L 2 SO 1786/22 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SO 772/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 1786/22 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Mai 2022, mit dem das SG die Antragsgegnerin zeitlich befristet zur Bewilligung von Überbrückungsleistungen vorläufig darlehensweise verpflichtet hat, wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Dem Antragsteller wird ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt P, 72764 Reutlingen bewilligt.



Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat keinen Erfolg.

Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die Verpflichtung durch das Sozialgericht Reutlingen im Beschluss vom 30.5.2022, dem Antragssteller weiterhin Überbrückungsleistungen im Sinne von § 23 Abs. 3 SGB XII vorläufig darlehensweise bis zum Abschluss der Hauptsache, längstens für 6 Monate zu bewilligen. Sie begründet ihre Beschwerde damit, dass der Betreuer des Antragstellers durchaus in der Lage sei, eine Rückkehr nach Rumänien in die Wege zu leiten. Da keine Aussicht darauf bestehe, dass ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland erwirkt werde, mache es keinen Sinn eine Rückreise nach Rumänien zeitlich weiter hinauszuzögern. Aufgrund der Vorkommnisse in den vergangenen Monaten sei nicht damit zu rechnen, dass sich der Zustand des Antragstellers in den nächsten Wochen und Monaten wesentlich ändern werde. Er habe offensichtlich kein Interesse an einer Verbesserung seiner Lebenssituation. Von einer zeitlich befristeten Bedarfslage könne beim Antragsteller nicht mehr die Rede sein. Die Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII lägen deshalb in diesem Fall nicht mehr vor.

Die am 24.6.2022 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingegangene Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, 02.05.2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG] Beschluss vom 14.3.2019 – 1 BvR 169/19 - juris Rn. 15; Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 06.09.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - <beide juris> jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Ausgehend davon hat die Beschwerde der Antragsgegnerin keinen Erfolg. Das SG hat im Ergebnis zutreffend die einstweilige Anordnung erlassen.

Nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist grundsätzlich Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Absatz 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn sie u.a. kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (§ 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII). Hilfebedürftigen Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen; § 23 Abs. 3 S. 3, 1. HS SGB XII). Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist (§ 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII).

Im Streit steht nicht die Art der Leistungen - hier Tagessatz, Übernahme der Nutzungsentschädigung für das Zimmer, soweit sich der Antragsteller noch dort aufhalten sollte, und Krankenversicherungsschutz. Streitig ist allein, ob die Antragsgegnerin im Rahmen der als temporär zu verstehenden Überbrückungsleistungen noch zur weiteren Leistungsgewährung verpflichtet ist. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 5.5.2021 (L 2 SO1324/21 ER-B) den Antragsteller betreffend ausgeführt hat, sind die Leistungen für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht zu decken.
Ob einem Unionsbürger ein materielles Aufenthaltsrecht zusteht, beurteilt sich nach dem FreizügigkeitsG/EU, für alle anderen Ausländer (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) nach dem Aufenthaltsgesetz. Das europarechtlich vorgesehene Instrumentarium zur Beendigung des Aufenthalts eines nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers ist in § 7 Abs. 1 FreizügigkeitsG/EU normiert. Danach sind Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Schon der Wortlaut der Regelung macht zum einen deutlich, dass es einer Feststellung der Ausländerbehörde bedarf, also eine inzidente Prüfung im Versagungsbescheid durch die Sozialleistungsbehörde zumindest nicht zum Verlust des materiellen Aufenthaltsrechts führt; diese muss auch bestandskräftig sein. Eine sozialrechtliche Obliegenheit zur Ausreise, der eine aufenthaltsrechtliche Pflicht nicht entspricht, ist nicht denkbar. Zudem sind auch erwerbs- und mittellose Unionsbürger nicht ausreisepflichtig, solange der Verlust des Aufenthaltsrechts nicht formell festgestellt worden ist (Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII <Stand: 22.12.2020>, Rn. 83 und Rn. 108). Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 26.2.2020 (1 BvL 1/20 - juris Rn. 18, 19) im Anwendungsbereich des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII die fehlende Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht - ggf. im Zusammenhang mit weiteren Umständen - als bedeutsam für die Annahme einer besonderen Härte angesehen. Vorliegend hat die Ausländerbehörde aber die Ausreisepflicht des Antragstellers noch nicht formell festgestellt, sondern den Antragsteller nur angehört. Die Antragsgegnerin kann ihre ausländerrechtliche Einschätzung nach dem oben Gesagten nicht an deren Stelle setzen. Bis zur formellen Feststellung der Ausreisepflicht dürfte die Antragsgegnerin daher zur Erbringung von Überbrückungsleistungen verpflichtet sein.

Ergänzend ist in Bezug auf das Beschwerdevorbringen noch auszuführen, dass es auf einen Ausreisewillen nicht ankommt. Nicht Voraussetzung für die Annahme eines Härtefalls ist bereits nach dem Wortlaut der Regelung, dass sich ein Ausreisewille positiv feststellen lässt. Ein solches Erfordernis widerspräche zudem Sinn und Zweck der Regelung. Denn die Härtefallregelung soll gerade in den Fällen greifen, in denen eine Ausreise binnen eines Monats nicht möglich oder nicht zumutbar ist (Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII <Stand: 22.12.2020>, Rn. 109). Da der Antragsteller unter Betreuung steht, könnte im Übrigen diesen Willen bei festgestellter Ausreisepflicht wohl auch der Betreuer bilden und die Ausreise organisieren.

Von daher war die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG entsprechend.

Wegen Erfolgsaussicht war Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Dieser Beschluss kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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