L 9 SO 295/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 127/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 295/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 11/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 18.08.2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für die Behandlung des Patienten W (W.) in ihrem Krankenhaus am 08.03.2019 (Freitag) iHv 166,47 €.

Die Klägerin betreibt das Universitätsklinikum C. Dort wurde der 1964 geborene polnische Staatsangehörige W. seit 2012 mehrfach behandelt. W. ist alkoholabhängig, obdachlos und hält sich jedenfalls seit 2012 immer wieder in C auf. Sozialleistungen bezog W. nicht. Er bestritt seinen Lebensunterhalt durch Betteln. Über weiteres Einkommen und Vermögen verfügte W. nicht. Bei verschiedenen Krankenhauseinlieferungen musste er vom Krankenhauspersonal mit neuer Kleidung und Waschutensilien versorgt werden. W. war weder in Deutschland noch in Polen krankenversichert. Einwohnermelderechtlich ist er nicht erfasst und es erfolgte auch keine Registrierung im Ausländerzentralregister.

Am 08.03.2019 wurde W. um 15.34 Uhr wegen des Verdachts auf einen Herzinfarkt, der eine sofortige Abklärung erforderte, in der Notaufnahme der Klägerin aufgenommen. Die Klägerin führte ein EKG und eine Laboruntersuchung durch, hierfür macht sie Kosten iHv 166,47 € geltend. Der Verdacht bestätigte sich nicht, so dass eine stationäre Aufnahme nicht erfolgte. W. hielt sich ausschließlich in der Notaufnahme auf und wurde bereits am folgenden Samstag wieder entlassen. Die Rechnung der Klägerin beruht auf dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) gem. § 87 Abs. 2 SGB V.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 21.03.2019 ab. Ein Nothelferanspruch nach § 25 SGB XII bestehe nicht, da W. nicht leistungsberechtigt nach dem SGB XII sei. Er verfüge nicht über ein materielles Aufenthaltsrecht und sei daher gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB XII von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen. Die Ausnahmeregelung des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII, wonach Ausländer Leistungen erhalten könnten, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhielten, sei nicht einschlägig, da die Frist erst mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginne und W. zu keiner Zeit einwohnermelderechtlich registriert worden sei. Eine Anspruch des W. auf Überbrückungsleistungen scheide aus, da W. nicht zu einer Rückkehr nach Polen bereit sei.

Die Klägerin legte am 16.04.2019 Widerspruch ein. Wenn W. keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII habe, weil er nicht über ein Aufenthaltsrecht verfüge, sei er leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Dann bestehe ein Erstattungsanspruch gemäß § 6a AsylbLG.

Die Städteregion Aachen wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.07.2019 zurück. Ein Anspruch nach § 25 SGB XII komme nur in Betracht, wenn der Patient selbst leistungsberechtigt nach dem SGB XII sei. Das sei bei W. nicht der Fall, da er nicht über ein materielles Aufenthaltsrecht verfüge und dementsprechend gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB XII von den Leistungen ausgeschlossen sei. Über die Ansprüche nach dem AsylbLG werde in einem gesonderten Verwaltungsverfahren entschieden.

Die Klägerin hat am 14.08.2019 Klage gegen den Bescheid vom 21.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019 erhoben. Bei der Aufnahme des W. habe es sich um einen Notfall gehandelt, ein akutes Infarktgeschehen habe ausgeschlossen werden müssen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme am Freitagnachmittag sei bei der Beklagten niemand zu erreichen gewesen.

Gegen die Ablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG hatte die Klägerin bei dem Sozialgericht Aachen ebenfalls Klage erhoben (S 20 AY 48/19), die sie nach einem richterlichen Hinweis am 06.05.2020 zurückgenommen hat.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019 zu verurteilen, ihr 166,47 € für die Behandlung des Patienten W. am 08.03.2019 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt

die Klage abzuweisen.

Die Klägerin habe keinen Nothelferanspruch nach § 25 SGB XII, da W. selbst nicht anspruchsberechtigt gewesen sei.

Die Beteiligten haben gegenüber dem Sozialgericht ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Mit Urteil vom 18.08.2020 hat das Sozialgericht die Beklagte ohne mündliche Verhandlung unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019 verurteilt, der Klägerin 166,47 € zu zahlen. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihr durch die ambulante Krankenbehandlung des W. am 08.03.2019 als Nothelferin entstanden seien. Die Voraussetzungen des § 25 SGB XII seien erfüllt. Der Sozialhilfeanspruch des Patienten sei begründet, weil die Krankenbehandlung notwendig und W. nicht krankenversichert gewesen sei. Die Kammer gehe aufgrund der ihr bekannt gewordenen Umstände davon aus, dass W. finanziell hilfebedürftig und nicht in der Lage gewesen sei, die Kosten der Krankenbehandlung zu tragen. Er sei nicht nach § 23 Abs. 2 oder Abs. 3 SGB XII von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG habe nicht bestanden, da W. nicht vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei. Der Ausschluss in § 23 Abs. 3 SGB XII greife ebenfalls nicht ein. W. sei Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der EU und damit grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt. Zwar habe ihm ein materielles Freizügigkeitsrecht nicht mehr zugestanden, da er weder über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz noch über ausreichende Existenzmittel verfügt habe. Dies führe jedoch nicht dazu, dass er kein Aufenthaltsrecht mehr besessen habe. Denn der Verlust der Freizügigkeit sei bei W. nicht festgestellt worden. Solange dies nicht der Fall sei, habe der EU-Bürger ein Aufenthaltsrecht und unterliege dem Leistungsausschluss nicht.

Die Beklagte hat am 08.09.2020 die vom Sozialgericht zugelassene Berufung eingelegt. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts komme es für das Bestehen eines Aufenthaltsrechts iSd § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB XII darauf an, ob der Ausländer ein materielles Aufenthaltsrecht habe. Das sei bei W. nicht der Fall, da er nicht iSd § 4 FreizügG/EU über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfüge. W. verfüge auch nicht über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU, da er zu keiner Zeit einwohnermelderechtlich registriert worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 18.08.2020 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Die vom Sozialgericht zugelassene Berufung der Klägerin ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 Abs. 1 SGG).

Die Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019 verurteilt, der Klägerin 166,47 € zu zahlen. Die Bescheide sind rechtswidrig, die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung dieses Betrags.

Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 21.03.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019, mit dem die Beklagte die Kostenübernahme für die Behandlung des W. am 08.03.2019 abgelehnt hat. Die Beklagte hat über den geltend gemachten Nothelferanspruch zu Recht durch Verwaltungsakt entschieden, die Klägerin macht ihren Anspruch zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) geltend. W. war nicht zum Verfahren beizuladen. Dritte sind gem. § 75 Abs. 1 SGG nur notwendig beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Dies ist nicht der Fall, denn die Klägerin macht einen eigenen Anspruch als Nothelferin geltend; eine Entscheidung hierüber greift nicht unmittelbar in die Rechtssphäre des Patienten ein (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 13/12 R).

Der Anspruch der Klägerin beruht auf § 25 Satz 1 SGB XII. Nach dieser Vorschrift sind die Aufwendungen in gebotenem Umfang zu erstatten, wenn jemand in einem Eilfall einem Anderen Leistungen erbracht hat, die bei rechtzeitigem Einsetzen von Sozialhilfe nicht zu erbringen gewesen wären, wenn er sie nicht auf Grund rechtlicher oder sittlicher Pflicht selbst zu tragen hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Beklagte ist sachlich und örtlich für die Leistungserbringung zuständig. Gem. § 97 Abs. 1 SGB XII ist grundsätzlich der örtliche Träger der Sozialhilfe auch sachlich zuständig. Örtlicher Träger der Sozialhilfe sind gem. § 3 Abs. 2 SGB XII die kreisfreien Städte und die Kreise. Landesrechtliche Sonderzuweisungen bestehen nicht (§§ 1 Abs. 1, 2a Abs. 1 AG SGB XII NRW). Gem. § 4 Satz 1 des Städteregion-Aachen-Gesetzes vom 28.02.2008 (GV NRW S. 162) hat die Stadt Aachen die Rechtsstellung einer kreisfreien Stadt, auf sie finden grundsätzlich die Vorschriften über kreisfreie Städte Anwendung. Allerdings regeln gem.      § 6 Abs. 1 Satz 1 des Städteregion-Aachen-Gesetzes die Stadt C und der Kreis Aachen durch öffentlich-rechtliche Vereinbarung den Übergang von Aufgaben der Stadt C auf die Städteregion Aachen. In Anwendung dieser Vorschrift haben die Stadt C und der Kreis Aachen mit Vereinbarung vom 17.12.2007 Sozialhilfeangelegenheiten auf die Städteregion Aachen übertragen. Diese Aufgabe ist wiederum durch § 1 Nr. 1 der Satzung über die Durchführung der Aufgaben nach dem SGB XII in der Städteregion Aachen (SGB XII-Satzung) vom 29.10.2009 auf die Beklagte zurückübertragen worden. Das Widerspruchsverfahren ist gem. § 3 Nr. 2 der SGB XII-Satzung zutreffend durch die Städteregion durchgeführt worden, diese vertritt die Beklagte gem. § 3 Nr. 3 der SGB XII-Satzung im gerichtlichen Verfahren. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten ist gegeben, denn bei einer ambulanten Behandlung ist gem. § 98 Abs. 1 SGB XII auf den tatsächlichen Aufenthalt abzustellen und diesen hatte W. jedenfalls zum Zeitpunkt der Aufnahme in der Klinik der Klägerin in C. Dies würde auch im Falle einer stationären Behandlung gelten, denn zuständigkeitsbegründend ist in Eilfällen, die eine Aufnahme in einer stationären Einrichtung notwendig machen, § 98 Abs. 2 Satz 3 SGB XII, der auf den tatsächlichen Aufenthalt abstellt, selbst wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt des Hilfebedürftigen in einem anderen Zuständigkeitsbereich bestehen sollte (BSG Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R).

Ein Anspruch nach § 25 SGB XII setzt voraus, dass ein beim Nothilfeempfänger bestehender unabwendbarer Bedarf nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des SGB XII unmittelbar durch den Dritten gedeckt wird. Dieses bedarfsbezogene Moment beschreibt die Eilbedürftigkeit des Eingreifens selbst. Weiterhin muss ein sozialhilferechtliches Moment vorliegen, eine rechtzeitige Leistung des Sozialhilfeträgers darf objektiv nicht zu erlangen gewesen sein. Der Anspruch des Nothelfers besteht in Abgrenzung zum Anspruch des Hilfebedürftigen nur, wenn der Sozialhilfeträger keine Kenntnis vom Leistungsfall hat und ein Anspruch des Hilfebedürftigen gegen den Sozialhilfeträger (nur) deshalb nicht entsteht. Ein Eilfall liegt damit nicht vor, wenn Zeit zur Unterrichtung des zuständigen Sozialhilfeträgers verbleibt (BSG Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R). Die Kenntnis des Sozialhilfeträgers bildet damit die Zäsur für die sich gegenseitig ausschließenden Ansprüche des Nothelfers einerseits und des Hilfebedürftigen andererseits (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 13/12 R).

Das bedarfsbezogene Moment ist erfüllt, denn der Verdacht auf einen Herzinfarkt musste sofort abgeklärt werden.

Auch das sozialhilferechtliche Moment lag vor. Es handelte sich um einen Bedarf, der durch Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII zu decken ist. Zum Zeitpunkt der Aufnahme des W. in der Klinik war die Beklagte nicht mehr dienstbereit. Zudem ist jedenfalls bei Zweifeln über den Krankenversicherungsstatus eine Unterrichtung des Sozialhilfeträgers erst an dem der Aufnahme folgenden Werktag geboten (hierzu BSG Urteile vom 12.12.2013 – B 8 SO 13/12 R und vom 23.08.2013 – B 8 SO 19/12 R).

W. hätte bei Kenntnis des Sozialhilfeträgers iSd § 18 Abs. 1 SGB XII selbst einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Kosten gehabt.

Dem steht der Leistungsausschluss gem. § 23 Abs. 2 SGB XII nicht entgegen. Hiernach erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 des AsylbLG keine Leistungen der Sozialhilfe. Es kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob der Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 AsylbLG in der Weise teleologisch zu reduzieren ist, dass EU-Ausländer nicht von der Norm erfasst sind (so LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 30.05.2019 – L 20 AY 15/19 B ER; Bayerischer VGH Beschluss vom 14.05.2020 – 12 CE 20.985; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 25.11.2021 – L 8 SO 207/21 B ER; Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 81; aA LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 16.03.2020 – L 19 AS 2035/19 B ER und vom 16.01.2019 – L 7 AS 1085/18 B; LSG Hessen Beschluss vom 05.02.2015 – L 6 AS 883/14 B ER; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 9). Denn W. war nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG. Die insoweit einzig denkbare Anspruchsgrundlage des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG ist nicht einschlägig. W. war nicht vollziehbar ausreisepflichtig iS dieser Vorschrift. Bürger der Europäischen Union, zu denen W. zählt, haben gem. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach Maßgabe dieses Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsrecht in Deutschland. Dieses Recht endet erst, wenn iSd § 5 Abs. 4 FreizügG/EU der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Dann erst ist ein Unionsbürger gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausreisepflichtig. Eine Verlustfeststellung iSd § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ist gegenüber W. nicht erfolgt.

Der Senat lässt offen, ob W. gem. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung von den Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen war. Danach erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen keine Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege) oder nach dessen Vierten Kapitel (Grundsicherung), wenn sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.

Aufenthaltsrecht im Sinne dieser Vorschrift ist abweichend von der Auffassung des Sozialgerichts ein materielles Aufenthaltsrecht, nicht ausreichend für die Begründung eines Aufenthaltsrechts ist die generelle Freizügigkeitsvermutung für EU-Ausländer, für deren rechtmäßige Einreise nach Deutschland gem. § 2 Abs. 5 FreizüG/EU ein gültiger Pass genügt (BSG Urteil vom 21.03.2019 – B 14 AS 31/18 R mwN). Der Wortlaut der Vorschrift ist zwar offen und lässt auch eine abweichende Interpretation zu (dazu BVerfG Beschluss vom 26.02.2020 – 1 BvL 1/20, in diesem Sinne LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 10.03.2021 – L 20 SO 419/20 B ER). Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift und ihren systematischen Zusammenhängen folgt jedoch, dass nur ein materielles Aufenthaltsrecht einem Leistungsausschluss entgegensteht. Die für das vorliegende Verfahren maßgebliche Fassung wurde eingeführt durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und in der Sozialhilfe nach dem SGB XII vom 22.12.2016 (BGBl I 2016, 3155). Nach der Gesetzesbegründung wird durch die Vorschrift „wie im SGB II, klargestellt, dass Personen ohne materielles Freizügigkeitsrecht oder Aufenthaltsrecht von den Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen sind“ (BT-Drs. 18/10211 S. 16). Der Gesetzgeber hat hiermit Rechtsprechung des BSG aufgegriffen, die zu der Parallelregelung in § 7 Abs. 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 gF ergangen war, in der der Wortlaut der Vorschrift den Leistungsausschluss auf Personen beschränkte, deren Aufenthaltsrecht sich nur aus der Arbeitsuche ergab. Das BSG hatte entschieden, dass dieser Leistungsausschluss „erst recht“ auf Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht anzuwenden war (BSG Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R). Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich diese Auslegung in das SGB II und das SGB XII aufnehmen (BT-Drs. 18/10211 S. 13). Diese Interpretation ist auch systematisch geboten, da andernfalls Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht vor einer Verlustfeststellung und einer daraus resultierenden Ausreisepflicht gegenüber Personen bevorzugt würden, deren Aufenthaltsrecht sich iSd § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 SGB XII allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Denn diese Ausländer sind aufgrund des Wortlauts der Bestimmung auch ohne Verlustfeststellung unstreitig von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen.

Ein materielles Aufenthaltsrecht des W. ist nicht ersichtlich. Als nicht erwerbstätiger Unionsbürger hätte er ein solches gem. § 4 FreizügG/EU nur, wenn er über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen würde. Beides war nicht der Fall.

Offen bleiben kann, ob die Rückausnahme des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII zugunsten des W. eingreift. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 23 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB XII Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XII, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 23 Abs. 3 Satz 8 SGB XII). W. hielt sich zum Zeitpunkt der Behandlung möglicherweise schon fünf Jahre ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf, denn seine erste Behandlung erfolgte bereits im Jahr 2012. Dann würde auch die fehlende melderechtliche Erfassung der Anwendung der Rückausnahme nicht entgegenstehen, weil § 23 Abs. 3 Satz 8 SGB XII jedenfalls in den Fällen teleologisch zu reduzieren ist, in denen eine Meldepflicht nicht besteht (Beschluss des Senats vom 05.05.2021 – L 9 SO 56/21 B ER). Das gilt auch für W., da er als Obdachloser ohne festen Wohnsitz nicht der Meldepflicht unterliegt. Ob tatsächlich ein durchgängiger Aufenthalt seit dem Jahr 2012 bestand, ist jedoch unklar. Die Frage kann offen bleiben, denn selbst wenn W. dem Ausschluss in § 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII unterfallen sollte, hätte er bei Kenntnis des Sozialhilfeträgers einen Anspruch nach § 48 Abs. 1 SGB XII gehabt.

Dieser Anspruch beruht auf § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 6 SGB XII. Danach werden hilfebedürftigen Ausländern, die einem Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen. Die Überbrückungsleistungen umfassen gem. § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 3 SGB XII auch die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen.

Die von der Klägerin durchgeführte Untersuchung gehört zu den Überbrückungsleistungen, denn es handelte sich dabei um eine Leistung zu Behandlung einer akuten Erkrankung. Dem steht nicht entgegen, dass die Untersuchung nur dem Ausschluss einer Erkrankung diente. Bei den Überbrückungsleistungen handelt es sich nicht um eigenständige Leistungen, sondern um Einschränkungen der Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel. Das folgt schon daraus, dass § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 2 und 4 SGB XII auf das Dritte und Fünfte Kapitel verweisen. Darüber hinaus spricht für den einschränkenden Charakter der Überbrückungsleistungen, dass diese andernfalls ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen zu leisten wären, da eine entsprechende Anrechnung in § 19 SGB XII nur für Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel vorgesehen ist. Der Sache nach handelt es sich daher um einen Anspruch nach § 48 SGB XII, beschränkt auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände. § 48 SGB XII umfasst ausdrücklich Leistungen um eine Erkrankung zu erkennen und damit auch die hier streitige Diagnostik.

Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass W. zuvor schon Behandlungen durch die Klägerin in Anspruch genommen hatte. Zwar werden die Überbrückungsleistungen gem. § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII grundsätzlich nur für einen Zeitraum von einem Monat gewährt und nur einmalig innerhalb von zwei Jahren. Nach § 23 Abs. 3 Satz 6 aE SGB XII sind die Leistungen jedoch über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Ein solcher Härtefall liegt hier vor. Der Leistungsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB XII beruht auf dem Gedanken, dass die betroffenen Personen – anders als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG – in ihren Heimatstaaten ohne Gefahr für Leib und Leben wohnen und existenzsichernde Unterstützungsleistungen erlangen können, da in der EU soziale Mindeststandards bestehen, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben (BT-Drucks. 18/10211 S. 14). Bei einer akuten Erkrankung besteht regelmäßig – und so auch hier – jedoch nicht die Möglichkeit, sich in das Heimatland zu begeben und sich dort untersuchen und behandeln zu lassen. Daher ist bei einem Verdacht auf eine akute Erkrankung regelmäßig von einem Härtefall iSv § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII auszugehen, der es ermöglicht, die Überbrückungsleistungen auch mehrfach und für einen längeren Zeitraum zu erbringen.

Ein Ausreisewillen ist für einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen nicht erforderlich (wie hier LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 16.01.2019 – L 7 AS 1085/18 B mwN, vom 30.05.2019 – L 20 AY 15/19 B ER und vom 05. Mai 2021 – L 9 SO 56/21 B ER; aA LSG Baden-Württemberg Urteil vom 07.11.2019 – L 7 SO 934/19, kritisch dazu Siefert in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 23 SGB XII Rn. 100.1).

W. hatte auch keine vorrangigen Ansprüche auf Krankenversorgung, die einen Anspruch nach dem SGB XII ausschließen würden (§ 2 SGB XII). Insbesondere bestand für W. weder in Polen noch in Deutschland eine Krankenversicherung. Das Fehlen eines Krankenversicherungsschutzes in Polen wird durch die entsprechende Erklärung des polnischen Sozialversicherungsträgers gegenüber der Klägerin dokumentiert. Im Hinblick auf die polnische Krankenversicherung könnte diese Frage zudem offen bleiben, denn insoweit greift der Nachrang des § 2 Abs. 1 SGB XII von vornherein nicht. Eine Krankenversicherung im Ausland bietet keinen dem Recht der GKV vergleichbaren unmittelbaren Schutz durch die Inanspruchnahme von Sachleistungen im Inland; ein Kostenerstattungsanspruch, der – insbesondere vor dem Hintergrund der tatsächlichen Koordinationsprobleme – erst noch durchgesetzt werden müsste, reicht für die Anwendung des § 2 Abs. 1 SGB XII nicht aus (BSG Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R).

Auch eine deutsche Krankenversicherung lag nicht vor. Eine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V – andere Versicherungstatbestände scheiden von vornherein aus –bestand nicht, denn W. war als nicht erwerbstätiger polnischer Staatsangehöriger gem. § 5 Abs. 11 Satz 2 SGB V hiervon ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift werden ua Angehörige eines anderen Mitgliedstaates der EU von der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht erfasst, wenn die Voraussetzung für die Wohnortnahme in Deutschland die Existenz eines Krankenversicherungsschutzes nach § 4 FreizügG/EU ist. Die in Bezug genommene Regelung des § 4 Satz 1 FreizügG/EU bestimmt wie ausgeführt, dass nicht erwerbstätige Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt nur haben, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Für den Personenkreis der Unionsbürger, der – wie W. – nur unter der Voraussetzung eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ein Recht auf Einreise und Aufenthalt hat, besteht keine Auffangpflichtversicherung in der GKV. Allein die entsprechende Verpflichtung nach § 4 FreizügG/EU schließt dabei die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V aus; auf eine tatsächliche Absicherung für den Krankheitsfall kommt es nicht an (BSG Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R).

W. verfügte nicht über Einkommen und Vermögen, um die durch die Behandlung entstanden Kosten abzudecken. Er war alkoholabhängig, obdachlos und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Betteln. In Anbetracht dieser Umstände und der bei den verschiedenen Krankenhausaufnahmen festgestellten völligen Mittellosigkeit kann das Vorhandensein von Einkommen und Vermögen ausgeschlossen werden.

Der Anspruch der Klägerin als Nothelferin ist der Höhe nach auf die Erstattung von Aufwendungen in gebotenem Umfang begrenzt (§ 25 Satz 1 SGB XII). Maßstab für die gebotene Höhe der Aufwendungen sind (im Grundsatz) die Kosten, die die Beklagte bei rechtzeitiger Kenntnis ihrerseits hätte aufwenden müssen; soweit bei Hilfebedürftigkeit und in Kenntnis der Notlage von der Beklagten Hilfe bei Krankheit nach § 48 Satz 1 SGB XII hätte gewährt werden müssen, gelten für die Erbringung dieser Leistungen die Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB V (Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern) entsprechend (vgl. § 52 Abs. 3 Satz 1 SGB XII). Auch für den Bereich der Nothilfe richtet sich das Kostenerstattungsbegehren also nach den Vorschriften des SGB V; eine Zulassung des Nothelfers als Leistungserbringer nach dem SGB V ist allerdings nicht erforderlich. Um Aufwendungen in gebotenem Umfang iS des § 25 SGB XII handelt es sich jedenfalls dann, wenn die geltend gemachte Vergütung der nach dem SGB V und den sonstigen Normen und Verträgen entspricht (BSG Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R). Das ist hier der Fall, denn die Klägerin hat die Kosten für die Untersuchung des W. nach dem EBM abgerechnet, der für die ambulante Behandlung von Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung gilt. W. wurde lediglich in der Notaufnahme ambulant behandelt, eine stationäre Aufnahme erfolgte nicht, da W. nicht außerhalb der Notaufnahme mit den spezifischen Mitteln eines Krankenhauses behandelt wurde. Es ist keine Aufteilung der Kosten pro rata temporis wie bei einer Fallpauschale erforderlich (vgl. dazu BSG Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R). Die abgerechneten Kosten waren angefallen, bevor die Beklagte informiert werden konnte.

Die Klägerin hat die Kostenerstattung fristgemäß (§ 25 Satz 2 SGB XII) am 19.03.2019 beantragt. Aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität ist eine Frist von einem Monat angemessen, die regelmäßig mit dem Ende des Eilfalls beginnt (BSG Urteil vom 23.08.2013 – B 8 SO 19/12 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Nothelfer gehört zum kostenprivilegierten Personenkreis nach § 183 SGG (BSG Urteil vom 23.08.2013 – B 8 SO 19/12 R).

Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

 

 

 

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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