Die Klage war somit abzuweisen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung, da weder Klägerin noch Beklagte zu den in § 183 SGG genannten Personen gehören.

 

Die Sprungrevision gegen dieses Urteil wird nach § 161 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Nach Kenntnis der Kammer sind zu der hier maßgebenden Frage, ob die Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom 22.06.2010 auch bei der ab 01.01.2016 geltenden Rechtslage weiterhin Anwendung findet, mit Ausnahme der genannten Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen noch keine ober- oder sogar höchstrichterlichen Entscheidungen ergangen.

 

 

Rechtskraft
Aus
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