L 3 SB 4094/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 17 SB 492/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4094/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 04.11.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin streitig.

Die 1971 geborene Klägerin beantragte am 23.03.2017 erstmals beim Beklagten die Feststellung ihres GdB und verwies zur Begründung auf arterielle Hypertonie, innere Unruhe, Schlafstörungen, starke Schmerzen im Bewegungsapparat, Halswirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulen-Blockaden, Lendenwirbelsäulensyndrom, lumbale Spinalstenose, starke Schmerzen im Rücken, Nacken, Kopf, Schulter und Händen sowie Wahrnehmungsstörungen, Muskelverspannungen, starke Muskel- und Gelenkschmerzen, Arthrose, funktionelle Störung des Bewegungsapparates, Urticaria (Nesselsucht) und Parodontitis.

Der Beklagte zog daraufhin Befundberichte des Facharztes S sowie der Fachärztin B bei, die u.a. einen Bericht des Medizinischen Versorgungszentrums W über eine Herzdiagnostik vom 16.03.2017, einen Bericht des B1 vom 14.03.2017 und einen radiologischen Bericht des Radiologischen Zentrums W vom 15.02.2017 übersandte.

Durch Bescheid vom 28.06.2017 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 30 seit 23.03.2017 fest. Die dem Bescheid zu Grunde liegende versorgungsärztliche Stellungnahme des Arztes K vom 31.05.2017 berücksichtigte folgende Funktionsbeeinträchtigungen:
- Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden: Einzel-GdB 20
- Fibromyalgiesyndrom, chronisches Schmerzsyndrom: Einzel-GdB 20
- Bluthochdruck: Einzel-GdB 10
- Allergie, wiederkehrende Nesselsucht: Einzel-GdB 10


Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs führte die Klägerin im Wesentlichen aus, die Wirbelsäulenerkrankung betreffe sowohl die Halswirbelsäule als auch die Lendenwirbelsäule. Es seien somit zwei Wirbelsäulenabschnitte betroffen und die Einschränkungen führten zu einem Einzel-GdB von mindestens 30. Aufgrund des Fibromyalgiesyndroms leide sie an massiven Schmerzen, darüber hinaus sei es zu einer Parästhesie in beiden Armen und Händen gekommen, die zu einer Einschränkung der Feinmotorik führe. Arbeiten über Kopf sei ihr nicht möglich, hier sei es bereits zu deutlich erhöhten Krankheitszeiten im Arbeitsverhältnis gekommen. Sie leide an massiven Schlafstörungen und wache ständig auf. Durchschlafen sei ihr nicht möglich und dies führe zu einem Erschöpfungssyndrom sowie zu Konzentrationsstörungen. Aufgrund von Schmerzen in Hüften und Sprunggelenken sei ihre Gehfähigkeit stark eingeschränkt. Sie leide an einer arteriellen Hypertonie, bei der es zu Blutdruckspitzenwerten im systolischen Bereich komme. Die vorliegende Urticaria führe zu starken Schwellungen im Gesichtsbereich, daher sei eine Höherbewertung sachgerecht. Sie sei körperlich nur eingeschränkt belastbar und leide beim Treppensteigen unter Atemnot. Ein Gesamt-GdB von 50 sei sachgerecht.

Der Beklagte zog daraufhin den Befundschein des B1 bei und holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme bei B2 ein. Dieser bewertete in seiner Stellungnahme vom 08.01.2018 die Gesundheitsstörungen der Klägerin weiterhin mit einem Gesamt-GdB von 30 und legte folgende Einzel-GdB-Werte zugrunde:
- Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule,                
  Bandscheibenschaden, Spinalkanalstenose: Einzel-GdB 20
- Fibromyalgiesyndrom, chronisches Schmerzsyndrom: Einzel-GdB 20
- Bluthochdruck: Einzel-GdB 10
- Allergie, wiederkehrende Nesselsucht (Urticaria): Einzel-GdB 10

Durch Widerspruchsbescheid vom 23.01.2018 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Mit ihrer deswegen am 20.02.2018 erhobenen Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) hat die Klägerin ihr Begehren, die Feststellung eines GdB von 50, weiterverfolgt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihr Widerspruchsvorbringen wiederholt und ergänzend ausführlich zu den Symptomen und Auswirkungen der Fibromyalgie Stellung genommen.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.

Der Facharzt B1 hat mit Schreiben vom 25.04.2018 mitgeteilt, die Klägerin stehe bei ihm seit Januar 2011 in regelmäßiger orthopädischer Behandlung und leide an einem chronischen Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren, einem Fibromyalgiesyndrom, einer lumbalen Spinalkanalstenose mit Ischialgie beiderseits, einem Reizzustand Peronealsehne links und einer cranio-mandibulären Dysfunktion. Den Schweregrad des Fibromyalgiesyndroms und des chronischen Schmerzsyndroms hat B1 als „schwer“, die lumbale Spinalkanalstenose mit Ischialgie als „mittel“ und die Peronealsehnenreizung sowie die cranio-mandibuläre Dysfunktion als „leicht“ eingestuft. Mit seiner sachverständigen Zeugenaussage hat er MRT-Berichte des radiologischen Zentrums W vom 13.10.2014 und 15.02.2017, den MRT-Bericht des radiologischen Zentrums S1 vom 29.09.2017 sowie den Bericht des Universitätsklinikums H vom 16.10.2017 vorgelegt.

L vom Universitätsklinikum H – Klinik für allg. Innere Medizin und Psychosomatik - hat unter dem 14.05.2018 angegeben, dass die Klägerin dort einmalig am 16.10.2017 behandelt worden sei. Festgestellt worden seien ein Fibromyalgiesyndrom und eine damit einhergehende Reduktion der allgemeinen Belastbarkeit und Funktionalität der Patientin aufgrund ununterbrochener Schmerzen im ganzen Körper mit Betonung einzelner Bereiche. Den Schweregrad der Gesundheitsstörung hat sie als „mittel“ eingestuft.

B-S hat angegeben, die Klägerin leide unter Herabgestimmtheit und Eigengefährdung durch Kratzen. Den Schweregrad hat sie als „mittel bis schwer“ bezeichnet, eine Aussage zum GdB hat sie nicht getroffen. Sie hat weitere Befundberichte, u.a. den Reha-Entlassungsbericht der S-Klinik  S2 vom 22.12.2017 vorgelegt.

Im Folgenden hat das SG ein Sachverständigengutachten bei W1 eingeholt. W1 hat in seinem Gutachten vom 19.07.2018 angegeben, die Klägerin leide unter einem Fibromyalgiesyndrom, einer chronischen komplexen, multilokulären Schmerzstörung mit muskulären Verspannungen in allen vier Körperquadranten in der oberen und unteren Körperhälfte, auf der linken und rechten Seite. Als Folge der letztlich nicht aufhebbaren Dauerschmerzen habe sich ein sog. algogenes Psychosyndrom eingestellt. In neurologischer Hinsicht hätten sich keine Schädigungen des zentralen oder peripheren Nervensystems, speziell keine radikulären Störungen ergeben. Klinische Zeichen einer Spinalkanalstenose habe er schmerzmedizinisch nicht gefunden. Das Fibromyalgiesyndrom hat W1 mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet, die Wirbelsäulenbeschwerden und die psychischen Beeinträchtigungen durch Dauerschmerzen jeweils mit einem Einzel-GdB von 20. Insgesamt sei der GdB seit Anfang 2017 auf 40 einzustufen.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von H1 vom 30.11.2018 in Bezug auf das Gutachten von W1 ausgeführt, die Diagnosestellung sei aufgrund der subjektiven Darstellung der Beschwerden und Gesundheitsstörungen durch die Klägerin erfolgt, objektivierbare Funktionsbefunde des Bewegungsapparates seien dem Gutachten nicht zu entnehmen, so dass sich eine Höherbewertung des Fibromyalgiesyndroms nicht begründen lasse.

Nach Anhörung der Beteiligten zur beabsichtigten Verfahrensweise hat das SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 04.11.2019 abgewiesen. Zur Begründung hat es gemäß § 136 Abs. 3 SGG Bezug auf die Ausführungen des Beklagten in dem Bescheid vom 28.06.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2018 genommen und ergänzend ausgeführt, auch nach den weiteren Ermittlungen des Gerichts, insbesondere dem Gutachten von W1, bestehe kein Anspruch auf die Feststellung eines höheren GdB als 30. Die Funktionsbehinderungen der Haltungs- und Bewegungsorgane seien mit einem Einzel-GdB von 20 zu beurteilen. Objektivierbare Funktionsbefunde des Bewegungsapparates seien dem Gutachten von W1 nicht zu entnehmen, so dass sich eine Höherbewertung des Fibromyalgiesyndroms bzw. der Beschwerden an der Wirbelsäule über den von dem Beklagten bereits festgestellten Einzel-GdB von 20 hinaus nicht begründen lasse. Wie der Sachverständige ausgeführt habe und sich aus den übrigen medizinischen Unterlagen ergebe, lägen nur geringe bis leichtgradige Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule vor. Der Teilbereich Nervensystem und Psyche sei mit einem GdB von 20 zu bewerten. W1 habe in seinem Gutachten ausgeführt, der Schweregrad des Fibromyalgiesyndroms sei mehr als mittelschwer, allerdings nicht extrem ausgeprägt. Aus den sachverständigen Zeugenauskünften ergebe sich nichts Anderes. Unter Berücksichtigung der festgestellten Einzelwerte von 20 auf nervenärztlichem Gebiet sowie von 20 für die Wirbelsäulenbeschwerden ergebe sich kein höherer Gesamt-GdB als 30, zumal sich das Fibromyalgiesyndrom durch orthopädische und seelische Beeinträchtigung zusammensetze und daher Überschneidungen vorlägen.

Hiergegen hat die Klägerin am 04.12.2019 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Sie begehrt weiterhin die Feststellung eines Gesamt-GdB von mindestens 50. Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges Vorbringen und weist daraufhin, dass der Gutachter W1 in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen sei, dass der GdB 50 betrage. Aus der Entscheidung des SG ergebe sich nicht, aus welchen Gründen von der Einschätzung des Gutachters abgewichen werde. Berücksichtige man die vom Gutachter in Ansatz gebrachten Werte, sei ein GdB von 50 festzustellen. Der GdB von 20 für psychische Beeinträchtigungen durch Dauerschmerz sei zu gering, hier gelte es zu berücksichtigen, dass sie zwischenzeitlich eine Psychotherapie begonnen habe. Unabhängig hiervon rechtfertigten die vom Gutachter aufgestellten Einzel-GdB-Werte von 30, 20 und 20 die Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 50.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 04.11.2019 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 28.06.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2018 zu verurteilen, bei ihr einen GdB von 50 seit dem 23.03.2017 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend. Der Gutachter W1 habe die Erhöhung des Einzel-GdB von 30 für das Fibromyalgiesyndrom nicht durch objektive Befunde begründet und selbst angegeben, dass hinsichtlich der Wirbelsäule nur geringe bis leichtgradige Bewegungseinschränkungen vorlägen, was durch den Entlassungsbericht der S-Klinik vom 22.12.2017 bestätigt worden sei.

Der Senat hat eine sachverständige Zeugenauskunft der P eingeholt, die angegeben hat, die Klägerin leide unter einer Anpassungsstörung und sei durch ihre Schmerzen eingeschränkt. Den Schweregrad hat sie mit mittel bis schwer angegeben.

Im Erörterungstermin vom 10.11.2020 hat die Klägerin vorgetragen, die Psychotherapie im Frühjahr wegen Corona beendet zu haben. Ihre psychischen Probleme äußerten sich auch im privaten Bereich. Sie sei permanent erschöpft und brauche morgens eineinhalb Stunden, um überhaupt in die Gänge zukommen.

Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat G mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. G ist in seinem unter dem 16.06.2021 erstatteten Gutachten (Untersuchungstage: 18.02.2021 Videotelefonie, 02.03.2021 Präsenz) zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesamt-GdB 30 seit dem 23.03.2017 betrage. Den Schweregrad des chronischen Schmerzsyndroms mit verminderter Belastbarkeit und Herabgestimmtheit hat er mit „leicht bis mittelschwer“ und den diesbezüglichen Einzel-GdB mit 30 angegeben. Den Schweregrad der degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule einschließlich Cervicobrachialgie und Spannungskopfschmerz hat er mit „leicht“ angegeben und den Einzel-GdB mit 20 bewertet. Die Beeinträchtigungen durch Allergie, wiederkehrende Nesselsucht sowie Tinnitus hat er als geringfügig eingeschätzt und jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet.


Entscheidungsgründe

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG vom 04.11.2019 sowie die Abänderung des angefochtenen Bescheides des Beklagten vom 28.06.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2018 und die Verpflichtung des Beklagten, bei der Klägerin einen GdB von mindestens 50 festzustellen. Dieses prozessuale Ziel verfolgt die Klägerin statthafterweise gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.

2. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 2 Abs. 1 SGB IX in den bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R, juris; BSG, Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 6/12 R, juris; vgl. Stölting/Greiser in SGb 2015, 135 ff.).

a) Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

b) Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie die Gesetze vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) und 12.12.2019 (BGBl. I S. 2652) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R, juris).

c) Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R, juris).

3. In Anlegung dieser Maßstäbe hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30.

a) Die im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bestehenden Gesundheitsstörungen sind mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen.

aa) Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 beträgt der GdB bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder Folgen psychischer Traumen bei leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen 0 bis 20, bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (beispielsweise ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) 30 bis 40, bei schweren Störungen (beispielsweise schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50 bis 70 sowie mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100.

bb) Die Klägerin leidet – nachdem eine organische Ursache für die von ihr geschilderten Schmerzen nicht feststellbar ist – an einem chronischen Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren. Dies entnimmt der Senat den im wesentlichen übereinstimmenden Feststellungen und Beurteilungen der medizinischen Sachverständigen W1 und G sowie der sachverständigen Zeugenaussage des B1. Soweit die Ganzkörperschmerzen teils ergänzend, teils alternativ diagnostisch als Fibromyalgiesyndrom eingeordnet worden sind (etwa von W1, B1 oder den behandelnden Ärzten im Universitätsklinikum H im Bericht vom 16.10.2017), handelt es sich nicht um ein neben der chronischen Schmerzstörung bestehendes eigenständiges Krankheitsbild, sondern lediglich um eine abweichende diagnostische Einordnung. Diesbezüglich verweist G in seinem Gutachten überzeugend auf Forschungsergebnisse (Egle u.a.: Begutachtung chronischer Schmerzen, 1. Auflage, Elsevier GmbH, München, 2014), nach denen es sich bei der Fibromyalgie nicht um ein umschriebenes Krankheitsbild, sondern um ein pathogenetisches heterogenes Syndrom handelt, wobei Mechanismen der zentralen Stressverarbeitungsstörung eine wesentliche Rolle spielen. Es werden drei Untergruppen differenziert: 1. Polymyalgia rheumatica, 2. Funktionelles Schmerzsyndrom (häufig gepaart mit anankastischer Persönlichkeit bzw. mit Angsterkrankungen), 3. Psychische Störung mit Leitsymptom Schmerz (Somatoforme Schmerzstörung/Somatisierungsstörung, PTBS), wobei das chronische Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren unter 2. fällt. Gegen eine rheumatische Komponente spricht der Arztbrief der Praxis für Rheumatologie und klinische Immunologie vom 14.02.2017, ausweislich dessen laborchemisch kein Anhalt für Entzündungen vorlag. Aus diesen Gründen ist bei der Klägerin aufgrund der Fibromyalgie kein weiterer Einzel-GdB zu bilden (vgl. dazu auch VG, Teil B, Nr. 18.4, wonach das Fibromyalgiesyndrom entsprechend seiner funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen ist).

Das chronische Schmerzsyndrom der Klägerin stellt zwar eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit dar. Jedoch ist der von den VG, Teil B, Nr. 3.7 dafür mit einem GdB von 30 bis 40 eröffnete Bewertungskorridor hier nicht nach oben auszuschöpfen. Vielmehr ist ein GdB von 30 sachgerecht. Bei der Untersuchung durch  W1 befand sich die Klägerin in nur etwas bedrückter Grundstimmung und es ergaben sich Somatisierungsphänomene durch subjektiv erlebte Gleichgewichtsstörungen, Müdigkeit, Erschöpfbarkeit, Energiearmut und Konzentrationsminderung, verbunden mit innerer Gespanntheit und Frieren an den Extremitäten. Im Antrieb wirkte die Klägerin ebenfalls nur etwas vermindert. Auch bei der Begutachtung durch G zeigte sich eine Störung der zentralen Schmerzwahrnehmung. In dem durchgeführten Brief-Symptom-Inventory-Test, mit dem die subjektiv empfundene Beeinträchtigung (psychische Belastung) erfasst wird, hat die Klägerin überdurchschnittliche Werte auf den Skalen Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Unsicherheit im Sozialkontakt, Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivität und Paranoides Denken erzielt.

Eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die mit einem GdB von 40 zu bewerten wäre, haben die Sachverständigen nicht feststellen können. G hat ausgeführt, dass es im Bereich der Schmerzstörungen noch deutlich ausgeprägtere Symptomausprägungen als bei der Klägerin gibt. Dies hält der Senat unter Berücksichtigung der Beschreibung der Grundzüge der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in den Beschreibungen der weiteren Bereiche der Teilhabe gemäß der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) für überzeugend. Hierzu gehören: tägliche Routine durchführen, mit Stress umgehen, Kommunikationsfähigkeit, Mobilität, ein Transportmittel benutzen, ein Fahrzeug fahren, Selbstversorgung, sich waschen, Körperpflege, sich kleiden, essen, trinken, auf Gesundheit achten, häusliches Leben, Wohnraum beschaffen, Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beschaffen, Mahlzeiten vorbereiten, Hausarbeiten erledigen, anderen helfen, mit Fremden umgehen, unbezahlte Tätigkeit, wirtschaftliche Eigenständigkeit, Erholung und Freizeit, Religion und Spiritualität, politisches Leben und Staatsbürgerschaft (vgl. auch Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, 1. Auflage 2012, Bl. 89 f.). Vorliegend hat die Klägerin von einem geregelten Tagesablauf mit Vollzeittätigkeit, Essenszubereitung und Besorgungen berichtet. Sie fährt mit dem Auto zur Arbeit und macht Urlaub. Eine Schmerztherapie wird nicht durchgeführt. Auch die medikamentöse Behandlung der Schmerzen (bisher Ibuprofen 400 mg bis zu fünfmal pro Woche und Novaminsulfon 500 mg ein- bis zweimal am Wochenende) entspricht dem unteren Rand des Behandlungsspektrums.

Soweit B1 das chronische Schmerzsyndrom als „schwer“ eingestuft hat, hält der Senat dies im Hinblick auf die überzeugenden Ausführungen von W1 und G nicht für nachvollziehbar, zumal B1 diese Einschätzung fachfremd abgegeben und keine psychischen Befunde mitgeteilt hat.

Soweit die Klägerin im Rahmen ihrer Berufungsbegründung vorträgt, die psychischen Gesundheitsstörungen seien zu gering bewertet und auf eine zwischenzeitlich begonnene Psychotherapie verweist, führt dies zu keiner anderen Bewertung. Die im Februar 2019 begonnene Psychotherapie wegen Anpassungsstörungen hat sie bereits im März 2020, nach etwas mehr als einem Jahr, beendet. Der Senat verkennt nicht, dass eine über einen längeren Zeitraum durchgeführte, regelmäßig wahrgenommene Psychotherapie durchaus ein Indiz für gesteigerten Leidensdruck sein kann. Jedoch reicht, wie W2 in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.07.2020 zutreffend dargestellt hat, der Umstand, dass eine psychotherapeutische Behandlung durchgeführt wird, allein noch nicht aus, um einen höheren GdB zu begründen, zumal wenn wie hier diese nach einem eher kurzen Behandlungszeitraum wieder beendet wird.

b) Die im Funktionssystem „Rumpf“ bestehenden Gesundheitsstörungen sind mit dem bislang von dem Beklagten angesetzten Einzel-GdB von 20 hinreichend berücksichtigt.

aa) Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 beträgt bei Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität der GdB 0, mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) der GdB 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) der GdB 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) beträgt der GdB 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten der GdB 30 bis 40.

bb) Die Klägerin leidet unter degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und damit einhergehender Cervicobrachialgie und Spannungskopfschmerzen. Der Senat stützt sich diesbezüglich auf die schlüssigen Einschätzungen der Sachverständigen W1 und G. Allein die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule der Klägerin führen allerdings noch nicht zu einem GdB. So hat W1 nachvollziehbar ausgeführt, dass diese im Alter der Klägerin bei praktisch jedem Menschen vorkämen und keine Krankheitsbedeutung besäßen. Allerdings sind die bei der Klägerin vorliegenden geringen bis leichtgradigen funktionellen Auswirkungen entsprechend zu berücksichtigen.

cc) In funktioneller Hinsicht war bei der Klägerin laut dem Reha-Bericht der S-Klinik vom 22.12.2017 im Bereich der Halswirbelsäule eine Rotation bds. von 65° (Normalmaß 60-80°), eine Seitneigung bds. von 25° (Normalmaß 30-40°) sowie ein Kinn-Jugulum-Abstand von 0/17 cm (Normalmaß 0-2/16-24 cm) möglich, so dass eine endgradige Bewegungseinschränkung vorlag. Bei der Untersuchung der Brust- und Lendenwirbelsäule ergab sich ein Schober-Wert von 10/14,5 cm (Normalmaß 10/15 cm) und ein Finger-Boden-Abstand von 20 cm. Die Rotation war nicht eingeschränkt (bds. 65°) und die Seitneigung mit bds. 25° (Normalmaß 30-40°) nur leicht eingeschränkt. Eine anhaltende orthopädische Behandlung erfolgt nicht, was gegen eine Verschlechterung der Einschränkungen spricht. Das hat die Begutachtung durch W1 bestätigt, der die Gelenke im Bereich der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule als eingeschränkt und endgradig schmerzhaft beschrieben und dies als „leichtgradige Funktionseinbußen“ gewertet hat. Zuletzt waren die Gelenke auch bei der körperlichen Untersuchung von G frei beweglich, es lag kein Wirbelsäulen-Klopfschmerz vor und das Lasègue-Zeichen war bds. negativ. Lediglich über dem linken Schultergelenkspalt fand sich ein Druckpunkt mit in den linken Arm ziehenden Schmerzen.

Entgegen der sachverständigen Zeugenaussage von B1 ergaben sich bei der Begutachtung durch W1 in neurologischer Hinsicht keine Schädigung des zentralen oder des peripheren Nervensystems, speziell keine radikulären Störungen und auch keine klinischen Zeichen einer Spinalkanalstenose.

dd) Damit lassen sich in Bezug auf die Wirbelsäule nur endgradige Funktionseinschränkungen an der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule feststellen. Diese geringfügen Einschränkungen bedingen keinen höheren GdB als 20.

c) Im Funktionssystem „Arme“ ergibt sich kein GdB von 10. Soweit G in seinem Gutachten bei der Aufzählung einen GdB von 20 bei „Arme“ angegeben hat, dürfte dieser darauf beruhen, dass sich bei seiner Untersuchung über dem linken Schultergelenkspalt ein Druckpunkt mit in den linken Arm ziehenden Schmerzen fand (Cervicobrachialgie). Allerdings liegen weder Befunde bzgl. einer Bewegungseinschränkung der Arme vor, noch sind seinem Gutachten dazu Ausführungen zu entnehmen. Dass die Klägerin aufgrund ihrer Schmerzsymptomatik nicht mehr längere Zeit Über-Kopf-Arbeiten verrichten kann, wird bereits bei der Bewertung des chronischen Schmerzsyndroms berücksichtigt. Eine GdB-relevante funktionelle Einschränkung der Arme liegt jedoch nicht vor.

d) Die im Funktionssystem „Haut“ zu berücksichtigende Kontakt-Allergie gegen Duftstoffe und die Nesselsucht (aufgrund mechanischer Irritation) können unter Berücksichtigung der Vorgaben nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 keinen höheren GdB als 10 begründen. Die Gesundheitsstörungen sind durch den undatierten Befundbericht von S aus Mai 2017 bestätigt, häufiger auftretende Schübe oder schwer vermeidbare Noxen sind jedoch nicht dokumentiert.

e) Der erstmals bei der Begutachtung durch G vorgetragene Tinnitus kann für das Funktionssystem „Ohren“ unter Berücksichtigung der Vorgaben nach den VG, Teil B, Nr. 5.3 keinen höheren GdB als 10 begründen. Nennenswerte psychische Begleiterscheinungen aufgrund der permanenten Töne im rechten und temporären Töne im linken Ohr sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Das Gehör ist nach Angaben der Klägerin nicht gestört.

f) Im Funktionssystem „Herz-Kreislauf“ liegt kein GdB von 10 vor. Nach den VG, Teil B, Nr. 9.3 ist
Bluthochdruck in leichter Form, d.h. ohne oder nur mit geringen Leistungsbeeinträchtigungen (höchstens leichte Augenhintergrundveränderungen) mit einem Grad der Behinderung von 0-10 zu bewerten. Vorliegend wird der Bluthochdruck der Klägerin nicht mehr medikamentös behandelt, nachdem das Medikament Bisoprolol zu Schläfrigkeit geführt hat und in Absprache mit dem Hausarzt 2017 abgesetzt worden ist. Das entnimmt der Senat dem Befundbericht des Universitätsklinikums H –  vom 16.10.2017 sowie den Angaben zur Medikation im Gutachten des  G. Eine GdB-relevante Beeinträchtigung liegt nicht mehr vor.

g)
Den Gesamt-GdB von 30 hat der Beklagte demnach im Ergebnis zutreffend festgesetzt. Ausgehend von dem höchsten Einzel-GdB von 30 für das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ führen die mit einem Einzel-GdB von 20 bewerteten, leichten Funktionsbeeinträchtigungen für das Funktionssystem „Rumpf“ sowie der mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete Tinnitus nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Behinderung. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass im Bereich der Wirbelsäule nur altersentsprechende degenerative Veränderungen vorliegen und es sich um schmerzbedingte Bewegungseinschränkungen handelt, die sich mit dem chronischen Schmerzsyndrom überschneiden.

 

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

5. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

Rechtskraft
Aus
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