L 11 KR 3396/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 7 KR 510/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 3396/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Vereinbart ein in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versicherter Arbeitnehmer mit seiner Arbeitgeberin und der Krankenkasse das sog Firmenzahlerverfahren, bleibt er grds Schuldner der Beitragsforderungen nach dem SGB V und dem SGB XI. Zahlt die Arbeitgeberin die Beiträge entgegen der Vereinbarung nicht, muss sie der Versicherte zahlen, unabhängig davon, ob die Krankenkasse den Versicherten frühzeitig über das Ausbleiben der Beitragszahlung durch die Arbeitgeberin informiert hat.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 21.09.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger macht die Rückzahlung von ihm unter Vorbehalt gezahlter Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.01.2019 bis 31.05.2019 geltend.

Der Kläger war seit Juni 2017 bei der Firma H-H Werkzeugmaschinen GmbH (Arbeitgeberin) versicherungsfrei beschäftigt und bei der Beklagten zu 1) freiwillig krankenversichert und bei der Beklagten zu 2) pflegeversichert. Der Kläger hatte mit seiner Arbeitgeberin vereinbart, dass diese die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung an die Beklagten abführt (Firmenzahlerverfahren). Für die Zeit ab dem 01.01.2019 entrichtete die Arbeitgeberin keine Beiträge mehr an die Beklagten. Die Beklagte zu 1) erinnerte die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 03.02.2019 und 05.03.2019 an die Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen. Mit Beschluss vom 23.04.2019 wurde über das Vermögen der Arbeitgeberin die vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet.

Mit Bescheid vom 02.04.2019 forderte die Beklagte zu 1) auch im Namen der Beklagten zu 2) den Kläger auf, ab dem 01.01.2019 seine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung selbst an die Beklagten zu zahlen. Der Arbeitgeber habe die Beiträge bis heute nicht gezahlt. Für den Zeitraum von Januar 2019 bis April 2019 wurde die anstehende Zahlung iHv 3.330,52 €, fällig am 15.05.2019, und ab 05.2019 mit monatlich 832,63 € (fällig am 15.06.2016) angegeben. In der beigefügten Übersicht „Ihre Beiträge seit dem 1. Januar 2019“ wurde die Berechnung des monatlichen Beitrags dargestellt. Die Beklagten berechneten aus der Beitragsbemessungsgrenze iHv 4.537,50 € den Beitrag zur Krankenversicherung iHv 662,48 €, den Zusatzbeitrag iHv 31,76 € und den Beitrag zur Pflegeversicherung iHv 138,39 €.

Der Kläger erhob am 18.04.2019 Widerspruch. Im Mai und Juni 2019 entrichtete der Kläger an die Beklagten die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Monate Januar und Februar 2019 in Höhe von 1.665,26 € ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Eine Insolvenzversicherung hat die Beiträge für März, April und Mai 2019 gezahlt, die der Kläger an die Beklagten weitergeleitet hat. Im Einzelnen erfolgten folgende Zahlungen (Kontoübersicht der Beklagten vom 20.06.2020, Seite 30 der Verwaltungsakte):

 

Art

Auftraggeber

Wertstellung

Zahlung

Überweisung

Kläger

05.06.2019

832,63 €

Überweisung

Kläger

27.05.2019

1.665,26 €

Überweisung

Kläger

24.05.2019

1.665,26 €

Summe der Zahlungsein- und -ausgänge

4.163,15  €


Offen blieb eine Forderung der Beklagten iHv 32 € für Säumniszuschläge, zu deren Zahlung sie den Kläger mit Schreiben vom 19.06.2019 aufforderten.

Mit (weiterem) Bescheid vom 19.06.2019 führte die Beklagte zu 1) auch im Namen der Beklagten zu 2) aus, dass der Kläger eine Beschäftigung aufgenommen habe und er mit seinem Arbeitsentgelt über der Versicherungspflichtgrenze liege. Er sei daher ab dem 01.06.2019 freiwillig krankenversichert. Die Beiträge würden aus der Beitragsbemessungsgrenze von zurzeit monatlich 4.537,50 € berechnet. In der Pflegeversicherung sei er pflichtversichert. Der Arbeitgeber übernehme die Zahlung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für den Kläger. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass der Kläger grundsätzlich selbst verpflichtet sei, die Beiträge zu zahlen. Er möge prüfen, ob seine Anteile zur Kranken- und Pflegeversicherung tatsächlich vom Arbeitsentgelt einbehalten werden. Beigefügt war eine Berechnung der monatlichen Beiträge.
Die Beklagte zu 1) wies den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 02.04.2019 auch im Namen der Beklagten zu 2) mit Widerspruchsbescheid vom 06.02.2020 zurück. Die Beklagten seien berechtigt gewesen, vom Kläger für die Zeit vom 01.01.2019 bis 31.05.2019 Beiträge in Höhe von 4.163,15 € zu fordern.

Hiergegen hat der Kläger am 26.02.2020 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und die Rückerstattung des von ihm gezahlten Betrages iHv 1.665,26 € gefordert. Die Beklagten hätten es pflichtwidrig versäumt, ihn auf den Umstand hinzuweisen, dass der Arbeitgeber die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nicht abgeführt habe. Aufgrund dieser fehlenden Information und des Umstandes, dass er - der Kläger - aufgrund der ihm gezahlten Gehälter davon habe ausgehen müssen, dass die Beiträge abgeführt worden seien, habe er nicht rechtzeitig gegenüber seiner Arbeitgeberin tätig werden und diesbezüglich Korrektur herbeiführen können. Es liege ein Anwendungsfall des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vor, da die Beklagten ihn bezüglich der rückständigen Beitragszahlung nicht rechtzeitig informiert, also eine erforderliche Auskunft nicht erteilt hätten. Hierdurch sei es ihm unmöglich gewesen, auf seine Arbeitgeberin dahingehend einzuwirken, dass sie die rückständigen und die laufenden Beiträge entrichte.

Die Beklagten haben vorgetragen, der Anwendungsbereich des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei hier nicht eröffnet. Wenn die Beklagten den Kläger früher auf die mangelnde Abführung der Beiträge hingewiesen hätten, hätte dies nichts an der Rechtsfolge, dass er Beitragsschuldner bleibe und die Beiträge zu entrichten habe, geändert.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.09.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei gemäß §§ 252, 250 Abs 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) selbst zur Zahlung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung verpflichtet, da er freiwillig versichert sei. Denn ein freiwillig Krankenversicherter sei selbst Beitragsschuldner. Nach § 252 Abs 1 Satz 1 SGB V seien die Beiträge, soweit gesetzlich nichts Abweichendes bestimmt ist, von demjenigen zu zahlen, der sie zu tragen habe. Gemäß § 250 Abs 2 SGB V trügen freiwillige Mitglieder den Beitrag zur Krankenversicherung allein. Die abweichenden Regelungen der §§ 253, 255 und 256 SGB V gölten nur für Versicherungspflichtige, nicht für freiwillig Versicherte. Für die Pflegeversicherung ergebe sich gleiches aus den §§ 59 Abs 4 Satz 1, 60 Abs 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Die gesetzliche Risikoverteilung bei der freiwilligen Versicherung gehe dahin, dass der Versicherte Beitragsschuldner sei und bleibe, auch wenn er mit seiner Arbeitgeberin vereinbart habe, dass diese die Beiträge für ihn abführe. Die Arbeitgeberin sei nicht gesetzlich zur Abführung verpflichtet. Diese Verpflichtung obliege nach der gesetzlichen Regelung allein dem Versicherten. Die Arbeitgeberin fungiere nur als Zahlstelle für den Kläger. Das Risiko, dass die Arbeitgeberin die Beiträge nicht entrichte, obwohl sie vom Gehalt abgezogen worden seien, trage das freiwillige Mitglied als Beitragsschuldner (Hinweis auf Sozialgericht Oldenburg, 20.05.2011, S 61 KR 321/10, juris Rn 17 f). Zudem sei weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die von der Beklagten angesetzten Beiträge der Höhe nach nicht richtig seien. Das Gericht habe sich nach eigener Prüfung den Berechnungen der Beklagten im Bescheid vom 02.04.2019 angeschlossen. Daneben könne der Kläger sein Begehren im Ergebnis nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Der Herstellungsanspruch habe zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung, verletzt habe. Ferner müsse zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Schließlich müsse der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können und die Korrektur müsse mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang stehen. Eine Geldleistung könne jedenfalls dann nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches begehrt werden, wenn diese Geldleistung auch im Wege eines Amtshaftungsanspruches geltend gemacht werden könnte (Hinweis auf Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg 22.01.2016, L 4 R 1412/15, juris Rn 31). Vorliegend stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Beklagten den Kläger pflichtwidrig nicht über die nicht erfolgte Abführung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung durch seine Arbeitgeberin informiert hätten. Obzwar der Kläger mit keinem Beratungsbegehren an die Beklagten herangetreten sei, habe beklagtenseits aufgrund der Eigenschaft des Klägers als Beitragsschuldner eine Spontanberatungspflicht dahingehend bestanden, dass sie ihn umgehend über die nicht erfolgte Beitragsabführung seitens seiner Arbeitgeberin informiere, damit er sich mit derselben wegen der ausstehenden Beiträge ins Benehmen setzen und über den Betriebsrat nötigenfalls insolvenzrechtliche Schritte einleiten könne. Jedoch scheitere der Herstellungsanspruch auf Rechtsfolgenseite, da er mit der Rückerstattung der von ihm gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge einen Schadensersatz in Geld geltend mache, der gerade Gegenstand eines Amtshaftungsanspruches aus Art 34 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sein könnte. Über einen solchen Anspruch habe das das SG nicht zu entscheiden. Denn die Prüfung eines Amtshaftungsanspruches sei den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehalten, § 17 Abs 2 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Eine Teilverweisung hinsichtlich des Anspruches aus Amtshaftung an das Landgericht kommt schlechterdings nicht in Betracht (Hinweis auf Bundessozialgericht <BSG> 30.07.2014, B 14 AS 8/14 B, juris Rn 5). Rechtsnachteile entstünden dem Kläger durch die Unzulässigkeit der Teilverweisung nicht. Denn der Regelung in § 17b Abs 1 Satz 2 GVG sei zu entnehmen, dass auch eine Klageerhebung beim unzuständigen Gericht die Rechtshängigkeit mit den dazugehörigen Wirkungen, zum Beispiel der Verjährungshemmung (vgl § 204 Abs 1 Nr 1 BGB), eintreten lasse, und dass dies ebenso für eine vor dem Sozialgericht erhobene Amtshaftungsklage gelte, wenn die Klage - wie vorliegend - daneben auf weitere materielle Ansprüche gestützt werde (vgl. § 213 BGB; Hinweis auf LSG Sachsen 03.11.2016, L 3 AL 163/14, juris Rn 62).

Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 06.10.2021 gegen elektronisches Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 03.11.2021 beim LSG Baden-Württemberg eingelegte Berufung des Klägers. Er macht geltend, dass vorliegend ausnahmsweise die Rückerstattung einer Geldleistung auch Rechtsfolge des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sein könne und damit neben dem Amtshaftungsanspruch auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch bestehe. Er führt aus, dass erst zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der fehlenden Beitragszahlungen des Arbeitgebers zur Kranken- und Pflegeversicherung bezüglich der freiwilligen Mitglieder (der Kläger sei kein Einzelfall) der Insolvenzantrag gestellt und nachfolgend das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. Letzteres mit der Rechtsfolge, dass die Insolvenzversicherung drei Monate rückwirkend, dh für die Monate März, April und Mai 2019 die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung übernommen und an den Kläger ausgezahlt habe, sodass dieser diese an die Beklagten habe weiterleiten können. Wäre der Insolvenzantrag früher gestellt worden, hätte die Insolvenzversicherung die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, unter Berücksichtigung der Dreimonatsfrist, auch für die hier eigentlich streitigen Monate Januar und Februar 2019 nachträglich gezahlt. Hätten die Beklagten somit den Kläger früher darüber informiert, dass sie keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung vom Arbeitgeber mehr erhält, also zB parallel zu den diesbezüglichen Forderungsschreiben und Kontaktaufnahmen gegenüber dem Arbeitgeber, so hätte der Kläger entweder selbst oder über den Betriebsrat etc tätig werden können, was die entsprechende finanzielle Entlastung des Klägers und insbesondere auch die Befriedigung der Beklagten hinsichtlich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zur Folge gehabt hätte. Stattdessen hätten die Beklagten die streitgegenständlichen Beitragsbescheide erlassen und der Kläger habe, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, zur Vermeidung von weiteren Kosten die Beiträge an die Beklagten entrichten müssen. Zu einem auf die Rückerstattung eines Geldbetrages gerichteten Anspruchs sei der sozialrechtliche Herstellungsanspruch also erst aufgrund der Tätigkeit und der Bescheiderteilung der Beklagten geworden. Ursprünglich habe der Kläger einen „Dispositionsschaden" gehabt, weil er durch den Fehler der Beklagten Primäransprüche verloren habe bzw nicht habe geltend machen können und sich nunmehr auf etwaige, vermutlich wertlose Insolvenzansprüche verweisen lassen müsse. Der durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auszugleichende sozialrechtliche Nachteil umfasse auch „Dispositionsschäden" aufgrund des Verlustes oder der Nicht-Geltendmachung von Ansprüchen (Hinweis auf KassKomm/Spellbrink, Vor §§ 13-15 SGB I, Rn 26). Ursprünglich sei der Anspruch des Klägers gegenüber den Beklagten ein Freistellungsanspruch gewesen. Dies habe sich erst geändert, als die Beklagten den Kläger rechtswidrig zur Zahlung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge per Bescheid verpflichtet habe. Dementsprechend werde klägerseits auch eine Herstellung im Rahmen der sozialrechtlich zulässigen Möglichkeiten begehrt, da die Beklagten ihren Beitragsbescheid ganz oder teilweise aufheben und die dann zu Unrecht vereinnahmten Beiträge an den Kläger zurückzahlen könnten.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 21.09.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 02.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2020 aufzuheben und die Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die von ihm für die Zeit vom 01.01.2019 bis 31.05.2019 gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 1.665,26 € zurückzuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht sich die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids zu eigen.

Die Beklagten haben mit Schreiben vom 28.12.2021, der Kläger mit Schriftsatz vom 17.01.2021 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG), ist zulässig.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 02.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2020 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte zu 1) auch im Namen der Beklagten zu 2) Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung vom Kläger für die Zeit ab 01.01.2019 gefordert hat. Der Kläger macht die Rückzahlung bzw Erstattung der von ihm für die Monate Januar und Februar 2019 gezahlten Beiträge in Höhe von 1.665,26 € (2 x 832,63 €) geltend. Zulässige Klageart ist die mit der Anfechtungsklage verbundene Leistungsklage (§§ 54 Abs 1 und 4, 56 SGG). Nicht Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der Kläger auch Säumniszuschläge in Höhe von 32 € zu zahlen hat. Hierüber wurde in dem angefochtenen Bescheid nicht entschieden. Überdies hat der Kläger mit der Klage nur eine Rückerstattung bereits von ihm gezahlter Beträge verlangt, und die von der Beklagten geforderten Säumniszuschläge hat er gar nicht gezahlt.

Die Berufung ist in der Sache unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagten waren berechtigt, die Zahlung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung (auch) für die Monate Januar und Februar 2019 vom Kläger zu verlangen.

Bei der Beitragserhebung in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung unterscheidet das Gesetz zwischen der Tragung und der Zahlung von Beiträgen. Bei der Tragung der Beiträge geht es darum, wer mit den Beiträgen belastet wird, also wirtschaftlich für sie einzustehen hat (Beitragstragung = Beitragslast). Die Vorschriften über die Zahlung der Beiträge regeln die Frage, wer die Beiträge schuldet (Beitragsschuld), sie also zu zahlen bzw abzuführen hat (Becker/Kingreen/Mecke, 8. Aufl 2022, SGB V § 220 Rn 12). Der Kläger war im Verhältnis zur Beklagten Schuldner der streitigen Beitragsforderungen, nicht aber seine Arbeitgeberin. Er war im streitigen Zeitraum freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten zu 1) und bei der Beklagten zu 2) in der sozialen Pflegeversicherung versichert. Aus diesem Grunde hatte er nach § 223 Abs 1 SGB V bzw § 54 Abs 2 Satz 2 SGB XI für jeden Tag der Mitgliedschaft Beiträge zu zahlen, die er nach § 250 Abs 2 SGB V bzw § 59 Abs 4 Satz 1 SGB XI selbst zu tragen und nach § 252 Abs 1 Satz 1 SGB V bzw § 60 Abs 1 SGB XI auch zu zahlen hatte. Die Zahlung sowohl der Krankenversicherungs- als auch der Pflegeversicherungsbeiträge hatte an die Beklagte zu erfolgen (vgl § 252 Abs 2 Satz 2 SGB V bzw § 60 Abs 3 Satz 1 Halbs 1 SGB XI). Trotz der zwischen dem Kläger, seiner Arbeitgeberin und der Beklagten getroffenen Absprache über die Zahlung der Beiträge des Klägers durch dessen Arbeitgeberin ist diese nicht an Stelle des Klägers in die Schuldnerstellung eingetreten. Anhaltspunkte dafür, dass zwischen Kläger und seiner Arbeitgeberin eine Schuldübernahme (§ 414 BGB) vereinbart und durch die Beklagten genehmigt (§ 415 BGB) worden wäre, sind nicht ersichtlich (vgl BSG 23.5.2017, B 12 KR 2/15 R, BeckRS 2017, 118588 Rn 16). Da der Kläger somit zur Zahlung der Beiträge für die Monate Januar bis Mai 2019 - auch in der von den Beklagten festgesetzten Höhe - verpflichtet war, besteht kein Anspruch auf Erstattung bereits gezahlter Beiträge.

Die Beklagten sind auch nicht auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs an der Geltendmachung der Beitragsforderung gegenüber dem Kläger gehindert. Dass die Beklagten den Kläger möglicherweise bereits früher hätten darauf hinweisen müssen, dass die Arbeitgeberin keine Beiträge mehr entrichtet, hindert die Geltendmachung des Anspruchs ihm gegenüber nicht. Der Kläger beruft sich insoweit zu Unrecht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.

Tatbestandlich setzt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch voraus, dass der Sozialleistungsträger auf Grund eines Gesetzes oder eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses eine dem Betroffenen gegenüber obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB I>), verletzt und dadurch dem Betroffenen einen rechtlichen Nachteil zufügt. Auf seiner Rechtsfolgenseite ist der Herstellungsanspruch auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolge gerichtet, die eingetreten wäre, wenn der Versicherungsträger die ihm gegenüber dem Versicherten obliegenden Pflichten rechtmäßig erfüllt hätte. Der Herstellungsanspruch kann einen Versicherungsträger somit nur zu einem Tun oder Unterlassen verpflichten, das rechtlich zulässig ist. Voraussetzung ist also - abgesehen vom Erfordernis der Pflichtverletzung iS einer fehlenden oder unvollständigen bzw unrichtigen Beratung -, dass der dem Versicherten entstandene Nachteil mit verwaltungskonformen Mitteln im Rahmen der gesetzlichen Regelung, also durch eine vom Gesetz vorgesehene zulässige und rechtmäßige Amtshandlung, ausgeglichen werden kann. Umgekehrt bedeutet dies: In Fällen, in denen der durch pflichtwidriges Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil nicht durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden kann, bleibt für die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kein Raum. Mit Hilfe des Herstellungsanspruchs ist der durch ein Fehlverhalten des Leistungsträgers bewirkte Nachteil nur dann auszugleichen, wenn die Korrektur bzw Ersetzung der fehlenden Anspruchsvoraussetzung mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang steht (BSG 11.03.2004, B 13 RJ 16/03 R, BSGE 92, 241-248, SozR 4-2600 § 58 Nr 3, SozR 4-1200 § 13 Nr 1, Rn 24 f mwN). Das vom Kläger erstrebte Handeln muss in seiner wesentlichen Struktur im Gesetz vorgesehen sein (BSG 17.08.2000, B 13 RJ 87/98 R, juris Rn 36).

Ob die Beklagten eine ihnen obliegende Pflicht zur Information des Klägers über die ausgebliebene Zahlung der Beiträge durch die Arbeitgeberin verletzt haben, bedarf keiner Entscheidung. Selbst wenn man eine entsprechende Beratungspflicht der Beklagten annehmen wollte, kann der beim Kläger eingetretene Nachteil nicht durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden. Ein Verzicht der Beklagten auf die Beitragszahlung des Klägers als Kompensation für seine Forderung gegenüber seiner (ehemaligen) Arbeitgeberin stellt keine zulässige und rechtmäßige Amtshandlung dar. Dies würde den beitragsrechtlichen Vorgaben des SGB V und des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) zuwiderlaufen. Es liegt im Interesse der Versichertengemeinschaft, Beiträge vollständig zu erheben; hierzu sind die Beklagten gemäß § 76 Abs 1 SGB IV auch gesetzlich verpflichtet. Vielmehr liegt die fehlende Beitragszahlung durch seine Arbeitgeberin, mit der er das Firmenzahlerverfahren verabredet hat, in seiner Risikosphäre. Auch wenn die Beklagten den Kläger frühzeitig auf das Ausbleiben der Beiträge hingewiesen hätten, hätte sich nichts daran geändert, dass der Kläger die Beiträge schuldet.

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass hinsichtlich eines möglichen Schadensersatzanspruchs in der Form des Anspruchs auf Amtspflichtverletzung nach Art 34 GG iVm § 839 BGB der Rechtsweg zur Zivilgerichtsbarkeit eröffnet ist (Art 34 Satz 3 GG). Wegen § 17 Abs. 2 Satz 2 GVG ist das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit gehindert, hierüber zu entscheiden. Eine Teilverweisung wegen einer Anspruchsgrundlage desselben prozessualen Anspruchs scheidet zwar aus (BSG, 31.10.2012, B 13 R 437/11 B, juris Rn 10; BSG 30.07.2014, B 14 AS 8/14 B, juris Rn 5). Da die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit jedoch für die Entscheidung, ob der Kläger einen Anspruch auf Erstattung von Beiträgen hat, zuständig sind und der Senat hierüber auch unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen entscheidet, bleibt für eine teilweise Verweisung kein Raum.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor. 

Rechtskraft
Aus
Saved