S 4 R 20/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 20/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 127/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 69/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

1.    Die Klage wird abgelehnt.

2.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe einer Rente nach dem Fremdrentengesetz, konkret um die rentenrechtliche Bewertung von in Polen verbrachten Zeiten zwischen April 1960 und September 1962.

1. Der Kläger wurde im November 1933 in Polen geboren, wo er im hier streitigen Zeitraum verschiedene Tätigkeiten ausübte. Er kam im April 1987 in die Bundesrepublik, wo er nie gearbeitet hat. Seit November 1993 bezieht er eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit von der Beklagten, die derzeit ca. 1.500 € beträgt. 
a. In mehreren vorangegangenen Klageverfahren konnten letztlich die Zeiten ab 28.8.1962 bis zur Einreise in die BRD geklärt werden. Auf der Basis eines außergerichtlichen Vergleichs berechnete die Beklagte mit Bescheiden vom 8. und 9. Februar 2011 die Rentenansprüche für den Zeitraum November 1993 bis Dezember 2005 bzw. ab Januar 2006 neu und gewährte rückwirkend ab Januar 2001 Nachzahlungen.
Gegen die beiden Bescheide zur Umsetzung des Vergleichs legte der Kläger im Februar 2011 Widerspruch ein. Dabei machte er u.a. geltend, dass Zeiten vom 19.8.1953 bis 1.4.1954, vom 6.4.1960 bis zum 30.6.1960, vom 1.8.1960 bis 21.10.1961 und vom 15.5.1962 bis 9.10.1964 als nachgewiesene Beitragszeiten mit 6/6 statt wie bisher als glaubhaft gemacht mit 5/6 anerkannt werden müssten. Weiter seien Zeiten vom 31.8.1951 bis 1.11.1951 und vom 1.9.1954 bis 30.6.1957 bisher zu Unrecht gar nicht berücksichtigt worden.
Die Beklagte wies den Widerspruch gegen die Bescheide vom 8. und 9. Februar 2011 mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2011 zurück. Dagegen erhob der Kläger am 13. Juli 2011 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden, die seine Bevollmächtigte am 24. September 2012 zurücknahm (Aktenzeichen S 9 R 292/11). 
b. Außerdem bewertete die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die Bescheide vom 8. und 9. Februar 2011 hinsichtlich der bisher nicht streitbefangenen Zeiten vor dem 28.8.1962 als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X.
Mit angegriffenem Bescheid vom 4. Oktober 2011 berechnete sie die Rente des Klägers ab November 1993 neu und gewährte sie für die Zeit ab Januar 2007 eine Nachzahlung. Im Übrigen seien „die bisherigen Bescheide“ nicht nach § 44 SGB X aufzuheben. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 2012 bestätigte sie ihre Entscheidung. 

2. Gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2012 hat der Kläger am 18. Januar 2012 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben. 
Im Juni 2013 hat der Kläger einen erneuten Antrag nach § 44 SGB X gestellt, mit dem er die Neubewertung der Zeiten zwischen dem 31.8.1951 und dem 27.9.1962 als nachgewiesen zu 6/6tel begehrt hat. Mit Bescheid vom 24. Juli 2013 und Widerspruchsbescheid vom 11. November 2013 hat die Beklagte eine Rücknahme ihrer vorgegangenen Bescheide abgelehnt. Zu den Zeiten zwischen April 1960 und September 1962 sei ein Klageverfahren vor dem SG Wiesbaden anhängig; diese Zeiten könnten daher nicht nach § 44 SGB X überprüft werden, seien nicht Gegenstand des Bescheides, der Widerspruch insoweit unzulässig. Die Überprüfung hinsichtlich der Zeiten zwischen August 1951 und November 1959 habe ergeben, dass die Rente in zutreffender Höhe festgestellt worden sei, die rentenrechtlichen Zeiten seien nicht anders als bisher zu bewerten. 

Die Bevollmächtigte des Klägers verweist zur Klagebegründung auf das Deutsch-Polnische Sozialversicherungsabkommen von 1975. Dieses Abkommen sei für den Kläger anwendbar, weil er vor Januar 1991 nach Deutschland gezogen sei; es sehe eine Bewertung von in Polen zurückgelegten Zeiten zu 6/6tel vor. Eine lückenlose Beitragszahlung sei nachgewiesen. Der Kläger hat seine Klage im Erörterungstermin damit begründet, dass seine bisherigen Überprüfungsanträge stets zu einer Erhöhung der Rente geführt hätte. Er begehre eine gerechte Bewertung der Zeiten und die Anwendung des Gesetzes. 

Die Bevollmächtigte des Klägers beantragt zuletzt (Bl. 71 der Gerichtsakte), 
den Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2012 dahingehend abzuändern, dass die Beklagte verurteilt wird, die im Widerspruchsbescheid genannten Zeiten von 1960 bis 1962 als nachgewiesen anzuerkennen und zu Gunsten des Klägers eine Neufeststellung und Nachzahlung der Rente für die Zeit ab dem 1. Januar 2007 sowie die entsprechende Verzinsung der sich ergebenden Nachzahlung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf ihre Bescheide. Der Kläger erhalte bereits die maximal mögliche Rente. Die Rente sei unter Anwendung des Deutsch-Polnischen Sozialversicherungsabkommens von 1975 berechnet worden. Auch nach dieser Vorschrift komme es aber zur Kürzung um ein Sechstel, wenn – wie im Fall des Klägers – die Beitrags- oder Beschäftigungszeiten nicht nachgewiesen, sondern nur glaubhaft gemacht sind.

Das Gericht hat am 4. November 2016 einen Erörterungstermin durchgeführt. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) erklärt. 

Die Verwaltungsakten der Beklagten (Band I bis XXXV, Bl. 5575) lagen dem Gericht vor. Auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte wird ergänzend verwiesen.


Entscheidungsgründe

1. Streitgegenstand ist nicht nur der Bescheid vom 4. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2012, sondern gem. § 96 Abs. 1 SGG auch der nachfolgende Bescheid vom 24. Juli 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2013. 
Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt, der nach Klageerhebung erlassen wird und den angefochtenen Bescheid abändert oder ersetzt, automatisch Gegenstand des Klageverfahrens. Dies gilt nach der überzeugenden Rechtsprechung des BSG auch für Verwaltungsakte, mit denen die Beklagte es während eines Gerichtsverfahrens ablehnt, auf einen Antrag nach § 44 Abs. 1 SGB X hin tätig zu werden (Überprüfungsbescheid). Denn nur die Einbeziehung in das laufende Verfahren verhindert, dass über denselben Streitgegenstand mehrere gerichtliche Verfahren nebeneinander geführt und widersprechende Entscheidungen getroffen werden (BSG, Urt. v. 20.10.2010 - B 13 R 82/09 R -, juris, Rn. 23).
Der Überprüfungsbescheid vom 24. Juli 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2013 hat denselben Regelungsgehalt wie der ursprünglich mit der hiesigen Klage angegriffene Bescheid vom 4. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2012. Denn beide Bescheide regeln die Höhe der seit November 1993 gezahlten Altersrente des Klägers. Nur die Verfügung über die Rentenhöhe ist eine Regelung und damit ein Verwaltungsakt nach § 31 S. 1 SGB X, während die der Rentenhöhe zugrundeliegenden rentenrechtlichen Zeiten insoweit lediglich unselbständige Begründungselemente sind (vgl. BSG, Urt. v. 21.9.1966 - 11 RA 189/64 -, juris, Rn. 15). Sobald ein Rentenbescheid erlassen wurde, finden daher (grundsätzlich) keine eigenständigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zum Versicherungsverlauf mehr statt; gleichzeitig sind in jedem Streit über die Rentenhöhe alle versicherungsrechtlichen Zeiten als Begründungselemente zu überprüfen. 

2. Die Klage ist zum Zeitpunkt der Entscheidung zulässig.
a. Sie war bei ihrer Erhebung am 18. Januar 2012 wegen doppelter Rechtshängigkeit zunächst unzulässig. Denn der hier angegriffenen Bescheid vom 4. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2013 war zunächst nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens zum Aktenzeichen S 9 R 292/11. Jenes Klageverfahren richtete sich gegen die Bescheide vom 8. und 9. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2011, mit denen die Beklagte – zur Umsetzung des gerichtlichen Vergleichs zur Bewertung der Zeiten nach dem 28.8.1962 – die Rente des Klägers seit November 1993 neu berechnet hatte. Auch mit dem hier angegriffenen Bescheid vom 4. Oktober 2011 hat die Beklagte die Höhe der Altersrente des Klägers ab November 1993 neu berechnet, dieses Mal unter Neubewertung der Zeiten vor dem 28.8.1962. Damit hat sie ihre vorangegangenen Bescheide vom 8. und 9. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2011 ersetzt. Denn auch insoweit gilt: Einzelne versicherungsrechtliche Zeiten werden, sobald eine Rente bewilligt wurde, zu unselbständigen Begründungselementen für die Entscheidung über die Rentenhöhe. Die Ausführungen der Beklagten zur rentenrechtlichen Bewertung bestimmter Lebensabschnitte des Klägers sind reine Begründungselemente, denen kein selbständiger Regelungsgehalt zukommt.
Der Kläger hat seine Klage zum Aktenzeichen S 9 R 292/11 am 24. September 2012 zurückgenommen. Die doppelte Rechtshängigkeit war damit beseitigt, die hiesige Klage ist zulässig geworden. 
b. Das Gericht nimmt dagegen nicht an, dass die Klagerücknahme zum Aktenzeichen S 9 R 292/11 auch die hiesige Klage erfasst hat. Denn die Beteiligten waren offenbar irrtümlich davon ausgegangen, dass trotz Rentengewährung eigenständige Verwaltungs- und Klageverfahren zur rentenrechtlichen Bewertung einzelner versicherungsrechtlicher Zeiten geführt werden können. Der Kläger hat zwar die rentenrechtliche Bewertung der Zeiten nach dem 28.8.1962 letztlich akzeptiert, ist aber mit der Bewertung der Zeiten bis zum 28.8.1962 nicht einverstanden.
c. Die Klage ist statthaft als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Sie richtet sich auf die Aufhebung der angegriffenen Bescheide und auf die Verpflichtung der Beklagten, auf die Überprüfungsanträge des Klägers aus dem Februar 2011 und dem Juni 2013 hin ihre Bescheide vom 8. und 9. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2011 nach § 44 SGB X aufzuheben und die Rente des Klägers unter Neubewertung bestimmter Zeiten zwischen dem August 1951 und dem September 1962 neu zu berechnen. 

3. Die Klage ist unbegründet. Zuletzt richtet sie sich noch auf eine Neuberechnung der Rente unter Neubewertung der Zeiten zwischen April 1960 und September 1962. Das Gericht schließt sich hinsichtlich der rentenrechtlichen Bewertung dieser Zeiten den Ausführungen der Beklagten in den Widerspruchsscheiden vom 3. Januar 2012 und vom 11. November 2013 an und macht von der Möglichkeit nach § 136 Abs. 3 SGG Gebrauch, von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abzusehen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
 

Rechtskraft
Aus
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