L 30 P 72/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 16 P 67/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 30 P 72/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung wird zurückgewiesen.

 

 

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die 1999 geborene, durch ihre Eltern gepflegte, von ihrer Mutter betreute und bei der Beklagten pflegeversicherte Klägerin begehrt Leistungen nach der Pflegestufe Il ab dem 19. April 2015. Sie leidet an einer geistigen Behinderung mit mittelgradiger Intelligenzminderung, Apraxie und Autoaggressionen sowie Adipositas (vgl. etwa Befundberichte). Sie besuchte bis zum achtzehnten Lebensjahr eine Förderschule und arbeitete danach in einer Werkstatt für behinderte Menschen.

 

Auf ihren am 21. April 2014 eingegangenen Pflegegeldantrag vom 19. April 2015 holte die Beklagte beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen Berlin-Brandenburg e.V. (MDK) das auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin bei ihr zu Hause beruhende Gutachten der Pflegefachkraft S vom 8. Mai 2015 ein, was einen Grundpflegebedarf von insgesamt 49 (für Körperpflege 39, Ernährung 0, Mobilität 10) Minuten und einen Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten täglich bei in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz erbrachte. Daraufhin gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 19. Mai 2015  unter Feststellung einer im erhöhten Maße eingeschränkten Alltagskompetenz ab dem 1. April 2014 erhöhtes Pflegegeld nach der Pflegestufe I i.H.v. 316,00 €. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch vom 10. Juni 2015 machte die Klägerin höhere Pflegebedarfe bei der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität geltend, mithin einen Grundpflegebedarf von insgesamt 204 Minuten und ein Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Versorgung von 86 Minuten täglich, weshalb die Voraussetzungen für die Pflegestufe II erfüllt seien. Daraufhin veranlasste die Beklagte eine weitere Begutachtung durch den MDK vom 20. Juli 2015. Hierfür fand erneut ein Hausbesuch bei der Klägerin statt. Die begutachtende Pflegefachkraft S gelangte zu einem Grundpflegebedarf von insgesamt 35 (für Körperpflege 27,  Ernährung 0 und Mobilität 8) Minuten täglich und einem Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Verrichtungen von 45 Minuten täglich bei in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz. Im Gutachten ist u.a. festgehalten, wie die Klägerin selbst schilderte, sich die Hände nach dem Toilettengang manchmal zu waschen, es aber teilweise auch zu vergessen, woraufhin sie die Lehrer dann dazu aufforderten. Die Gutachterin stellt ferner fest, dass sich die Klägerin nach einer einfachen Aufforderung beim Hausbesuch die Hände korrekt mit Seife selbständig wusch, hierbei auf die Reinigung der Fingerzwischenräume achtete und sich anschließend das Gesicht wusch und abtrocknete. Insgesamt zeigte sich die Klägerin nach den gutachterlichen Feststellungen bei diesem Hausbesuch in der Lage, Aufforderungen zeitnah und korrekt umzusetzen.

 

Ein weiteres, dieses Mal durch die Gutachterin Z nach Aktenlage erstelltes Gutachten des MDK vom 26. August 2015 bestätigte den im Gutachten vom 20. Juli 2015 ermittelten Pflegebedarf. Ein weiteres, wiederum aufgrund eines Hausbesuchs erstelltes Gutachten des MDK (Pflegefachkraft F) vom 16. Dezember 2015 erbrachte einen Grundpflegebedarf von insgesamt 58 (für Körperpflege 46, Ernährung 4, Mobilität 8) Minuten und einen Zweitaufwand für hauswirtschaftliche Verrichtungen von 64 Minuten täglich bei in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz. Nachdem die Klägerin unter Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens an ihrem Widerspruch festgehalten und eine richtlinienwidrige Ermittlung des Pflegebedarfs gerügt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. August 2016 als unbegründet zurück und verwies zur Begründung auf das Ergebnis der durchgeführten medizinischen Ermittlungen, die keinen Pflegebedarf nach der Pflegestufe II ergeben hätten.

 

Die Klägerin hat, zunächst weiterhin durch ihre Eltern, später allein durch ihre Mutter als Betreuerin u.a. mit dem Aufgabenkreis „Geltendmachung und Abwehr von Ansprüchen aller Art“ vertreten, am 17. August 2016 zu dem Sozialgericht Cottbus (SG) Klage erhoben und ihr bisheriges Vorbringen vertieft. Bei der Körperpflege bedürfe sie permanenter Anleitung und Kontrolle. Bei Verweigerung müsse die Körperwäsche teilweise übernommen werden. Die Beklagte gehe von zu wenigen Toilettengängen aus. Sie bedürfe der Unterstützung beim Richten der Bekleidung, ferner der Hilfestellung beim Schneiden und Zerkleinern der Mahlzeiten, bei denen sie permanent beaufsichtigt und angeleitet werden müsse, weil sie sonst schlinge und nicht schlucke. Zudem falle ein erheblicher Zeitaufwand beim Aufstehen/Zubettgehen an, der bei der Begutachtung durch den MDK nicht berücksichtigt worden sei.

 

Das SG hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte beigezogen, darunter denjenigen der Dipl.-Psych. S vom 24. Mai 2017, in dem u.a. ausgeführt ist, dass die Autonomie- und Selbständigkeitsentwicklung der Klägerin deutlich verzögert sei. Einfache Hygienemaßnahmen z.B. beim Duschen könne die Klägerin nach Angaben ihrer Mutter nicht ohne anleitende und kontrollierende Unterstützung verrichten. Neben der kognitiven Beeinträchtigung sei ein Grund hierfür vermutlich auch die enge familiäre Bindungsstruktur (Mutter-Kind-Bindung), die die Klägerin nur wenig in ihrer Selbständigkeit fordere.

 

Das SG hat das schriftliche Sachverständigengutachten von Dr. S vom 23. September 2017 eingeholt, der bei der Klägerin nach Durchführung eines Hausbesuchs am 14. September 2017 bis zum 31. Dezember 2016 einen Grundpflegebedarf von insgesamt 102 (Körperpflege 51, Ernährung 39, Mobilität 12) Minuten täglich und einen Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Versorgung von 60 Minuten täglich festgestellt hat. Im Vergleich zu den MDK-Gutachten habe ein höherer Pflegebedarf bei der Körperpflege festgestellt werden können, weil die Klägerin ständiger Anleitung, Beaufsichtigung und teilweiser Übernahmen bedürfe. Auch sei bei der Ernährung wegen der mundgerechten Zubereitung sowie der Anleitung/Beaufsichtigung der Nahrungsaufnahme ein höherer Bedarf gegeben. Beim An-/Auskleiden sei ein höherer Hilfebedarf als bei den Begutachtungen durch den MDK zugrunde zu legen. Die Alltagskompetenz sei in erhöhtem Maße eingeschränkt. Unter Zugrundelegung des ab dem 1. Januar 2017 geltenden Pflegeversicherungsrechts sei bei der Klägerin ein Pflegegrad 3 gegeben, weil die Gesamtpunktzahl 56,5 gewichtete Punkte betrage.

 

Die Vertreterin der Klägerin hat sich mit Schreiben vom 16. Oktober 2017 mit dem Sachverständigengutachten kritisch auseinandergesetzt. Es sei ein Hilfebedarf bei elfmaligem Händewaschen täglich, zudem unter richtlinienkonformer Berücksichtigung der Mindesthygiene nach den Toilettengängen und zu den Mahlzeiten ein Hilfebedarf von durchschnittlich 22 Minuten täglich für Anleitung, Beaufsichtigung und teilweise Übernahme erforderlich. Auch reiche der vom Sachverständigen ermittelte Hilfebedarf beim Richten der Kleidung nach lediglich zwei Toilettengängen nicht aus. Vielmehr seien acht Toilettengänge täglich anzusetzen. Für drei Mahlzeiten täglich seien richtlinienkonform jeweils mindestens 15 Minuten für die Beaufsichtigung anzusetzen. Nach alldem sei der Grundpflegebedarf mit insgesamt 152 Minuten täglich zugrunde zu legen. Daraufhin hat das SG die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen vom 14. November 2017 eingeholt, worin er ausgeführt hat, dass ein Hilfebedarf für elfmaliges Hände-/Gesichtwaschen täglich nicht erforderlich und nicht nachvollziehbar sei. Im Übrigen lägen pflegeerschwerende Faktoren, die ein Überschreiten der Zeitkorridore der Pflegerichtlinien rechtfertigten, nicht vor. Die Toilettengänge in der Behindertenwerkstatt seien nicht zu berücksichtigen. Bei der Ernährung seien 10 Minuten pro Mahlzeit ausreichend bemessen, weil die Klägerin nicht zum Essen angehalten oder gefüttert, sondern nur gebremst werden müsse.

 

Die Beklagte gewährte der Klägerin ab dem 1. Januar 2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 sowie einen Entlastungsbetrag i.H.v. bis zu 125,- €/Monat.

 

Nachdem die Klägerin zuletzt beantragt hatte, die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 19. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2015 zu verurteilen, ihr vom 19. April 2015 bis zum 31. Dezember 2016 Pflegegeld nach der Pflegestufe II und ab dem 1. Januar 2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 4 zu gewähren, hat das SG die Klage mit Urteil vom 23. November 2017 abgewiesen. Es hat zur Begründung i.W. ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe Il. Nach § 37 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) in der bis zum 31. Dezember 2016 gültigen Fassung setze der Anspruch u. a. voraus, dass die Klägerin der Pflegestufe Il zuzuordnen sei. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX sei der Pflegestufe Il zuzuordnen, wer schwer pflegebedürftig sei. Überhaupt pflegebedürftig sei nach § 14 Abs. 1 SGB XI, wer für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer der Hilfe bedürfe. Die „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" seien in § 14 Abs. 3 SGB XI abschließend aufgezählt (m.H.a. Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Oktober 2000 - L 4 P 1072/00). Sie ließen sich in Verrichtungen der Grundpflege und Verrichtungen der hauswirtschaftlichen Versorgung einteilen. Die Grundpflege umfasse die Körperpflege (das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung), die Ernährung (das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung) sowie die Mobilität (das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Die hauswirtschaftliche Versorgung umfasse das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung und das Beheizen. Hilfe, die den Pflegebedarf decke, könne in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen bestehen. Ursache des Pflegebedarfs könne eine körperliche, geistige oder seelische Krankheit oder Behinderung im Sinne des § 14 Abs. 2 SGB XI sein. Dauernd sei der Pflegebedarf, wenn voraussichtlich für mindestens sechs Monate Hilfe nötig sei. Schwerpflegebedürftig und damit der Pflegestufe Il zuzuordnen sei nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XI, wer bei der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) dreimal täglich der Hilfe bedürfe und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötige. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötige, müsse hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 180 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens 120 Minuten entfallen müssten.

 

Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin nicht. Es lasse sich nicht feststellen, dass ihr Grundpflegebedarf täglich durchschnittlich mindestens 120 Minuten und der Zeitaufwand für die hauswirtschaftliche Versorgung 60 Minuten betragen habe. Die Feststellungen in den von der Beklagten zu Grunde gelegten Gutachten seien durch die Beweiserhebung des Gerichts, insbesondere durch das Gutachten des Pflegesachverständigen im Ergebnis bestätigt worden. Der Pflegesachverständige lege schlüssig und für das Gericht nachvollziehbar dar, dass die Klägerin vor allem unter einer mittelgradigen Intelligenzminderung, Apraxie und Autoaggressionen leide. Geschädigt seien der Intellekt, die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis, die höheren kognitiven Funktionen, die Orientierung, der Antrieb und die psychische Energie. Diese Schädigungen führten zu funktionellen Einschränkungen. Die Klägerin habe Schwierigkeiten, Aufforderungen zu Bewegungstests umzusetzen. Die Bewegung müsse demonstriert werden. Die grobe Kraft der Hände sei mäßig herabgesetzt, die Feinmotorik reduziert, das Fingerspiel verlangsamt. Beim Aufstehen, Hinlegen, Bücken und Gehen bestünden keine Einschränkungen. Sie brauche außerhalb der Wohnung eine Begleitperson. Gefahren des Straßenverkehrs erkenne sie nicht. Sie könne nicht die saisongerechte Kleidung auswählen. Rede und Gegenrede seien nur eingeschränkt möglich, sie benutze einfache Wörter und Sätze. Im Gespräch in einer Gruppe fühle sie sich überfordert. Das Kurzzeitgedächtnis sei reduziert. Sie schlage sich selbst aufs Kinn oder beiße den Handrücken blutig. Sie sei gegenüber fremden Personen distanzlos. Daraus und aus den in den Gutachten beschriebenen Selbsthilfefähigkeiten leite der Pflegesachverständige nachvollziehbar, einleuchtend und überzeugend ab, dass ein täglicher Grundpflegbedarf von durchschnittlich 102 Minuten bestehe. Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung sei die Klägerin mehr oder weniger vollständig auf Hilfe angewiesen (60 Minuten durchschnittlich pro Tag). Das Gericht schließe sich den Ausführungen des Pflegesachverständigen zum Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen an. Gegenüber den Gutachten vom 13. Mai 2015, 27. Juli 2015 und 20. Januar 2016 habe der Pflegesachverständige einen teilweise erheblich höheren Pflegebedarf festgestellt. Diese Abweichungen wirkten sich aber im Ergebnis nicht aus, weil auch der vom Pflegesachverständigen festgestellte Pflegebedarf unter der für die Pflegstufe Il maßgeblichen Schwelle bleibe. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung sei in allen Gutachten ein Hilfebedarf von 60 Minuten festgestellt. Eine weitere Erhöhung dieses Hilfebedarfs habe keine Auswirkungen auf den Anspruch. Aus den Befundberichten lasse sich kein höherer Pflegebedarf ableiten. Sie enthielten dazu keine Angaben. Die Ausführungen der Klägerseite führten zu keiner anderen Bewertung. Die Klägerin müsse beaufsichtigt und angeleitet werden. Außerdem benötige sie Teilhilfen bei der Körperpflege. Der Hilfebedarf bei der Körperpflege liege mit 51 Minuten bei fast einer Stunde pro Tag. Gutachterlich berücksichtigt seien jeden Tag eine komplette Körperwäsche und zusätzlich einmal pro Tag Waschen des Oberkörpers. Der Pflegesachverständige habe pro Woche sechs Ganzkörperwäschen à 20 Minuten und einmal Duschen à 20 Minuten ermittelt. Bei den Ganzkörperwäschen ergebe sich, verteilt auf sieben Wochentage, ein täglicher Pflegebedarf von gerundet 17 Minuten. Beim Duschen seien es, verteilt auf sieben Wochentage, täglich 3 Minuten. Für das Waschen des Oberkörpers habe er täglich 10 Minuten angesetzt. Strittig sei, ob die Feststellung des Gutachters zur Hilfe beim Wasserlassen, beim Zähneputzen, beim Kämmen und beim Hände- und Gesichtwaschen zuträfen. Die Klägerseite gebe an, dass letzteres dreimal nach Mahlzeiten und achtmal nach Toilettengängen notwendig sei. Wenn Gesicht und Hände elfmal pro Tag gewaschen würden, sei dieser enorme Umfang pflegefachlich nicht nachvollziehbar. Er sei nach den festgestellten Schädigungen und Funktionseinschränkungen nicht erforderlich. Der Pflegebedarf für die Darm- und Blasenentleerung sei zur Überzeugung der Kammer mit täglich 8 Minuten zutreffend berücksichtigt. Das gelegentliche nächtliche Einnässen erhöhe nicht den Grundpflegebedarf im Sinne des SGB XI. Beim Hilfebedarf für Zähneputzen und Kämmen folge das Gericht den Einschätzungen des Sachverständigen mit insgesamt 13 Minuten täglich. Der durch das Wecken und morgendliche Anziehen der Klägerin anfallende tägliche Pflegebedarf sei durch den Pflegesachverständigen berücksichtigt worden. Das Gericht gehe mit den Eltern der Klägerin und dem Pflegesachverständigen davon aus, dass die Klägerin der Hilfe durch Beaufsichtigung und Anleitung in allen Bereichen der Pflege bedürfe. Sie müsse ihre Nahrung ein- und zugeteilt bekommen. Sie könne sich hauswirtschaftlich nicht mehr allein versorgen. Der von den Eltern geschilderte berücksichtigungsfähige Betreuungsaufwand sei von dem Pflegesachverständigen berücksichtigt worden. Der darüber hinausgehende Betreuungsaufwand sei der sozialen Betreuung zuzuordnen. Dieser sei nicht berücksichtigungsfähig, weil er keine Hilfe bei den in § 14 SGB XI beschriebenen Verrichtungen sei (vgl. dazu Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 10. Februar 2000 - B 3 P 12/99 R -; BSG, Beschluss vom 24. Oktober 2008 - B 3 P 23/08 B -, Rn. 6). Dies gelte auch für die psychischen und physischen Belastungen des Umfelds der Klägerin durch die Erkrankung. Die Klägerin sei zwar erheblich pflegebedürftig. Sie habe einen durchschnittlichen täglichen Grundpflegebedarf von 102 Minuten. Dieser führe jedoch nicht zu einem Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe Il, weil sie nicht schwerpflegebedürftig sei. Sie sei nicht schwerpflegebedürftig, weil der Grundpflegebedarf mit 102 Minuten unter der maßgeblichen Schwelle von 120 Minuten bleibe.

 

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 4. Sie habe keinen Anspruch aus Überleitungsrecht, insbesondere nicht aus § 140 SGB XI. Die Beklagte habe gemäß § 140 Abs. 2 Nr. 2 b) SGB XI in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung (n.F.) zutreffend in den Pflegegrad 3 übergeleitet. Denn es liege eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz und gleichzeitig die Pflegestufe I vor. Die Klägerin habe keinen Anspruch aus § 37 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB XI n.F., selbst wenn dieser Anspruch in das Verfahren einbezogen wäre. Denn sie sei gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB IX n.F. mit 56,5 Gesamtpunkten in den sechs Bereichen aus § 14 Abs. 2 SGB XI n.F. in den Pflegegrad 3 einzuordnen. Das Gericht schließe sich insoweit den nachvollziehbaren und einleuchtenden Feststellungen des Pflegesachverständigen an, die von den Beteiligten nicht angegriffen worden seien.

 

Die Klägerin hat gegen das ihr am 1. Dezember 2017 zugestellte Urteil am 15. Dezember 2017 Berufung mit dem Begehren eingelegt, die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 19. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2016 zu verurteilen, ihr ab dem 19. April 2015 rückwirkend Leistungen nach der Pflegestufe II zu gewähren, und an ihrem bisherigen Vorbringen festgehalten.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 23. November 2017 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 19. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2016 zu verurteilen, ihr Pflegegeld nach der Pflegestufe II vom 19. April 2015 bis zum 31. Dezember 2016 zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Der Senat hat zunächst eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S vom 23. Oktober 2020, sodann das schriftliche Sachverständigengutachten der Allgemeinmedizinerin Dr. B vom 1. April 2021 eingeholt. Diese hat nach Aktenlage für die Zeit bis zum 31. Dezember 2016 einen Grundpflegebedarf von 72 (Körperpflege 51, Ernährung 9, Mobilität 12) Minuten und einen Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Verrichtungen von mehr als 60 Minuten täglich ermittelt. I.W. treffe die sozialmedizinische Beurteilung von Dr. S zu. Sie könne jedoch den von ihm angesetzten Zeitbedarf bei der Ernährung nicht nachvollziehen. Die Klägerin vom Schlingen abzuhalten, begründe keinen relevanten Hilfebedarf, zumal auch nach einer entsprechenden Rückfrage in der Behindertenwerkstatt eben dort keine Hilfe beim Essen geleistet und das Händewaschen nicht überwacht, sondern die Klägerin ggf. nur dazu angehalten werde, sich die Hände zu waschen.

 

Die Vertreterin der Klägerin hat unter Verweis auf die ihrer Meinung nach fehlende Fachkompetenz der Sachverständigen deren Begutachtung zunächst abgelehnt und hat sich sodann mit Schreiben vom 11. Mai 2021 kritisch mit deren Sachverständigengutachten auseinandergesetzt, u.a. gerügt, dass die Sachverständige eigenmächtig in der Behindertenwerkstatt angerufen habe und die dort erhaltenen Informationen falsch wiedergegeben habe. Es gehe im vorliegenden Fall nur darum, ohne medizinisch-pflegefachliches Wissen zu beurteilen, ob der Klägerin eine Nahrungsaufnahme mit jeweils nur zehn Minuten je Mahlzeit zugemutet werden könne und ob es ausreichend sei, die Hände bei der morgendlichen und abendlichen Körperpflege zu waschen, oder ernsthaft darauf verzichtet werden sollte, auch nach den Toilettengängen und zu den Mahlzeiten die Hände zu waschen.

 

Daraufhin ist die ergänzende Stellungnahme von Dr. B vom 2. Juni 2021 eingeholt worden, in welcher sie bei ihrer bisherigen Einschätzung geblieben ist.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 

 

Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.

 

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und beschweren die Klägerin nicht, vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie hat gemäß der nach ihrer Antragstellung allein maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Rechtslage keinen Anspruch auf höheres Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, weil die Berufung aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurückzuweisen ist, vgl. § 153 Abs. 2 SGG. Lediglich ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen: Der Beweis für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines die Pflegestufe II begründenden Pflegebedarfs ist nicht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG in der hierfür erforderlichen Überzeugung des Gerichts erbracht. Weder die im Verwaltungsverfahren eingeholten MDK-Gutachten noch die beiden schriftlichen gerichtlichen Sachverständigengutachten haben zur Feststellung eines 120 Minuten erreichenden Grundpflegebedarfs geführt. Soweit die Klägerin zuletzt nur noch rügt, dass die Nahrungsaufnahme und das mehrmals tägliche Händewaschen nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend in Ansatz gebracht worden seien, verhilft es ihrer Berufung nicht zum Erfolg. Zunächst einmal erkennt der Senat bezüglich der Beaufsichtigung der Nahrungsaufnahme keinen pflegerelevanten Bedarf. Bereits das Anhalten zur regelmäßigen Nahrungsaufnahme ist keine nach § 14 SGB XI a.F. berücksichtigungsfähige notwendige Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung, sondern nur ein Aufsichts- und Betreuungsbedarf, der nicht der physischen Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme gleichgesetzt werden darf. Ein Aufsichtsbedarf bei der Nahrungsaufnahme wäre vielmehr nur dann der physischen Unterstützung der Nahrungsaufnahme gleichzustellen, wenn er die Pflegeperson in vergleichbarer Weise zeitlich und örtlich binden würde, etwa weil die Einsicht in die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme fehlt und ohne genaue Kontrolle des gesamten Vorgangs die Gefahr einer Unterversorgung besteht. Die Gefahr einer übermäßigen Nahrungsaufnahme begründet hingegen von vornherein keinen berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 2005 – B 3 P 5/04 R –, zitiert nach juris Rn. 16). Die Gefahr einer unzureichenden Aufnahme der Mahlzeiten besteht bei der Klägerin gerade nicht; die Gefahr einer Überernährung ist nach Vorstehendem allein schon aus Rechtsgründen bei der Ermittlung des pflegerischen Hilfebedarfs nicht in Ansatz zu bringen. Ein allgemeiner Aufsichts- und Betreuungsbedarf bei Menschen mit Behinderung ist im Übrigen – in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise - nicht als Pflegebedarf zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 2005 – B 3 P 5/04 R –, zitiert nach juris Rn. 16 f. unter Bezugnahme auf Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Mai 2003 - 1 BvR 1077/00 -, zitiert nach juris). Dessen ungeachtet ist in tatsächlicher Hinsicht selbst bei wohlwollender Annahme, dass die Klägerin bei den Mahlzeiten durchgehender Anleitung bzw. Beaufsichtigung bedürfen sollte, damit sie nicht so schlingt, nichts dafür ersichtlich, dass dieser Aufwand mit mehr als 10 Minuten pro Mahlzeit zu veranschlagen wäre. Denn, hierauf hat der Sachverständige Dr. S in seinem schriftlichen Sachverständigengutachten einschließlich seiner ergänzenden Stellungnahme überzeugend hingewiesen, geht es im Fall der Klägerin nicht darum, sie ständig zum Essen anzuhalten, sondern vielmehr nur zu bremsen, was schon tatsächlich einen geringeren Zeitaufwand mit sich bringt.

 

Soweit die Klägerin das mehrfache Händewaschen täglich bedarfserhöhend geltend macht, erschließt sich dem Senat in tatsächlicher Hinsicht nicht, warum damit ein nennenswerter Zeitaufwand für die Pflegeperson verbunden sein soll. Die Klägerin ist nach dem medizinischen Gesamtermittlungsergebnis ohne Weiteres motorisch dazu imstande, sich die Hände und im Übrigen auch das Gesicht zu waschen. Soweit sie dies vergisst oder sich weigert, reicht, worauf die Sachverständige Dr. B verweist, jeweils ein Zuruf aus, der nicht zeitlich relevant ins Gewicht fällt. Davon, dass der Vorgang des Händewaschens bei den bei der Klägerin feststellbaren Kompetenzen elfmal täglich jeweils penibel durchgehend überwacht werden muss, ist der Senat nicht überzeugt. So beschrieb etwa die Pflegefachkraft S in ihrem für den MDK erstellten Gutachten vom 20. Juli 2015 plastisch, wie die Klägerin selbst schilderte, sich die Hände nach dem Toilettengang manchmal zu waschen, es aber teilweise auch zu vergessen, woraufhin sie die Lehrer dann dazu aufforderten. Dementsprechend stellte die Gutachterin fest, wie sich die Klägerin nach einer einfachen Aufforderung beim Hausbesuch die Hände korrekt mit Seife selbständig wusch, hierbei sogar auf die Reinigung der Fingerzwischenräume achtete, sich anschließend das Gesicht wusch und sich abtrocknete. Insgesamt zeigte sich die Klägerin bei diesem Hausbesuch in der Lage, Aufforderungen zeitnah und korrekt umzusetzen. Dass sich daran später, bis zum 31. Dezember 2016, etwas Wesentliches geändert hätte, ist nicht ersichtlich. Die Ausführungen der Sachverständigen Dr. B bestätigen dieses Bild. Dass die Vertreterin der Klägerin tatsächlich einen höheren Pflegeaufwand als gutachterlich festgestellt betreibt, ändert nichts daran, dass sich ein höherer als von der Beklagten angenommener Pflegebedarf nicht verobjektivieren lässt, zumal sich aus dem vom SG beigezogenen Befundbericht der die Klägerin behandelnden Dipl.-Psych. S vom 24. Mai 2017 ergibt, dass die Autonomie- und Selbständigkeitsentwicklung der Klägerin zwar deutlich verzögert ist und sie einfache Hygienemaßnahmen z.B. beim Duschen nicht ohne anleitende und kontrollierende Unterstützung verrichten könne, wofür sich die Behandlerin allerdings nur auf die Angaben der Mutter der Klägerin stützt, jedoch neben der kognitiven Beeinträchtigung ein Grund hierfür vermutlich eben auch die enge familiäre Bindungsstruktur (Mutter-Kind-Bindung) ist, welche die Klägerin nur wenig in ihrer Selbständigkeit fordert.

 

Soweit die Klägerin wiederholt auf ihr Erkrankungsbild und den damit ihrer Meinung nach zwangsläufig einhergehenden höheren Pflegebedarf verweist, begründet dies nicht die Überzeugung des Senats vom Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II. Maßgebend sind nicht die Diagnose oder die symptomatische Beschreibung einer bestehenden Krankheit, sondern die darauf beruhenden, mittels medizinischen Sachverstands objektiv feststellbaren und sozialmedizinisch zu beurteilenden Funktionsbeeinträchtigungen, die hier – wie gezeigt – einen höheren als den von der Beklagten zugestandenen Pflegebedarf gerade nicht begründen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

 

Die Revision ist nicht gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund vorliegt.

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