S 6 R 222/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 222/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 101/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 8/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Bescheid vom 6. April 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2016 wird insoweit aufgehoben, als hierin die Erstattung der Überzahlung in Höhe von 17.529,60 Euro gefordert wird.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung über eine Forderung in Höhe von 17.529,60 Euro.

Die Klägerin erhielt von der Beklagten ab dem 1. März 2005 – zunächst zeitlich befristet - eine Erwerbsminderungsrente. In ihrem Rentenantrag, den Weiterbewilligungsanträgen sowie auf weiteren Formularen (Bl. 74, Bl. 157, Bl. 215, Bl. 247, Bl. 287 der Akte der Beklagten) gab die Klägerin an, kein Beschäftigungsverhältnis zu haben bzw. keine selbständige Tätigkeit auszuüben.

Durch ein Schreiben der Polizeidirektion C-Stadt vom 5. Mai 2014 erhielt die Beklagte Kenntnis von einem laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Betrugsverdachts (Bl. 292 Beklagtenakte). Hintergrund war die Erzielung von Einkünften aus der Veräußerung von Reitsportartikeln trotz Bezugs der Erwerbsminderungsrente. Daraufhin nahm die Beklagte ihre Ermittlungen auf.

Zwischenzeitlich wurde über das Vermögen der Klägerin mit Beschluss vom 2. Juli 2014 das Privatinsolvenzverfahren eröffnet; der Insolvenzbeschluss wurde am 31. August 2015 aufgehoben. Die Wohlverhaltensperiode von 6 Jahren ist noch nicht abgelaufen (vom 2. Juli 2014 bis voraussichtlich Juli 2020).

Nach Abschluss des strafrechtlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht Eschwege, bei der die Klägerin durch Strafbefehl zu 90 Tagessätzen à 15 € am 11. März 2015 verurteilt wurde, stellte die Beklagte eine Anfrage an das Finanzamt zu der konkreten Höhe der Einkünfte in den Jahren 2007-2014. Das Finanzamt teilte mit Eingang vom 1. Dezember 2015 die jeweiligen Einkünfte mit (vergleiche Bl. 345 der Akte der Beklagten). Die Höhe dieser Einkünfte ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

Daraufhin hörte die Beklagte die Klägerin unter dem 4. Januar 2016 zu der beabsichtigten Aufhebung der Bewilligungsbescheide nach § 45 SGB X für die Jahre Januar 2007 bis Dezember 2010 an. Der Insolvenzverwalter der Klägerin informierte die Beklagte mit Schreiben vom 21. Januar 2016 (Bl. 369 der Beklagtenakte), dass der Geltendmachung der Erstattungsforderung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens entgegen stünde.

Am 6. April 2016 (Bl. 387/hier Bl. 412 der Beklagtenakte) erließ die Beklagte einen Neufeststellungsbescheid über die Rentenhöhe, verbunden mit der Aufhebung der Rentenbescheide vom 21. September 2006 (XXX1); vom 24. August 2007 (XXX2) sowie vom 28. Januar 2010 (XXX3) und der Aufforderung zur Erstattung des streitgegenständlichen Betrages.

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2016 (Bl. 441 der Beklagten Akte) hat die Klägerin am 9. August 2016 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben.

Die Klägerin verfolgt das Klagebegehren, den angegriffenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid aufzuheben, weiter und zwar insbesondere mit der Begründung, dass der Bescheid nichtig sei, weil er nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlassen wurde. Die Erstattungsforderung hätte von der Beklagten rechtzeitig zur Insolvenztabelle angemeldet werden müssen. Eine Geltendmachung außerhalb des Insolvenzverfahrens durch Bescheid sei nicht möglich gewesen.

Die Beklagte vertritt die Ansicht, dass der Bescheid rechtmäßig sei, insbesondere eine Aufrechnung nach § 51 Abs. 2 SGB I möglich wäre und es insoweit unschädlich sei, dass die Erstattungsforderung nicht zur Insolvenztabelle angemeldet worden sei. 

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 6. April 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2016 insoweit aufzuheben, als der zugunsten der Klägerin ergangene Rentenbescheid vom 21. September 2006, betreffend die Monate Januar 2007 bis September 2007, der Rentenbescheid vom 24. August 2007, betreffend die Monate Oktober 2007 bis März 2010 sowie der Bescheid vom 28. Januar 2010, betreffend die Monate April 2010 bis Dezember 2010 zurückgenommen werden und der Klägerin auferlegt wird, einen Betrag in Höhe von 17.529,60 Euro zu erstatten. 

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat überwiegend (im Hinblick auf die Erstattungsentscheidung) Erfolg.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Leistungen ist § 45 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). 
Die Aufhebungsverfügung ist formell rechtmäßig, insbesondere wurde die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung durchgeführt.

Auch materiell-rechtlich ist die Aufhebung nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 SGB X lagen vor, was zwischen den Beteiligten insoweit auch nicht bestritten ist. Die Klägerin kann sich auf Vertrauen im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht berufen, da die Rentenbewilligungen in der jeweiligen ungekürzten Höhe auf vorsätzlichen oder jedenfalls grob fahrlässigen Angaben der Klägerin beruhten, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gewesen sind. Auch die 10-Jahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 4, Satz 3 SGB X wurde beachtet. 

Der Rechtmäßigkeit der Aufhebungsverfügung steht auch der Umstand nicht entgegen, dass über das Vermögen der Klägerin am 2. Juli 2014 ein Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet wurde. Die Kammer schließt sich insoweit der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 09. Oktober 2014 – L 5 AS 673/13 –, juris) an, wonach zwischen der Aufhebungs- und der Erstattungsverfügung zu unterscheiden ist.

Die Beklagte war durch die Vorschriften der InsO nicht gehindert, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Leistungsbewilligung nach § 45 SGB X aufzuheben. Dies gilt selbst dann, wenn die daraus entstehende Forderung als Insolvenzforderung anzusehen ist. Zwar können die Insolvenzgläubiger nach § 87 InsO ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 InsO haben die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen beim Insolvenzverwalter anzumelden. Diese Vorschriften hindern die Leistungsträger jedoch nicht, einen Verwaltungsakt aufzuheben, mit dem einem Schuldner vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Leistungen gewährt worden sind (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, aaO. – juris, Rn 41ff. mit Verweis auf: BVerwG, Beschluss vom 27. Mai 1997 - 3 B 152/96, juris, Rn. 3; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28. Februar 2012 - 1 L 184/11, juris Rn. 8). Die Aufhebung ist ein rechtsgestaltender Akt, der den Erstattungsanspruch durch Beseitigung des Rechtsgrundes für die ursprüngliche Leistung erst entstehen lässt. Die Aufhebungsverfügung stellt als solche nicht die Verfolgung einer Forderung auf Befriedigung aus der Insolvenzmasse dar (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, aaO.; BVerwG, a. a. O.). Dass die verwaltungsverfahrensrechtliche Aufhebung eines Leistungsbescheides auch insolvenzrechtlich zulässig ist, ergibt sich schon daraus, dass anderenfalls ein gegenüber der Insolvenzmasse anzumeldender Rückforderungs- oder Erstattungsanspruch überhaupt nicht entstehen könnte. Eine der Anmeldung zugängliche Forderung ist aber bis zur Aufhebung der Leistungsbewilligung noch nicht existent, weil der Leistung der Rechtsgrund der ursprünglichen Bewilligung zugrunde liegt. Die Aufhebung ist damit zwingende Voraussetzung für das Entstehen einer im Insolvenzverfahren berücksichtigungsfähigen Forderung (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, aaO.; BVerwG, a. a. O.).

Hingegen ist die Erstattungsentscheidung der Beklagten rechtswidrig und somit die Klage begründet. Insoweit war der streitige Bescheid aufzuheben.

Rechtsgrundlage für das Erstattungsverlangen ist § 50 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 SGB X. Nach dieser Vorschrift sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen.

Zwar sind diese Voraussetzungen aufgrund der Aufhebung der maßgeblichen Rentenbescheide für den Zeitraum Januar 2007 bis Dezember 2010 erfüllt. Die Beklagte war jedoch nicht berechtigt, einen Erstattungsbescheid zu erlassen. Denn es handelte sich vorliegend um eine Insolvenzforderung und die Beklagte hatte keine Befugnis, eine solche durch Verwaltungsakt festzustellen.

Insolvenzgläubiger können ihre Forderungen nach § 87 InsO nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Insolvenzforderungen sind nach Maßgabe der §§ 174 ff InsO zur Insolvenztabelle anzumelden. Diese Vorschriften enthalten nicht nur ein Vollstreckungsverbot. Sondern sie hindert die Insolvenzgläubiger schon daran, sich außerhalb des Insolvenzverfahrens einen Titel wegen einer Insolvenzforderung zu verschaffen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 9. Oktober- L 5 AS 673/13-, juris, Rn. 48f. mit Verweis auf: BVerwG, Urteil vom 12. Juni 2003 - 3 C 21/02, juris Rn. 17). Ein Leistungsträger hat deshalb keine Befugnis, zur Durchsetzung einer Insolvenzforderung einen Verwaltungsakt zu erlassen, mit dem eine Forderung festgestellt oder eine Erstattung verlangt wird (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, aaO.; BVerwG, a. a. O., Rn. 16; BSG, Urteil vom 17. Mai 2001- B 12 KR 32/00 R, juris Rn. 14; BFG, Urteil vom 18. Dezember 2002 - 1 R 33/01, juris Rn. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. März 2003 - 1 M 268/02, juris Rn. 17). Insolvenzforderungen sind vielmehr ohne vorherige Bescheiderteilung zur Insolvenztabelle anzumelden (BSG, a. a. O., Rn. 14). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es sich um Masseforderungen iSd § 55 InsO handelt (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 15; BSG, a. a. O., Rn. 15). Der Leistungsträger darf eine Insolvenzforderung nach § 185 Satz 1 InsO erst dann durch Verwaltungsakt feststellen, wenn diese im Prüfungstermin bestritten worden ist (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 16). Eine Umdeutung eines Erstattungsbescheides in einen solchen Feststellungsbescheid (vgl. dazu näher BSG, a. a. O., Rn. 16 und 18) kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn die Behörde die Forderung nicht zur Tabelle angemeldet hat (BVerwG, a. a. O., Rn. 22).

Eine Insolvenzforderung liegt nach § 38 InsO vor, wenn zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein begründeter Vermögensanspruch gegen den Schuldner bestand. Dies ist der Fall, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand bereits vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen worden war (BGH, Beschluss vom 7. April 2005 - IX ZB 129/03, juris, Rn. 15). Die Abgrenzung zwischen Masseverbindlichkeiten und Insolvenzforderungen bestimmt sich danach, ob der den Anspruch begründende Tatbestand nach den Vorschriften des materiellen Rechts bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht worden ist (BFH, Urteil vom 8. März 2012- V R 24/11, juris Rn. 27). Bei öffentlichrechtlichen Forderungen, die auf einer Rückabwicklung einer Leistungsbewilligung beruhen, ist die Forderung regelmäßig begründet, sobald die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Aufhebung des Verwaltungsakts vorliegen. Unerheblich ist, zu welchem Zeitpunkt der Bescheid bekannt gegeben worden ist (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, aaO. mit Verweis auf: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 2. April 2014 - OVG 6 B 16/12, juris Rn. 18 und 21). Hebt die Verwaltung nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens einen Bescheid auf, mit dem für die Zeit vor der Verfahrenseröffnung Leistungen bewilligt und ausgezahlt wurden und fordert sie die Erstattung derselben, handelt es sich damit um eine Insolvenzforderung (vgl. BSG, Urteil vom 30. November 2011 B 11 AL 22/19 R, juris Rn. 13, 15 und 17; BVerwG, Urteil vom 12. Juni 2003 - 3 C 21/02, juris Rn. 15). 

Gemessen an diesen Grundsätzen ist das Erstattungsverlangen der Beklagten rechtswidrig und der angefochtene Bescheid insoweit aufzuheben. Die Überzahlung der Leistungen für 2007 bis 2010 stellt eine Insolvenzforderung dar, da die Leistungen noch vor Insolvenzeröffnung bewilligt und ausgezahlt worden waren. Zum Erlass eines Erstattungsbescheides nach Insolvenzeröffnung war die Beklagte nicht mehr befugt. 
Über eine von der Beklagten immer wieder angeführte Möglichkeit der Aufrechnung nach § 51 Abs. 2 SGB X außerhalb des Insolvenzverfahrens muss vorliegend nicht entschieden zu werden, da durch die Beklagte – unverständlicherweise - eine Aufrechnung nie erklärt worden ist.

Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG berücksichtigt, dass die Klägerin mit ihrer auf die Aufhebung der Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung gerichteten Klage nur teilweise, nämlich nur hinsichtlich der Erstattungsverfügung, obsiegt hat, dies aber im Ergebnis die eigentlich Belastung darstellt und die Abweisung der Klage gerichtet auf die Aufhebungsentscheidung für die Klägerin keine praktische Relevanz hat.

Rechtskraft
Aus
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