L 6 SB 3179/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 SB 2695/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3179/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 4. September 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „Bl“ (Blindheit).

Sie ist 1948 geboren und erlitt am 23. Dezember 2017 einen subakuten Infarkt der Arteria cerebri posterioi, der unter anderem zu einer Hemiparese rechts führt. Während der Rehabilitationsbehandlung kam es im März 2018 nach Fleischgenuss zu einer Bolusaspiration mit Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung und Beatmung. Seitdem besteht bei der Klägerin ein minimal bewusster Zustand. Das Betreuungsverfahren wurde wegen fehlender Notwendigkeit einer Betreuung aufgrund der zu Gunsten des Sohnes bestehenden Vorsorgevollmacht eingestellt (Beschluss des Amtsgerichts Freiburg vom 14. März 2018 [148 XVII 358/18]).

Am 24. Mai 2018 beantragte sie – vertreten durch ihren Sohn – bei dem Landratsamt O (LRA) erstmals die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB). Vorgelegt wurde der Entlassungsbericht des O1-Klinikums über die stationäre Behandlung vom 23. Dezember 2017 bis 16. Januar 2018. Eine Mobilisation in den Stand sei erreicht worden, die Verlegung in gutem Allgemeinzustand in die Rehabilitation (Phase-B) erfolgt. Die Rehabilitation wurde in der B-Klinik E bis 3. März 2018 durchgeführt. Nach dem Entlassungsbericht kam es am 3. März 2018 zu einer Bolusaspiration und einem Herz-Atemstillstand mit erfolgter Reanimation, sodass eine Verlegung auf eine Intensivstation zur akutmedizinischen Behandlung erfolgt sei. In der Kernspintomographie (MRT) zeigten sich keine Anhaltspunkte für einen hypoxischen Hirnschaden.

Das LRA zog das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) nach Aktenlage vom 6. Juni 2018 bei, in welchem ein Pflegegrad 5 bei schwerer Vigilanzminderung und komatösem Zustand beschrieben wurde. Aus dem Entlassungsbericht der B-Klinik E über die stationäre Behandlung vom 28. März bis 5. Juni 2018 ergab sich, dass die Klägerin klinisch-neurologisch schwer betroffen gewesen sei und auf Schmerzreize die Augen geöffnet habe. Es habe ein minimally conscious state bestanden.

B sah versorgungsärztlich einen GdB von 100, da eine Hirnschädigung mit schwerster Leistungsbeeinträchtigung und einem apallischen Syndrom bestehe. Derzeit erfolge die Entwöhnung vom Beatmungsapparat, die Merkzeichen „B“ (ständige Begleitung), „H“ (Hilflos), „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „RF“ (Rundfunkgebührenermäßigung) würden empfohlen. Hinsichtlich des Merkzeichens „Bl“ sei ein Gutachten erforderlich.

Mit Bescheid vom 27. September 2018 stellte das LRA daraufhin einen GdB von 100 und die Merkzeichen „G“, „B“, „H“, „aG“ und „RF“ fest. Die Merkzeichen „Gl“ (Gehörlos) und „TBl“ (Taubblind) wurden abgelehnt.

Der Landesarzt für Sehbehinderte und Blinde in Baden-Württemberg, R, führte in seinem augenärztlichen Gutachten nach Aktenlage vom 25. Oktober 2018 aus, dass keine Angaben zum morphologischen Befund der Augen vorhanden seien. Eine direkte Schädigung oder eine Veränderung der Augen selbst seien nicht nachgewiesen, aber auch unwahrscheinlich. Nach dem 3. März 2018 sei keine Wahrnehmung mehr beschrieben worden, bei beidseits vorhandener direkter und konsensueller Pupillenlichtantwort erscheine aber eine vollständige Erblindung unwahrscheinlich. Eine Reduktion des Sehvermögens auf eine Sehschärfe von 1/50 oder weniger sei damit nicht objektiviert: Weder in der Computertomographie (CT) noch in der MRT sei ein hypoxischer Hirnschaden nachweisbar gewesen, auch keine Schädigung der Sehbahn oder der primären Sehrinde. Bei der Klägerin bestehe ein minimaler Bewusstseinszustand, sodass keine gezielte Kommunikation möglich sei und nur sehr eingeschränkte Reaktionen auf äußere Reize zu erhalten seien.

Die Ableitung eines VEP sei nicht unabdingbare Voraussetzung zum Nachweis von Blindheit, da bei einem minimally conscious state mit komatösem Bewusstsein der Befund des VEP pathologisch sein könne, ohne dass dies eindeutig eine Schädigung beweise. Die Befunde an den Augen, der Sehbahn und des Gehirns erklärten eine wesentliche Störung des Sehvermögens nicht.

Nachdem sich B versorgungsärztlich den Ausführungen des R anschloss, lehnte das LRA mit Bescheid vom 30. Oktober 2018 den Antrag auf Feststellung des Merkzeichens „Bl“ ab und führte zur Begründung aus, dass nach dem Gutachten eine Blindheit im Sinne des Gesetzes nicht vorliege.

Gegen den Bescheid ließ die Klägerin Widerspruch erheben und geltend machen, dass es nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) im Verfahren B 9 BL 1/14 R für die Gewährung von Blindengeld dahingestellt bleiben könne, auf welchen Ursachen die Blindheit beruhe, sondern es nur darauf ankomme, dass die Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ fehle.

L hielt versorgungsärztlich an den Einschätzungen fest, sodass das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. März 2019 zurückwies. Zur Begründung führte es aus, dass sich aus den aktenkundigen ärztlichen Unterlagen eine beidseits vorhandene und konsensuelle Lichtreaktion der Pupillen ergebe. Ein hypoxischer Hirnschaden sei durch bildgebende Verfahren ausgeschlossen worden. Anhaltspunkte für eine Schädigung der Sehbahn oder der primären Sehrinde ergäben sich nicht. Auf Basis dieser Befunde habe R in sich schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass Funktionseinschränkungen, die die Feststellung einer faktischen Blindheit im Sinne des Gesetzes begründen könnten, nicht objektivierbar seien. Die zitierten Entscheidungen des BSG beträfen Ansprüche auf Blindengeld, welches nach anderen Voraussetzungen gewährt werde. Im Schwerbehindertenrecht erfüllten eine visuelle Agnosie oder andere gnostische Störungen die Voraussetzungen der Blindheit ausdrücklich nicht.

Am 17. April 2019 hat sie Klage beim Sozialgericht Freiburg erhoben und das Betreuungsgutachten des W für das Amtsgericht K vorgelegt. Danach sei eine Kommunikation mit der Klägerin nicht möglich und sie könne keinerlei Angelegenheiten mehr besorgen. Eine Verständigungsmöglichkeit bestehe nicht. Dieses Unvermögen liege auf Dauer vor, es seien keine Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten gegeben.

Zur weiteren Sachaufklärung als sachverständiger Zeuge gehört, hat W bekundet, dass zunächst eine Behandlung wegen eines linkshirnigen Schlaganfalls erfolgt sei und nach einer Bolusaspiration die Folgen einer schweren hypoxischen Hirnschädigung im Vordergrund gestanden hätten. Bei Entlassung sei der Zustand als minimal bewusst gewertet worden, die Pupillen seien mittelweit gewesen und hätten beidseits auf Licht reagiert. Eine Hypoxie könne zu Schädigungen des Sehapparates führen, wobei sowohl die Netzhaut, die Sehbahn und die primäre Sehrinde betroffen sein könnten. Die bei der Klägerin erhaltene Lichtreaktion weise allerdings darauf hin, dass eine etwaige Blindheit zerebralen Ursprungs sein müsse. Die Diagnose eines hypoxischen Hirnschadens sei durch Anamnese und klinischen Befund gesichert, aus einer Kernspintomographie (MRT) folgten keine klinischen Konsequenzen, sodass eine solche nicht durchgeführt worden sei.

Mit Beschluss vom 9. August 2019 hat sich das Sozialgericht Freiburg für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Karlsruhe (SG) verwiesen. Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 4. September 2020, zu der für die Klägerin niemand erschienen ist, hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass der Begriff der Blindheit im Schwerbehindertenrecht auf Störungen des Sehapparates beschränkt sei und neuropsychologische Störungen des visuellen Erkennens nicht umfasse. Das Begriffsverständnis müsse nicht zwangsläufig deckungsgleich mit dem in anderen Gesetzen sein. Ein vollständiges Fehlen des Augenlichtes liege bei der Antragstellerin nicht vor, da direkte und indirekte Lichtre-aktionen der Pupillen beschrieben seien. Eine Sehschärfenbestimmung sei aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes nicht möglich, sodass bei fehlender Reaktion auf visuelle Reize und fehlender Kommunikationsfähigkeit weder die Sehschärfe noch die Gesichtsfeldfunktion überprüft werden könnten. Diese Beweislosigkeit gehe nach der Rechtsprechung zu Lasten der Klägerin, da ihr die Darlegungs- und Beweislast obliege. Weiterhin sei ein vollständiger Ausfall der Sehrinde nicht objektiviert. Anhaltspunkte für eine vollständige Zerstörung der Sehrinde bestünden nicht. Der Ausschluss gnostischer Störungen aus dem Kreis der blindheitsrelevanten Beeinträchtigungen begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Am 8. Oktober 2020 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie hat ausführen lassen, dass die benannten BSG-Urteile nicht gewürdigt worden seien. Die erste Instanz habe sich zu keinem Zeitpunkt an Recht und Gesetz gehalten. Die BSG-Urteile seien auch für die unteren Instanzen verbindlich und könnten nur vom Gesetzgeber aufgehoben werden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 4. September 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2019 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „Bl“ ab dem 24. Mai 2018 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

 die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung. Das zitierte BSG-Urteil betreffe Ansprüche nach dem Landesblindengeld und im Schwerbehindertenrecht gelte ein engerer Blindheitsbegriff.
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat der Senat mit Beschluss vom 12. Februar 2021 abgelehnt (L 6 SB 311/21 ER).

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl für die Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist, da in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 4. September 2020, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Verpflichtung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „Bl“ unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 18. März 2019 abgewiesen worden ist. Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens sind, worauf der Senat im einstweiligen Rechtsschutz bereits hingewiesen hat, Ansprüche nach dem Landesblindengeldgesetz bzw. auf Blindenhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Hierüber sind weder Verwaltungsentscheidungen ergangen, noch hat das SG hierüber entschieden, sodass dahinstehen kann, inwieweit der Beklagte überhaupt zuständig ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 30. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie kann die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „Bl“ aus Rechtsgründen nicht beanspruchen, sodass das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat.

Die Feststellung von Merkzeichen richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Absatz 1 (§ 152 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird (§ 152 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB IX). Auf Antrag des Menschen mit Behinderung stellen die zuständigen Behörden gemäß § 152 Abs. 5 Satz 1 SGB IX aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über weitere gesundheitliche Merkmale aus.

Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ist im Schwerbehindertenausweis auf der Rückseite das Merkzeichen „Bl“ einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) oder entsprechender Vorschriften ist. Maßgeblich für die Bestimmung des Blindheitsbegriffs im Schwerbehindertenrecht ist gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX (gültig seit dem 1. Januar 2018; zuvor § 159 Abs. 7 SGB IX, dieser wiederum gültig ab dem 15. Januar 2015) Teil A, Nr. 6 der als Anlage zu § 2 der seit dem 01.01.2009 gültigen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) erlassenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) und zwar im Gesetzesrang (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R –, juris, Rz. 12).

Nach den VG, Teil A, Nr. 6, a) ist blind ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist danach und in Übereinstimmung mit § 72 Abs. 5 SGB XII auch ein behinderter Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Gemäß den VG, Teil A, Nr. 6, c) ist blind auch ein behinderter Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen (VG, Teil A, Nr. 6, c).

Nach der neueren Rechtsprechung des BSG, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, ist für faktische Blindheit nicht nur die Beeinträchtigung der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes maßgebend, sondern sind alle Störungen des Sehvermögens zu berücksichtigen, soweit sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleich zu erachten sind. Schon nach dem Wortlaut der Bestimmungen ist es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt ist. Auch zerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d. h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob, bei vorhandener Sehfunktion, nur eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht.

Die Abgrenzung zwischen Erkennen-Können und Benennen-Können berücksichtigt, dass die visuelle Wahrnehmung nach den Erkenntnissen der Psychologie ein mehrstufiger Prozess ist, an dessen Beginn die Umwandlung physikalischer Energie in neural kodierte Information steht, in dessen Verlauf eine innere Repräsentation des Objekts aufgebaut und ein Perzept des äußeren Reizes gebildet und an dessen Ende diesem Perzept durch Identifizieren und Einordnen eine Bedeutung zugewiesen wird (vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 7. Aufl. 1999, S 105 ff, 148 f; Mausfeld, Lexikon der Psychologie, Bd. 4, 2001, S 439 ff. „Wahrnehmung“). Bei Vorliegen umfangreicher zerebraler Schäden ist darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen – möglicherweise ebenfalls eingeschränkten – Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zur faktischen Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten (vgl. BSG, Urteil vom 20. Juli 2005 – B 9a BL 1/05 R –, juris, Rz. 16 f.).

Somit ist zwischen einer Schädigung des Sehorgans (Auge und Sehbahn) sowie einer zerebralen Schädigung (Schädigung der Sehrinde [Rindenblindheit]) zu differenzieren und diese von – den Tatbestand der faktischen Blindheit nicht erfüllenden – Ausfällen beim Benennen-Können abzugrenzen.

Nach diesen Maßstäben liegt bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats keine Schädigung des Sehorgans selbst vor, da eine Pupillenreaktion auf Licht besteht. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des  R, das er im Wege der Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]). Diese erhaltene Lichtreaktion wurde zuletzt von W beschrieben. Eine Einschränkung des Sehvermögens auf weniger als 1/50 ist nicht objektiviert und wohl nicht objektivierbar, nachdem der Gesundheitszustand der Klägerin entsprechende Erhebungen nicht ermöglicht und die sich hieraus ergebende Beweislosigkeit zu ihren Lasten geht, da sie die Darlegungs- und Beweislast trägt (vgl. BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 BL 1/17 R –, juris, Rz. 18).

Letztlich hat R die vorliegenden CT und MRT-Aufnahmen schlüssig dahingehend ausgewertet, dass diese weder einen hypoxischen Hirnschaden noch eine Schädigung von Sehbahn oder primärer Sehrinde erkennen lassen, sodass auch die Voraussetzungen nach den VG, Teil A, Nr. 6, c) nicht vorliegen, die Klägerin damit nicht blind im Sinne des Schwerbehindertenrechts ist. Dass  W dennoch aufgrund der klinischen Symptomatik und dem EEG von einem hypoxischen Hirnschaden ausgeht, reicht für ein gegenteiliges Ergebnis nicht aus, da sich diese Diagnostik weder im MRT noch CT bestätigen ließ, somit nicht objektiviert werden konnte, worauf R und Versorgungsarzt B hingewiesen haben. Dass W keine weitere MRT durchgeführt hat, weil er klinische Konsequenzen daraus verneint hat, rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung. Denn es liegen tatsächlich CT- und MRT-Aufnahmen vor, die einer Auswertung zugänglich waren und eine solche ist durch  R erfolgt (vgl. oben).

Soweit sich R mit Rechtsprechung zum (bayrischen) Blindengeldrecht auseinandersetzt, handelt es sich hierbei schon nicht um medizinische Fragen, die der Beurteilung durch einen Facharzt für Augenheilkunde unterliegen. Diese Auseinandersetzung führt aber auch in der Sache nicht weiter, da nach der Rechtsprechung der Begriff der Blindheit im Sinne des Schwerbehindertenrechts nicht zwangsläufig deckungsgleich mit dem der Blindheit in anderen Gesetzen sein muss. Eine inhaltlich vollständige Übereinstimmung der rechtlichen Voraussetzungen für den Begriff der Blindheit mit denen des Bayrischen Blindengeldgesetzes (BayBlindG), zu dem die von R und im Anschluss von der Klägerin zitierten Entscheidungen des BSG ergangen sind, besteht nicht. Denn anders als das Schwerbehindertenrecht verfolgen die Landesblindengesetze die engere Zielsetzung, laufende blindheitsspezifische, auch immaterielle Bedürfnisse des Blinden zu erfüllen. Eine Gleichstellung ophthalmologischer und neurologischer Beeinträchtigungen bei den gesundheitlichen Merkmalen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „Bl“ ist weder unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten noch aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung geboten (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R –, juris, Rz. 22 f.). Die Entscheidungen zum Landesblindengeld stehen somit der Entscheidung des Beklagten und des SG nicht entgegen, sodass dahinstehen kann, in welchem Umfang eine Bindung an die Entscheidungen besteht.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
Saved