L 11 R 2040/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 190/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2040/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20.05.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente geltend.

Die 1969 geborene Klägerin ist von Beruf Gärtnerin im Berufszweig Baumschule (Abschlussprüfung im Juli 1992). In diesem Beruf arbeitet sie - nach Unterbrechungen - auch derzeit noch, allerdings nur in eingeschränktem Umfang. Ab dem 25.06.2018 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. Sie bezog ab 02.07.2018 Krankengeld und danach bis 21.11.2020 Arbeitslosengeld. Seit dem 22.11.2020 ist sie bei einem Bekannten in einem Umfang von 36 Stunden im Monat angestellt. Vom Landratsamt R wurde ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 zuerkannt (Bescheid vom 08.01.2018).

Im März 2016 wurde bei der Klägerin eine leichte Kolitis (Entzündung) im Dickdarm diagnostiziert. Aus der stationären Behandlung vom 27.03. bis zum 03.04.2017 in den Kreiskliniken R wurde sie nahezu beschwerdefrei entlassen; eine chronische Darmerkrankung hielten die Ärzte des Krankenhauses für unwahrscheinlich (Arztbrief der Kreiskliniken R vom 03.04.2016). Im Juli 2016 stellte sich die Klägerin erstmals bei der V in E vor. Diese führte in ihrem Arztbrief vom 14.07.2016 ua aus, bei der Klägerin bestehe eine Anpassungsstörung mit anhaltender depressiver Symptomatik im Zusammenhang mit einer Somatisierungsstörung bei Zustand nach Betriebsunfall und Trennungssituation. Am 15.10.2017 stürzte die Klägerin beim Tanzen. Bei dem Versuch, den Sturz abzufangen, zog sie sich eine dislozierte, distale Radiusfraktur rechts mit Abriss des Processus styloideus ulnae (handgelenksnaher Bruch der Speiche) zu. Die Verletzung wurde am 17.10.2017 operativ behandelt (Arztbrief der Kreiskliniken R vom 18.10.2017).

Den streitgegenständlichen Rentenantrag stellte die Klägerin am 24.05.2018. Die Beklagte zog ärztliche Befundberichte bzw Arztbriefe bei und ließ die Klägerin in der Ärztlichen Untersuchungsstelle in R durch die V1 untersuchen und begutachten. Die Gutachterin benannte in ihrem Gutachten vom 12.10.2018 mehrere Diagnosen (Anpassungsstörung mit Somatisierung bei psychosozialen Belastungsfaktoren; Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule bei leichten Verschleißerscheinungen mit Seitbiegung und Bandscheibendegeneration ohne neurologisches Funktionsdefizit, ohne Bewegungseinschränkung; noch leichte Minderbelastbarkeit des rechten Handgelenks nach Speichenbruch 10/2017 mit operativer Versorgung und Metallentfernung 06/2018 ohne Bewegungseinschränkung; wiederkehrende Reizerscheinungen des Muskelsehnenweichteilmantels der linken Schulter bei leichtem Engpass-Syndrom, derzeit ohne Beschwerdeangabe; wiederkehrende leichte Darmentzündung, Ausstülpungen der Darmwand im Sinne von Sigmadivertikeln) und kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin als Gärtnerin nur noch unter 3 Stunden arbeiten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aber noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten 6 Stunden und mehr durchführen könne. Sie begründete ihre Leistungsbeurteilung sehr ausführlich und hielt zusammenfassend fest, es bestehe zum einen eine Anpassungsstörung mit den Symptomen der depressiven Verstimmung, Angst und Sorge bezüglich der Zukunft, jedoch auch dem Gefühl, mit den alltäglichen Anforderungen nicht mehr zurechtzukommen. Dies werde noch verstärkt durch die ängstliche Eigenbeobachtung und die Somatisierungsneigung mit einer Überbewertung der vorliegenden körperlichen Störungen. Mit Bescheid vom 17.10.2018 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin ab.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, am 29.10.2018 Widerspruch ein. Da in einem laufenden Klageverfahren (S 9 R 869/18), in dem die Klägerin die Gewährung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme einklagte, ein vom Sozialgericht Reutlingen (SG) in Auftrag gegebenes Gutachten abgewartet werden sollte, regte die Klägerin an, das Widerspruchsverfahren ruhen zu lassen (Schriftsatz vom 14.11.2018). Die Beklagte war hiermit einverstanden (Schreiben vom 19.11.2018). In dem Verfahren S 9 R 869/18 wurden von Amts wegen das Gutachten der A vom 14.12.2018 und auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des L vom 28.03.2019 eingeholt. In diesen Gutachten wurde die Schwere der bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet unterschiedlich beurteilt. Während A die Erfolgsaussichten eines Reha-Verfahrens verneinte, da die Klägerin lediglich ihre (vermeintliche) Erwerbsunfähigkeit dokumentiert haben wolle, hielt L einen Erfolg der Rehabilitation für überwiegend wahrscheinlich. L führte auch aus, momentan sei bereits eine leichte bis mäßige Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten.

Nach Rücknahme der Klage im Verfahren S 9 R 869/18 nahm die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 21.08.2019 das Widerspruchsverfahren wieder auf. Sie teilte mit, sie - die Klägerin - habe sich in der Zeit vom 17.07.2019 bis 16.08.2019 in tagesklinischer Behandlung im ZfP S in E befunden; sie fügte den Arztbrief über diese Behandlung vom 09.10.2019 bei. Darin wird berichtet, dass die Klägerin schnell an ihre Belastungsgrenzen gekommen sei. Ihre Belastbarkeit liege unter 3 Stunden, eine Berentung werde befürwortet. V1 schloss sich dieser Beurteilung nicht an (Stellungnahme vom 29.10.2019). Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2020 als unbegründet zurück.

Am 31.01.2020 hat die Klägerin Klage beim SG erhoben (S 9 R 190/20). Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt. Der R1 hat angegeben, seitens der Orthopädie bestünden keine Bedenken gegen die Ausführung von leichter Tätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mit mindestens 6 Stunden (Schreiben vom 19.03.2020). Die V hat die Diagnosen wie in ihrem Arztbrief vom 14.07.2016 (siehe oben) benannt und ausgeführt, nach ihrer fachärztlichen Beurteilung liege das maßgebliche Leiden auf dem Gebiet der Psychosomatik. Die Klägerin habe eine Reihe von körperlichen Erkrankungen, die die vorliegenden psychiatrischen Diagnosen beförderten (Schreiben vom 20.03.2020). Der M hat zahlreiche Diagnosen aufgeführt und die Auffassung vertreten, der Schwerpunkt der Leiden liege auf dem Gebiet der Psychosomatik. Da ihm die Definition von „leichten" Tätigkeiten nicht geläufig sei, könne er hierzu nichts sagen. Die rechtlichen Spitzfindigkeiten dieser Begrifflichkeiten seien hier aber sicherlich der „Aufhängepunkt“. Die Klägerin sei praktisch nicht in der Lage, körperlich länger als zwei Stunden am Stück zu arbeiten (Schreiben vom 26.03.2020). Der M1 hat die von ihm an einzelnen Behandlungstagen erhobenen Befunde (zuletzt 05.04.2017) aufgeführt und eine psychiatrische Beurteilung für angebracht gehalten (Schreiben vom 30.03.2020). Über die stationäre Behandlung der Klägerin in einer Tagesklinik des ZfP S vom 07.07.2019 bis zum 16.08.2019 hat die Chefärztin der Abteilung Allgemeine Psychiatrie E des ZfP S, Frau H, berichtet. Für sie stehe die somatoforme Schmerzstörung und die deutlich akzentuierte Persönlichkeit, die zu großen Schwierigkeiten in der Tagesklinik geführt habe, im Vordergrund. Diese beiden Störungen schränkten, zusammen mit den somatischen Diagnosen, die Leistungsfähigkeit der Klägerin massiv ein (Schreiben vom 23.06.2020).

Anschließend hat das SG von Amts wegen das Gutachten des B vom 30.12.2020 eingeholt. Darin hat dieser den Gesundheitszustand der Klägerin wie folgt beschrieben: Klinisch wie elektrophysiologisch seien keine wirklich richtungsweisenden, primär organneurologisch begründeten Funktionsstörungen vorhanden. Es bestehe der Verdacht auf psychosomatisch begründete gastrointestinale Beschwerden. Festzustellen seien vielschichtige Persönlichkeitsakzentuierungen bei gleichzeitig niedrigem Persönlichkeitsstrukturniveau. Eine Dysthymia vor dem Hintergrund von jeher entbehrungsreich und sich auch ausgenutzt erlebenden Biographie liege vor. Testpsychologisch hätten sich deutliche Hinweise für auch nicht authentische Beschwerdeanteile beziehungsweise negative Antwortverzerrungen gezeigt. Es ergäben sich sicherlich deutliche qualitative Leistungseinschränkungen: Auszuschließen seien aufgrund der Medikation Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten sowie Tätigkeiten an unmittelbar gefährdenden Maschinen. Ebenfalls auszuschließen seien Tätigkeiten mit Anforderungen an die Konfliktfähigkeit, mit überdurchschnittlich fordernden sozialen Interaktionen, Tätigkeiten unter Zeitdruck, in regelmäßiger nervöser Anspannung und auch Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Eignung zur Teamarbeit. Auch Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht sollten ausgeschlossen bleiben. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten seien dabei möglich. Die Wegfähigkeit der Probandin sei im nervenärztlichen Fachgebiet nicht eingeschränkt. Auch jetzt ließen sich jedoch keine quantitativen Leistungsminderungen bei der Klägerin nervenärztlich herleiten.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG ist ferner der L gutachtlich gehört worden. Dieser hat im Gutachten vom 18.02.2021 folgende Diagnosen gestellt: rezidivierende depressive Störung mit aktuell leichter bis überwiegend mittelgradiger depressiver Symptomatik (F33.1); somatoforme Schmerzstörung - Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule mit Ausstrahlung in die Arme, im Handgelenk, im rechten Kniegelenk sowie über der Achillessehne rechts (F45.4); Colitis ulcerosa mit abdominellen Schmerzen sowie Scapula alata links (flügelartiges Abstehen des Schulterblatts). Bedingt durch die leichte bis überwiegend mittelgradige Depression und die somatoforme Schmerzstörung sei die Klägerin in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Folgende Tätigkeiten seien der Klägerin nicht zumutbar: überwiegend mittelschwere körperliche Arbeiten, Heben/Tragen schwerer Lasten, Tätigkeiten in Akkord und unter erhöhter psychischer Belastung, Arbeiten in Nachtschicht, Arbeiten in Kälte, Nässe, Zugluft, Überkopfarbeiten, Arbeiten mit regelmäßigem Bücken, Knien sowie in ständigem Gehen und ständigem Sitzen. Zudem seien Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr bzw mit engem Kontakt zu Kollegen (zum Beispiel Großraumbüro) aufgrund der dann auftretenden emotionalen Destabilisierung nicht geeignet. Die Klägerin sei in der Lage, unter Beachtung der genannten Einschränkungen eine Erwerbstätigkeit mindestens 6 Stunden Arbeit täglich auszuüben.

Mit Urteil vom 20.05.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Bei der Klägerin seien keine Gesundheitsstörungen nachgewiesen, die so gravierend sind, dass hierdurch eine Leistungsminderung im Ausmaß einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung gegeben wäre. Bezüglich der bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem Fachgebiet stütze sich die Kammer auf die schlüssigen und überzeugend begründeten Gutachten des B sowie des L. Die Sachverständigen hätten ihre Feststellungen auf eine ausführlich erhobene Anamnese gestützt und ihre Beurteilungen orientierten sich an anerkannten Bewertungsmaßstäben. Im Hinblick auf die von L bei der Klägerin diagnostizierte somatoforme Schmerzstörung sei festzustellen, dass allein aus der subjektiven Wahrnehmung von Schmerzen nicht auf ein rentenrelevant eingeschränktes Leistungsvermögen geschlossen werden könne. Das subjektive Empfinden von Schmerzen sei für die Beurteilung des Leistungsvermögens nicht entscheidend. Abzustellen sei vorrangig auf die tatsächlich objektivierbaren Funktionseinschränkungen. Maßgebend hierfür seien der klinische Befund, die Erhebung der Schmerz- und Behandlungsanamnese, die Erfassung der Aktivitäten des täglichen Lebens sowie der sozialen Situation wie auch die Frage, ob die therapeutischen Optionen ausgeschöpft sind. Das Urteil ist der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 09.06.2021 zugestellt worden.

Am 14.06.2021 hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung lässt sie ausführen, es sei bereits mit Schriftsatz vom 10.05.2021 ausgeführt worden, dass die vorgenommenen Einschätzungen der Leistungsfähigkeit sowohl durch Herrn B als auch durch Herrn L nicht nachvollziehbar seien. Beide Gutachter hätten nicht berücksichtigt, dass die Klägerin nicht ausreichend belastbar sei. Insbesondere sei das Durchhaltevermögen der Klägerin erheblich eingeschränkt. Die Klägerin sei in ihrer Kindheit „als Arbeitssklave“ zu ihrem Onkel gegeben worden. Dort habe sie sehr hart in der Landwirtschaft arbeiten müssen, habe keine bzw nur sehr wenig Zuwendung erhalten. Die Klägerin sei mit einer vollschichtigen Tätigkeit völlig überfordert. Eine Teilzeittätigkeit sei vorstellbar, sicherlich aber keine Vollzeittätigkeit. Dem entspreche, dass auch die behandelnde V, in ihrem Bericht vom 20.03.2020 ausgeführt habe, dass bisher sämtliche Versuche einer regelmäßigen Tätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes bei längerem Andauern als 4 Stunden täglich an der verminderten Belastbarkeit bzw neu hinzugetretenen körperlichen Erkrankungen gescheitert seien. Auch im Entlassbericht der S1klinik B1 aus dem Jahr 2016 werde bereits auf die Einbußen der Durchhaltefähigkeit der Klägerin verwiesen. Der behandelnde Facharzt für M1, der die Klägerin nunmehr auch psychiatrisch mitbetreue, habe in seinem Bericht vom 11.05.2021 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin nicht nur eine qualitative, sondern auch eine quantitative Leistungsminderung anzunehmen sei. Die Klägerin habe des Weiteren mitgeteilt, dass nunmehr ein Vorgespräch für eine stationäre bzw teilstationäre Behandlung in der S2-Klinik in Z anstehe. Vor diesem Hintergrund werde angeregt, zunächst diese Behandlung abzuwarten.

Der Senatsvorsitzende hat mit Schreiben vom 28.10.2021 darauf hingewiesen, dass der Senat nach § 153 Abs 4 SGG die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen könne, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Diese Verfahrensweise sei auf Grund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt. Der Umstand, dass ein Vorgespräch der Klägerin für eine stationäre bzw teilstationäre Behandlung in der S2-Klinik in Z anstehe und sich die Klägerin möglicherweise zu einer Behandlung in diese Klinik begeben werde, sei kein Grund, mit der Entscheidung noch zuzuwarten. Schließlich solle die Behandlung den Gesundheitszustand verbessern. Überdies sei nicht entscheidend, welche Krankheit vorliege, sondern ob und inwiefern die Erwerbsfähigkeit der Klägerin gemindert sei. Zu dieser sozialmedizinischen Frage habe das SG Gutachten eingeholt, die der Senat beim derzeitigen Sachstand für überzeugend halte. Die Klägerin hat Gelegenheit erhalten, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens 30.11.2021 Stellung zu nehmen.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat hierauf mit Schriftsatz vom 29.11.2021 erwidert, sie habe das Schreiben des Gerichts vom 28.10.2021 zur Kenntnis genommen. Sie hat einen Bericht über die stationäre Behandlung der Klägerin in der S2 Klinik Z im Zeitraum vom 03.11.2021 bis zum 10.11.2021 vorgelegt und dazu ausgeführt, in diesem Bericht werde die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung und zwar einer gegenwärtig schweren Episode ohne psychotische Symptome gestellt. Auch aus diesem Bericht ergebe sich die nicht vorhandene Belastbarkeit der Klägerin. So habe die Klägerin die stationäre Behandlung abbrechen müssen, weil sie dem stationären Setting und den Mitpatienten nicht habe standhalten können. Die psychotherapeutische Behandlung bei der H1 werde fortgeführt. Die Klägerin stehe auf verschiedenen Wartelisten für die Durchführung einer Psychotherapie bei einem zugelassenen Psychotherapeuten. Wie bereits in der Berufungsbegründung ausgeführt, sei die Klägerin nicht belastbar. Der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich durch die stationäre Behandlung in der S2 Klinik noch weiter verschlechtert. Dies könne die behandelnde V, E bestätigen. Es werde ausdrücklich beantragt, dort einen aktuellen Befundbericht beizuziehen und die Klägerin erneut von Amts wegen nervenärztlich begutachten zu lassen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20.05.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 01.05.2018 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das Urteil des SG für zutreffend.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 25.01.2022 hat die Klägerin bestätigt, bei einem Bekannten als Gärtnerin stundenweise tätig zu sein. Sie sei „Mädchen für alles“. Ihr Arbeitgeber habe Verständnis dafür, dass sie aus gesundheitlichen Gründen an manchen Tagen gar nicht arbeiten könne. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat ausgeführt, die Klägerin habe heute die Praxis des M1 aufgesucht. Dieser habe ihr eine schriftliche Stellungnahme mitgegeben. Aus dieser Stellungnahme hat die Prozessbevollmächtigte, die - wie die Klägerin -  per Videokonferenz an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, zitiert. Danach sei zwar der neurologische Befund stabil geblieben, doch habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin auf psychiatrischem Gebiet verschlechtert.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1, 151 Abs 1 SGG), aber unbegründet. Das SG hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 17.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554). Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Nach dem Ergebnis der vom SG durchgeführten Beweisaufnahme sowie unter Berücksichtigung der im Verwaltungsverfahren durchgeführten Ermittlungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin noch leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeitstäglich sechs Stunden und mehr verrichten kann. Nicht mehr möglich sind ihr mittelschwere körperliche Arbeiten, Heben/Tragen schwerer Lasten, Tätigkeiten in Akkord und unter erhöhter psychischer Belastung, Arbeiten in Nachtschicht, auf Leitern und Gerüsten, in Kälte, Nässe und Zugluft sowie Überkopfarbeiten, außerdem Arbeiten mit regelmäßigem Bücken, Knien sowie in ständigem Gehen und ständigem Sitzen. Zudem sind Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr bzw mit engem Kontakt zu Kollegen (zum Beispiel Großraumbüro) zu vermeiden.

Nach sämtlichen vorliegenden Gutachten und nach Auskunft der behandelnden Ärzte ist das Leistungsvermögen in erster Linie durch Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet eingeschränkt. Zwar wurden bei der Klägerin auch degenerative Veränderungen der Wirbelsäule beschrieben, doch hat der behandelnde Orthopäde Rechenbach gegenüber dem SG angegeben, seitens der Orthopädie bestünden keine Bedenken gegen die Ausführung von leichter Tätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mit mindestens 6 Stunden (Schreiben vom 19.03.2020). Bestätigt wird dies durch die Ausführungen des Sachverständigen B, der auf neurologischem Fachgebiet keine Erkrankungen feststellen konnten. L hat zwar auf das Vorhandensein von Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule mit Ausstrahlung in die Arme, im Handgelenk, im rechten Kniegelenk sowie über der Achillessehne rechts hingewiesen, diese aber der somatoformen Schmerzstörung (F45.4) zugeordnet. Es handelt sich damit um Schmerzen, die durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt werden können. Auf internistischem Fachgebiet liegt allenfalls eine leichte, die Erwerbsfähigkeit nicht tangierende Darmentzündung vor. Diese wurde erstmals im März 2016 festgestellt. Aus der stationären Behandlung vom 27.03. bis zum 03.04.2017 in den Kreiskliniken R wurde die Klägerin nahezu beschwerdefrei entlassen; eine chronische Darmerkrankung hielten die Ärzte des Krankenhauses für unwahrscheinlich (Arztbrief der Kreiskliniken R vom 03.04.2017). Eine Verschlimmerung dieses Befundes ist bislang nicht nachgewiesen. Der Sachverständige B hat den Verdacht geäußert, dass die gastrointestinalen Beschwerden der Klägerin psychosomatisch begründet seien. Da es im Rentenrecht auf die genauen Ursachen von Beschwerden nicht ankommt, sondern die durch Krankheiten oder Behinderungen resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen entscheidend sind, bedarf es keiner Entscheidung, worauf die Beschwerden auf internistischem Fachgebiet tatsächlich beruhen. Eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit ergibt sich daraus jedenfalls nicht.

Auf psychiatrischem Fachgebiet liegen entweder nur eine Dysthymia (so B) oder eine rezidivierende depressive Störung mit leichter bis mittelgradiger depressiver Symptomatik (F33.1) und eine somatoforme Schmerzstörung (so L) vor. Die von den gerichtlichen Sachverständigen gestellten Diagnosen stimmen im Wesentlichen mit den Diagnosen überein, die die Chefärztin der Abteilung Allgemeine Psychiatrie E des ZfP S, Frau H, in ihrer Auskunft vom 23.06.2020 mitgeteilt hat. Ihrer Ansicht nach stehen die somatoforme Schmerzstörung und die deutlich akzentuierte Persönlichkeit im Vordergrund. Auch die im Verwaltungsverfahren gehörte V1 benannte in ihrem Gutachten vom 12.10.2018 als Diagnose eine Anpassungsstörung mit Somatisierung bei psychosozialen Belastungsfaktoren. Die von der behandelnden V im Schreiben vom 20.03.2020 an das SG mitgeteilten Diagnosen auf psychiatrischem Gebiet (rezidivierende depressive Symptomatik, Anpassungsstörung, Somatisierungsstörung, Angst und Depression gemischt, akzentuierte Persönlichkeit) ergeben das gleiche Bild. Die Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet - unabhängig davon, wie sie im Einzelnen zu bezeichnen sind (Dsythymia, depressive Störung, somatoforme Schmerzstörung, Anpassungsstörung mit Somatisierung) - sowie ggf die von B und Frau H angenommene Persönlichkeitsakzentuierung schränken die Fähigkeit der Klägerin zu Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr bzw mit engem Kontakt zu Kollegen (zum Beispiel Großraumbüro) ein, führen aber nach übereinstimmender Auffassung der gerichtlichen Sachverständigen B und L, auf die der Senat die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Klägerin stützt, nicht zu einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht. Ob die Klägerin nur noch leichte Tätigkeiten (so L) oder zusätzlich auch mittelschwere Tätigkeiten (so B) noch sechs Stunden und mehr pro Arbeitstag verrichten kann, ist nicht entscheidungserheblich.

Der Senat ist außerdem davon überzeugt, dass die von den Sachverständigen B und L vorgenommene Einschätzung der Erwerbsfähigkeit auch jetzt noch gültig ist und sich der Gesundheitszustand der Klägerin seitdem nicht verschlechtert hat. Etwas anderes folgt - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch nicht aus dem Arztbrief der S2 Klinik für Psychosomatische Medizin Z vom 10.11.2021, den die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 29.11.2021 vorgelegt hat. Darin wird über den stationären Aufenthalt der Klägerin in der Klinik in der Zeit vom 03.11. bis 10.11.2021 berichtet und als Diagnose ua angegeben: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome F33.2. Bereits die im Arztbrief wiedergegebenen Angaben der Klägerin bei der Aufnahme in die Klinik zeigen, dass sich die Klinik - aus therapeutischer Sicht nachvollziehbar - allein auf die Angaben der Klägerin stützt. So wird dort ausgeführt: „Arbeitsunfall 2014 mit Fraktur des Handgelenks. Danach diverse körperliche und psychische Probleme, Arbeitsunfähigkeit, Wiedereingliederungsversuch und zuletzt Teilzeitstelle.“ Es hat aber weder einen Arbeitsunfall im Jahr 2014 gegeben, noch hat sich die Klägerin bei einem Arbeitsunfall eine Fraktur des Handgelenks zugezogen. Die Verletzung des Handgelenks bzw der Speichenbruch ereignete sich im Jahr 2017 beim Tanzen! Die Klinik geht aber offenbar davon aus, dass die körperlichen und psychischen Probleme der Klägerin im Anschluss („Danach ...“) an den vermeintlichen Arbeitsunfall im Jahr 2014 entstanden sind. Bestätigt wird dies durch die Angaben der Klinik zum bisherigen Verlauf, der wie folgt beschrieben wird: „Seit 2016 in ambulanter Psychotherapie, aktuell Suche nach einem neuen Therapeuten. Zusätzlich psychiatrische Anbindung bei Frau V. 2019 etwa 3-4 Wochen Behandlung in der Tagesklinik in E wegen ähnlicher Symptomatik, danach Burnout.“ Die Diagnose „Bornout“ wurde nur von der Klägerin selbst gestellt. All dies zeigt, dass eine kritische Würdigung der von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden unterblieben ist. So verständlich dies auch aus therapeutischer Sicht sein mag, für den Nachweis einer wesentlichen Verschlimmerung des Gesundheitszustands oder auch nur als Beleg hierfür ist der Bericht der S2 Klinik unbrauchbar.

Dagegen hat der gerichtliche Sachverständige B das umfangreiche Vorbringen der Klägerin zu ihrer Lebensgeschichte und den bisher erfolgten Behandlungen in seinem Gutachten ausführlich dargelegt und mit großer Sorgfalt kritisch gewürdigt. Er hat überzeugend dargelegt, dass die Belastbarkeit der Klägerin in zeitlicher Hinsicht nicht eingeschränkt ist. Dies zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die Klägerin nach einer über 3-stündigen Anfahrt mit dem eigenen Pkw zum Sachverständigen bei diesem eine mehrstündige Untersuchung und Befragung bewältigt hat und anschließend wieder mit dem eigenen Pkw nach Hause gefahren ist (Gutachten Seite 33: „Anmerkung: Hier allerdings im mehrstündigen Untersuchungsgang nach zuvor den Angaben nach vierstündiger Herfahrt alleine mit dem Pkw 200 Kilometer, auch im weiteren gutachterlichen Querschnitt keinerlei Erschöpfung, keinerlei Ermüdung, auch kein Nachlassen der Konzentration“). Dies belegt eine beachtliche Konzentrationsfähigkeit der Klägerin. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin trotz der vorhandenen Beschwerden auch über die notwendige Belastbarkeit für eine mindestens 6-stündige leichte körperliche Arbeit verfügt. Dies folgt ebenfalls aus dem Gutachten des B. Dieser hält iR einer „Zwischenbemerkung“ auf Seite 34 seines Gutachtens fest: „Es erfolgte nun die Anamneseerhebung von 11:50 Uhr nahtlos bis 13:35 Uhr. Sofort spontan im Gespräch, sofort im Kontakt; durchaus auch lebendige Begleitgestik, je nach angesprochenem Thema durchaus auch ausgesprochen nachhaltige Schilderungen. Auch nach langer Anamneseerhebung jetzt keinerlei irgendwie erkennbare Erschöpfung oder Ermüdung, auch kein Nachlassen der zweifellos ungestörten Konzentration. Aber auch irgendeine nach außen hin erkennbare Schmerzbeeinträchtigung fällt so jetzt wirklich nicht auf.“ Die Feststellung, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in zeitlicher Hinsicht nicht eingeschränkt ist, stützt der Senat zudem auf die Gutachten des L und der V1, die beide ebenfalls keine derartige Einschränkung angegeben haben. Das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten der von V1 verwertet der Senat iR des Urkundenbeweises.

Gegen eine Verschlimmerung spricht ferner der Umstand, dass die Klägerin im November 2020 wieder eine Teilzeittätigkeit als Gärtnerin aufgenommen hat. Dies entnimmt der Senat dem im Versicherungsverlauf gespeicherten Daten und den Angaben der Klägerin gegenüber dem Sachverständigen B („Finanziell: Bis vor zwei Wochen ALG 1, aus dem Krankengeld ausgesteuert, ALG beziehe sie nicht, seit zwei Wochen habe sie eine kleine Arbeitsstelle, 451 Euro, als Gärtnerin. Sie sei ja gelernte Gärtnerin beziehungsweise dort sei es aber Hilfstätigkeit“), der die Klägerin am 08.12.2020 untersucht hat, sowie den Ärzten der S2-Kliniken (vgl Entlassbericht vom 10.11.2021: „Von Beruf Gärtnerin, aktuell bei einem Bekannten auf Teilzeitbasis (36 Stunden pro Monat) angestellt. … Sie bekomme kein Hartz IV und lebe derzeit hauptsächlich von ihrem Ersparten und dem Verdienst aus der Teilzeitstelle (wo sie vor allem wegen der Sozialversicherung arbeite).“). In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Klägerin bestätigt, auch derzeit noch in diesem Umfang tätig zu sein.

Die Klägerin ist nach Überzeugung des Senats auch wegefähig im rentenrechtlichen Sinne. Da eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich ist, gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (BSG 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr 2 mwN; 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R). Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos (BSG 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90, SozR 3-2200 § 1247 Nr 10; 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr 2; 14.03.2002, B 13 RJ 25/01 R); das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung. Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Wegefähigkeit sind nicht ersichtlich.

Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80, 24, SozR 3-2600 § 44 Nr 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 5). Die zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Rente wegen Erwerbsminderung nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R). Vom praktisch gänzlichen Fehlen von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die nur mit leichten körperlichen und geistigen Anforderungen verknüpft sind, kann derzeit nicht ausgegangen werden, auch nicht aufgrund der Digitalisierung oder anderer wirtschaftlicher Entwicklungen (BSG 11.12.2019, aaO juris Rn 27). Eine spezifische Leistungseinschränkung liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn eine Versicherte noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80, SozR 2200 § 1246 Nr 90). Viele bei der Klägerin zu machenden Einschränkungen (keine mittelschweren körperlichen Arbeiten, kein Heben/Tragen schwerer Lasten, keine Tätigkeiten in Akkord und unter erhöhter psychischer Belastung, keine Arbeiten in Nachtschicht, auf Leitern und Gerüsten, keine Überkopfarbeiten und keine Arbeiten in ständigem Gehen oder mit regelmäßigem Bücken und Knien) gehen bereits nicht über das hinaus, was mit der Beschränkung auf leichte Arbeiten ohnehin erfasst wird. Im Übrigen kann darauf abgestellt werden, ob das Restleistungsvermögen der Klägerin typische Verrichtungen wie zB Bedienen von Maschinen oder das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen ermöglicht (BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R, BSGE 129, 274, Rn 32). Ein solches Leistungsvermögen ist bei der Klägerin noch vorhanden. Die bei der Klägerin zu machenden qualitativen Leistungseinschränkungen stehen dem nicht entgegen.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Voraussetzung eines solchen Rentenanspruchs ist gemäß § 240 SGB VI, dass sie vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig ist. Da die Klägerin im Jahr 1969 und damit nach dem Stichtag geboren wurde, kommt dieser Anspruch von vornherein nicht in Betracht.

Weiterer Ermittlungen bedurfte es vorliegend nicht. Liegt bereits ein Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn dieses iS von § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 412 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ungenügend ist, weil es grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthält oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters gibt (vgl BSG 12.12.2003, B 13 RJ 179/03 B, SozR 4-1500 § 160a Nr 3 Rn 9 mwN; BSG 20.02.2019, B 10 LW 3/17 B; BSG 03.02.2020, B 13 R 295/18 B). Solche Mängel sind vorliegend nicht ersichtlich. Vielmehr ist der Sachverhalt durch die Berichte der behandelnden Ärzte sowie die Gutachten des B sowie des L vollständig aufgeklärt; die Unterlagen bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats und haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO).

Die Ausführungen des M1 in seinem Attest vom 25.01.2022, aus dem die Prozessbevollmächtigte der Klägerin zitiert hat, geben ebenfalls keinen Anlass für weitere Ermittlungen. Es wurde nicht vorgetragen, dass M1 seine Befunde mit den Befunden vergleichen konnte und verglichen hat, die von den gerichtlichen Sachverständigen erhoben wurden. Daher lässt sich nicht erkennen, inwiefern insoweit eine Verschlimmerung eingetreten sein soll. Auch der Vortrag der Klägerin, sie sei einem stationären Setting im Rahmen einer tagesklinischen Behandlung nicht gewachsen, war den Sachverständigen B und L bekannt und wurde daher bei der Sachverhaltsaufklärung bereits berücksichtigt. Der weitere Vortrag der Klägerin, die psychotherapeutische Behandlung bei der H1 werde fortgeführt und sie - die Klägerin - stehe auf verschiedenen Wartelisten für die Durchführung einer Psychotherapie bei einem zugelassenen Psychotherapeuten, kann als wahr unterstellt werden. Darauf kommt es nicht an. Im Übrigen kommt der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu als der Einschätzung der behandelnden Ärzte. Bei der Untersuchung von Patienten unter therapeutischen Gesichtspunkten spielt die Frage nach der Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens idR keine Rolle. Dagegen ist es die Aufgabe des gerichtlichen Sachverständigen, die Untersuchung gerade im Hinblick darauf vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beschwerden zu einer Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führen. In diesem Zusammenhang muss der Sachverständige auch die Beschwerdeangaben eines Versicherten danach überprüfen, ob und inwieweit sie sich mit dem klinischen Befund erklären lassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Grund hierfür (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG) nicht vorliegt.

Rechtskraft
Aus
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